Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Cunos Schatten

Endlich ist in Paris zahmere Stimmung eingekehrt. Wenn auch an dieser Konferenz wohl nicht mehr viel zu retten ist, so will man sich doch andre Möglichkeiten nicht verbauen. Es ist dringend zu wünschen, daß in diese neue Bereitwilligkeit auch die deutsche Delegation und, mehr noch, die deutsche Öffentlichkeit hineingezogen wird.

Die durch Schachts Solospiel bei uns entstandene Erregung ist schwer zu dämpfen. Man richtet sich wieder auf Obstruktion ein. Doch auch die Kehrseite fehlt nicht. Der entschieden nationale Industrielle aus der Provinz, der ohne weiteres bereit wäre, ein paar neue Techows oder Tillessens zu finanzieren, um die Schmach des Vaterlandes mit Blut abzuwaschen, rutscht wieder sachte aus der Mark und scheffelt Devisen, der Parole folgend, die Herr Bang, König Hugenbergs lustiger Rat, schon vor Monaten ausgegeben hat. All dies – flammende Entrüstung in profitablem Verein mit Todsünden gegen die deutsche Gesamtwirtschaft – das haben wir schon ein Mal erlebt, anno Dreiundzwanzig, als der begabte Cuno, mit den Telegraphenstangen als Köder, die Franzosen an die Ruhr lockte, um jetzt endlich mal mit den Reparationsschweinereien Schluß zu machen. Cunos Schatten regt sich wieder. Zwar weiß jeder, daß es um die Wirtschaft trostlos steht und bald noch ärger werden kann. Daß alle Abwehrmaßnahmen, die Deutschland treffen könnte, es automatisch aus der Zirkulation des internationalen Geschäftes schalten müßten. Aber wir wollen uns doch von der Bande in Paris nichts sagen lassen! Und, um den Vergleich mit Dreiundzwanzig zu Tode zu hetzen, wie damals auf England, richtet sich alle Hoffnung heute auf Amerika. Die gleichen Kaffeesatzpropheten, die damals schon den Termin wußten, an dem das englische Kabinett die Franzosen aus Essen weisen würde, munkeln heute, daß Herr Owen Young mit Schacht im Einverständnis gewesen sei.

Wieder wird mit Deutschland ein lebensgefährliches Spiel getrieben, und die Nation weiß nichts davon. Das ist um so leichter, weil die Reparationsfragen sehr schwierig und ihre Konsequenzen leicht zu vernebeln sind. Das Wort »Reparationen«, das seit zehn Jahren zehn Mal täglich in jeder Zeitung steht, ist immer fremd geblieben. Hätte es statt dessen von vornherein geheißen: »Kriegskosten« oder »Kriegsentschädigung«, das wäre viel plausibler gewesen. Denn den verlorenen Krieg zu bezahlen, das ist von jeher die Pflichtbürde des Verlierers gewesen. Das Unglück will, daß grade in den besitzenden Schachten, wo es auch sonst mit der politischen Bildung am meisten hapert, der Aberglaube vorherrscht, man würde doch mal um die Reparationen herumkommen. Deshalb wurde dort Hjalmar Schacht wie ein Drachentöter bejubelt, weil er die langatmige finanzielle Debatte plötzlich mit forschem Griff abwürgte und den Herren Sachverständigen eröffnete, daß er des trockenen Tones jetzt müde sei und unbedingt politisch werden müsse.

Warum sind die deutschen Blätter in ihrer Mehrzahl so töricht, zu bestreiten, daß Schacht die Politik in die Verhandlungen getragen hat? Die einfachste Logik spricht gegen ihre Darstellung. Nachdem Herr Schacht vorher mit zäher Energie sein Angebot – die 37 Annuitäten von 1650 Millionen – als letztes Wort verteidigt hatte und durch kein Argument davon abzubringen war, erklärte er ganz unvermittelt, mehr bieten zu wollen, wenn man Deutschland eine »überseeische Rohstoffbasis« oder Konzessionen im Osten zubilligen würde. Das aber sind Fragen, die zu diskutieren die Sachverständigen nicht befugt waren. Darüber haben nur die Regierungen, die Parlamente und letzten Endes auch der Völkerbund zu reden. Kommt noch hinzu, daß man in Deutschland selbst die »überseeische Rohstoffbasis« als Hobby des Herrn Schacht auffaßt, und daß der Reichstag in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung kaum für irgend eine noch so geschickt kaschierte Kolonialpolitik zu haben wäre. Gesetzt, Herr Schacht hätte in Paris damit Anklang gefunden, so wäre er in Deutschland höchstwahrscheinlich hart desavouiert worden. Weil die Sachverständigen aber so unhöflich waren, die Grenzen ihres Mandats nicht zu vergessen, deshalb mußten sie auch jeden Versuch, die Debatte zu politisieren, als Sprengung oder Verschleppung empfinden. Schacht aber hat sich in eine recht unbequeme Lage manövriert, indem er auf sein letztes Wort ein allerletztes folgen ließ und das an Forderungen band, deren Erfüllung Deutschland eine anständige Stange Geld kosten und seine Fähigkeit zu Reparationsleistungen wahrscheinlich für einige Zeit herabmindern würde. Denn alle kolonialen Unternehmungen fressen viel Kapital, ehe sie florieren. Es ist erstaunlich, daß man bei uns nicht begreifen kann, wie sehr Schacht sich selbst und die Regierung, die ihn bevollmächtigte, kompromittiert hat und warum jetzt ein Hagelschauer von Kritik auf ihn niederprasselt.

In pariser nationalistischen Blättern werden diese Vorwürfe auch auf das gesamte deutsche Volk ausgedehnt, was nicht nur eine grobe Übertreibung, sondern auch herzlich unpsychologisch ist. Wenn der Dawesplan zustande gekommen ist und überhaupt Reparationen gezahlt worden sind, so ist das wirklich nicht auf das Konto der Notablen von Politik und Wirtschaft zu setzen, sondern auf das der breiten Volksmassen, der Millionen von Arbeitern und Angestellten, die zu den republikanischen Parteien zählen. Noch in der Ära Wirth-Rathenau war die Erfüllungspolitik eine höchst odiose Sache, zu der sich die bessern Leute nicht gern am hellen Tage bekannten. Selbst in Linksblättern, die sonst nicht völlig unverständig waren, klang bei der Behandlung dieser Dinge immer so ein Unterton mit, als ob die Reparationen ein privater Irrsinn des Herrn Poincaré wären. Erst in den breiten Volksmassen hat die Erfüllungspolitik ihre Stütze gefunden. Hier, wo man am eignen Leibe erfahren hatte, daß wir wirklich die Verlierer dieses Krieges sind – hier hat man auch zuerst empfunden und offen erklärt, daß es nur ein Gebot schlichten Anstands wäre, das Zerstörte zu bezahlen, wie es von jeher der Brauch war. Diese Jahre der Reparationskämpfe waren voll Unruhe und Friedlosigkeit, alle Wege schienen nach einem zweiten europäischen Golgatha zu führen. Und wenn wir seit 1924 von einer zunehmenden Stabilisierung sprechen dürfen, so liegt das hauptsächlich an der Realisierung unsrer Reparationspflichten, ein Entschluß, der uns schreckliche Zeiten hätte ersparen können, wenn er schon 1920 gefaßt worden wäre. Das war der erste Akt der europäischen Reinigung. Der zweite wäre der Entschluß Amerikas, die interalliierten Schulden herabzulassen.

Über einen Punkt indessen können wir ganz ruhig sein: ob schließlich die Reparationsverhandlungen mit einem neuen Akkord schließen oder ob nach einem Riesenkrach Deutschland, aus der Gemeinde der Heiligen ausgeschlossen, sich mit einem fröhlichen Dumping einstweilen den Schakalen des Weltmarktes zugesellen wird – die Kosten wird auf keinen Fall der Kapitalismus tragen. Wenn die Roten wieder, verlockt von dem Irrwisch Europa, der nationalen Front in den Rücken fallen, dann werden eben sie durch lange Hungerjahre dafür bestraft werden müssen. Tu l'as voulu, Georges Dandin! Wenn aber dank der Anmaßung und Ungeschicklichkeit des Herrn Schacht ein Ergebnis ausbleibt, so wird das arbeitende Volk freundlichst eingeladen werden, seine Bedränger zu verfluchen und neue Opfer zu bringen.

Schon heute richten sich viele scharfe Augen auf gewisse luxuriöse Wucherungen unsrer Sozialpolitik. Herr Hugenberg hat sein großartiges Sparprogramm verkündet, Herr Schacht steht diesen Gedanken nicht sehr fern, und obgleich den meisten bürgerlichen Parteien davor graut, so werden sie sich über kurz oder lang damit befassen müssen. Irgendwo muß das Geld doch herkommen. Da Herr Hilferding keine Neigung zeigt, etwa an die Erbschaftssteuer zu gehen, so werden wohl zunächst die Erwerbslosen daran glauben müssen.

Noch aber ist es nicht so weit. Noch ist weder eine Unterwerfung noch ein brüsker Abbruch erfolgt. Diese Zwischenzeit voll von unheimlichen Ahnungen muß ausgefüllt werden. Dafür ist das neue Ruhrkampfspiel da, das neue Cunospiel, die Drohung mit der Resistenz. Auch das kann genug Unheil anrichten. Schon ist wieder um Deutschland herum jene böse Unsicherheit, die bald ihre Wirkung haben kann. Die Transferklausel schützt zwar unsre Währung, aber nichts schützt uns vor dem Mißtrauen der Andern, nichts vor ihren Bedenken, mit Deutschland Geschäfte zu machen. Es ist zu beklagen, daß ein Politiker von den hohen Qualitäten des preußischen Ministerpräsidenten sich dazu hergegeben hat, den Neinsagern das Stichwort zu geben. Er hätte das ruhig den Kollegen in München und Dresden überlassen sollen. Um eine Katastrophe abzuwenden, gilt es, äußerste Bereitwilligkeit zu zeigen, mit den Andern bald ins Einvernehmen zu kommen und alles zu tun, dies Stadium gefährlicher Unentschiedenheit so viel wie möglich abzukürzen. Das Dümmste aber wäre die Aufzäumung des Nationalismus, nur um zu zeigen, daß wir nicht wehrlos sind. Wer sich diesem Renner anvertraut, kann nicht mehr absteigen.

Die Weltbühne, 30. April 1929


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