Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Zion

Auf dem ältesten Märtyrerboden der Menschheit ist wieder Blut geflossen. Juden, die zurückgekehrt sind ins Land der Erzväter und mühsam aufbauen, was in jahrhundertelanger Türkenherrschaft verschlampt und verschüttet wurde, stehen im Kampf mit Arabern, die sich als die ältern Besitzer fühlen. Straßenkampf und scheußliche Metzeleien in Jerusalem, in Hebron, in Jaffa, in Haifa. Neuentstandene Kulturstätten, auf harter Erde mit verzweifelter Energie errichtet, hat das Feuer gefressen. Noch läßt sich nicht absehen, ob es sich dabei um einen Konflikt zweier Völker handelt, die auf einem Boden wohnen, auf dem sie sich schlecht vertragen und über dessen Verteilung sie sich nicht einig sind, oder ob hier gar die Einleitung zu einer gesamtarabischen Bewegung vor sich geht.

Es ist also eine Frage von internationalem Belang, und deshalb mag Wahres an dem Gerücht sein, daß England im Haag schließlich etwas sanfter wurde, weil an Palästina ja das französische Mandatsgebiet Syrien grenzt. Bei orientalischen Wirren gab es ja schon immer eine oft nicht grade delikate Wühlarbeit außenstehender Interessenten. Die Franzosen, zum Beispiel, wissen, daß der Drusenaufstand nicht weniger von englischen Hilfsquellen gespeist wurde als der nordafrikanische Krieg Abd el Krims.

Erschütternd ist das zahlenmäßige Übergewicht der Mohammedaner in Palästina. 600 000 stehen 150 000 jüdischen Einwanderern gegenüber; daneben gibt es noch etwa 80 000 Christen. Aber die Juden bilden die fleißige, die kulturell wichtige, die vorwärtstreibende Schicht. Die Immigration, merkwürdig gemischt aus armen verprügelten Existenzen der Pogromländer des Ostens und der jungen Intelligenz Westeuropas, die sich aus einer Zivilisation heraussehnt, wo alles fertig ist, gibt eine ebenso kräftige wie elastische Masse her. Der junge Rausch einer Volkwerdung beseelt die Arbeit. Die Entwicklung war bisher ungleichmäßig. Ein Geschlecht von aufopfernden Pionieren hat an vielen Stellen dem unerbittlichen Karstboden ihr Bestes erfolglos gegeben, während in den Küstenstädten zum Teil eine treibhausmäßige Blüte einsetzte; manche unerfreulichen Auswüchse dort hat Arthur Holitscher in seinem Palästinabuch rücksichtslos gebrandmarkt. Von Anbeginn war die Spannung zwischen den Eingewanderten und den eingesessenen Arabern stark. Hier die Pioniere, von sozialistischen oder wenigstens altruistischen Idealen getragen, in ihrem jungen Nationalbewußtsein unbändig und oft wohl auch nicht die Formen der Andern respektierend. Dort die Araber, Grundbesitzer mit Feudalbegriffen; uralte Sippenpolitik, gemengt mit moderner nationalistischer Demagogie. Sie haben nur ein Zipfelchen von Europa erwischt, und zwar nicht das beste. So waren die Dinge schon vor ein paar Jahren schwierig genug. Daß sie sich allerdings so abscheulich entwickelten, liegt an der Handhabung der englischen Mandatspolitik, die wirklich die Kennzeichnung verdient, die der englische Schatzkanzler jüngst an einen viel geringern Gegenstand verschwendete: grotesc and ridiculous.

Dem Buchstaben nach hat das englische Mandat vornehmlich pädagogischen Zweck: es soll das Land »zur Selbstverwaltung und Selbstverantwortung erziehen«. Doch diese Aufgabe hat die englische Administration zuletzt nicht nur vernachlässigt, sondern gröblichst verletzt. Mindestens Sir George Chancellor, der gegenwärtige Landpfleger von Judäa, hat noch weniger zum Ausgleich innerer Gegensätze beigetragen als sein berühmterer Vorgänger, und er hat noch dazu weit weniger Recht als dieser, seine Hände in Unschuld zu waschen. Bei dem Streit um die Klagemauer, zum Beispiel, der nicht nur politische, sondern auch religiöse Kontraste hart zusammenprallen ließ, hat die englische Verwaltung durch schikanöse Polizeiaktionen wahrhaft verhetzend eingegriffen. Die Störung des höchsten jüdischen Feiertages durch die Polizei im vorigen Jahre mußte für die kampflustigen Araber gradezu ein Signal bedeuten, während die jüdische Bevölkerung sich von der Mandatsgewalt verlassen und auf Selbsthilfe angewiesen fühlte. Hier wie so oft hat die englische Politik, obgleich sie die Macht besaß, nichts zur Abrüstung der beiden Gegner unternommen, sie hat von der Feindschaft zwischen Arabern und Juden profitiert wie in Indien von dem Zwiespalt zwischen Hindus und Muselmanen. Es ist das gleiche Rezept, das wir in Oberschlesien schaudernd erlebt haben, wo die englischen Kommandeure sich mit einer falschen Neutralitätsgeste salvierten, während sich Deutsche und Polen zerfleischten und die Franzosen dumm genug waren, durch offene Sympathie für die polnische Sache das Odium der Parteilichkeit auf sich zu nehmen. Ein altes Rezept. Doch hier in Palästina rutschten die Herren etwas aus der fahrigen Indifferenz. Sie wurden aktiv, wurden offen antijüdisch.

Das mag für viele im national-jüdischen Lager eine nützliche Lehre sein, wenn man sich auch den Anlaß weniger grausam wünscht. Die hauptsächlichen Schwierigkeiten liegen in der fragwürdigen Herkunft des Palästinamandats. Jene Deklaration, die Arthur Balfours Namen trägt, mag von ihm und seinen Beratern, zu denen auch Lord Reading gehörte, durchaus ehrlich gemeint gewesen sein, aber durch die Zeitumstände wurde sie alles in allem eine Kriegsmaßnahme, ein propagandistischer Akt, um zu beweisen, daß die wahre Befreiung der Nationen nur von den Alliierten mit Ernst betrieben würde. Die deutsche Politik hat in Irland, in Polen, in der Ukraine, im Baltikum und in Flandern gleichfalls an noch andre Nationalbewegungen anknüpfen wollen: sie scheiterte an der Ungeschicklichkeit der Militärbureaukratie. Die englische Spekulation war viel großartiger, indem sie der Millennarsehnsucht eines in alle Welt verstreuten Volkes plötzlich die Erfüllung in Aussicht stellte. Es war ein wahrhaft erhabenes Geschenk an die Juden des ganzen Erdkreises. Auch wo sie den Waffenrock der Mittelmächte trugen, mußten sie aufhorchen, im Innersten bewegt sein bei dem Klang des einen Wortes: Zion! Von diesem Augenblick an wird es in der Judenschaft nicht mehr ruhig werden. Jetzt werden die stürmischen Auseinandersetzungen beginnen zwischen der jungen, von der Zionidee ergriffenen Generation, den Ältern, die sich dem Land verkettet fühlen, in dem sie leben, und jenen Dritten, die an eine weltbürgerliche Mission des Judentums glauben und in dem Zionismus nicht mehr sehen als einen neuen Nationalismus, und in den nächsten Jahren wird keine jüdische Familie Westeuropas mehr von dieser schmerzhaften Spaltung frei sein. Weizmann und seine Freunde nahmen den einmaligen historischen Augenblick wahr, sie fragten nicht, welche Mächte ihn herbeigeführt. Diese Entscheidung war ein ungeheures Wagnis und doch so gut zu verstehn. Welch ein schwindelerregender Gedanke, daß Wirklichkeit werden sollte, was eben noch Utopie gewesen war: unter Georg V. kehrt Israel in die Heimat zurück, aus der es unter Titus verstoßen! Damit war aber auch eine reine Ideologie in das System des ränkevollen britischen Kolonialimperialismus eingespannt. Denn darin war Palästina nicht mehr als ein Stein auf dem Brett, eine Etappe auf dem Wege nach Bagdad, nach Indien.

Doch zur größern Sicherheit hatte die londoner Kriegspolitik auch nach Arabien eine Verheißung gesandt. Der Gedanke, den Arabern für den Abfall von der Türkei das Kalifat zu versprechen, stammt von Winston Churchill, der in seinem Leben überhaupt viel versprochen hat. Von Kairo gingen englische Generalstabsoffiziere nach dem Hedschas und dem Yemen, um die dortigen Stammesfürsten, deren Abhängigkeit von Konstantinopel übrigens schon lange nur eine rein nominelle gewesen war, für die britischen Pläne zu gewinnen. Churchill wollte das unselige Gallipoliabenteuer zu Ende führen; England brauchte einen Stoß in den Rücken der Türkei. Der Erfolg jedoch stellte sich erst ein mit dem Erscheinen des blutjungen Orientalisten Lawrence, des genialsten Komplotteurs unsrer Zeit. Lawrence gelang das Wunder, in zwei Jahren ein Beduinenheer zu sammeln. Mit Feissal, dem Sohn des Emirs Hussein vom Hedschas, erschien er im Herbst 1918 an der Spitze einer arabischen Nationalarmee vor Damaskus, das die Hauptstadt des verheißenen geeinten Königreichs Arabien werden sollte. Lange Zeit hat Lawrence in vorderasiatischen Fragen auf die britische Kabinettspolitik entscheidend eingewirkt. Dennoch sind seine der Entwicklung voranfliegenden Projekte schließlich zerbrochen. Denn Lawrence, der eine einzigartige Begabung besitzt, sich in die Seele der primitiven Wüstenmenschen einzufühlen – ein Talent, das er eben noch aufs Neue in der Aufwiegelung der afghanischen Bergstämme gegen Aman Ullah ebenso virtuos wie moralisch bedenklich bestätigt hat –, ist trotzalledem kein Führer mit realen Zielen, sondern ein aufwühlender Bewegungsmann, der sich im Abenteuer des Moments restlos verliert. Es ist wohl heute kein Zweifel mehr, daß er in Feissal nicht den richtigen Mann gewählt hatte, und es ist auch bezeichnend für seine falsche Einschätzung von Machtfaktoren und ihren Möglichkeiten, daß er in seinem hinreißenden Buche »Aufstand in der Wüste« den heutigen tatsächlichen Herrscher von Arabien, den Wahhabitensultan Ibn Saud nur ein einziges Mal als flüchtige Episode erwähnt. Der Intrigant von Beruf suchte den noblen, aber nicht sehr bedeutenden Feissal als große historische Gestalt zu inszenieren, für den ihm kongenialen Ibn Saud und für die dunklen irregulären Kräfte des fanatischen Wahhabitentums fehlte ihm jedes Organ. So zerflossen ihm die weiten Pläne von 1918 unter den Händen. Emir Feissal mußte aus Damaskus weichen, um Schattenkönig im Irak zu werden, dem sich in Transjordanien ein neuer, nicht sehr lebenstüchtiger Araberstaat zugesellte. Syrien wurde französisches Mandatsgebiet. Ungeschicklichkeiten der Verwaltung entfachten den Aufstand der Krieger vom Djebel Drus, der die französische Politik im Orient schwächte und kompromittierte. Ibn Saud verjagte den alten Hussein und nahm Besitz von den heiligen Stätten des Islam. Seine Banden plänkeln ständig an den Grenzen vom Irak und von Transjordanien, ohne sich von den Fliegerangriffen der Engländer groß stören zu lassen. Flüchtlinge aus diesen Gebieten dringen in Scharen in Palästina ein. Mit ihnen kommen vage Herrschaftsansprüche, großarabische Ehrgeize und Gehässigkeiten gegen die jüdischen Kolonisatoren. Die englische Mandatsverwaltung aber sah der Entwicklung zum Bürgerkrieg in diesen letzten Jahren mit gekreuzten Armen zu, und selbst der Ausbruch der Gewalttätigkeiten fand sie lässig.

Die Labourregierung hat sich allerdings beim Eintreffen der ersten Unglücksdepeschen schnell für entschlossene Abwehrmaßnahmen entschieden. Durch die Hinzuziehung Lord Readings zum Kabinettsrat hat sie gezeigt, daß sie auf das Urteil eines wirklichen Staatsmannes mehr Wert legt als auf das der bisherigen militaristischen Orientexperten vom Schlage des endlich abgesägten Lord Lloyd, der einer der ärgsten Unruhestifter in der vorderasiatischen Welt gewesen war. Aber man darf sich nicht täuschen: diese Maßnahmen sind nicht alles. Die Beruhigung Palästinas ist mehr als eine lokal zu regelnde Angelegenheit, sondern führt zur Aufrollung der gesamtarabischen Fragen. Denn die britische Kriegspolitik hat nicht nur Zion geschaffen, sie hat auch die Araber von Syrien bis zum Yemen in Unruhe gebracht und zwischen ahnungslose Nomaden, deren Sippe ihre Welt war, die nationale Idee geworfen. Bei England liegt die Verantwortung für die Wiedergutmachung und für die Verhinderung neuer Tragödien. Was in Palästina selbst zu geschehen hat, ist ziemlich klar: gründliche Überprüfung der bisherigen Prinzipien und Methoden in der Verwaltung, aber auch radikale Erneuerung des Beamtenkörpers, hauptsächlich bei der Polizei. Die augenblicklich angewandten Mittel sind nur durch den akuten Notzustand bedingt und entschuldbar und müssen mit dessen Ende schleunigst verschwinden. Denn sie zeigen nur in gradezu klassischer Form die Gefährlichkeit und Unzulänglichkeit des Ausnahmezustandes: Zeitungsverbote und unterdrückte Meinungsfreiheit, Patrouillen auf den Straßen, gelegentlich ein paar Schüsse, gelegentlich ein paar Tote und eine in die Katakomben geflüchtete Rebellion.

Die Weltbühne, 3. September 1929


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