Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Der Kampf um den Youngplan

Die pariser Sachverständigenkonferenz hat in die europäische Politik wieder erhöhten Betrieb gebracht. Wenn es ums Geld geht, hört die Gemütlichkeit auf, und die Reparationen schaffen innenpolitisch eine viel ungemütlichere Stimmung als sie jemals in den Kriegsjahren vorhanden war. Man vergleiche nur die Sprache der deutschen Protestler gegen die Schmach des Tributplans, die der französischen Exaltados gegen das Schuldenabkommen mit Amerika mit den Verwahrungen, die zwischen 1914-18 gegen den Krieg ausgesprochen wurden. Wie weich, wie opportunistisch wirkt da Spartacus gegen die Resistenten von heute! Über die Millionen in Massengräbern wird die stolze patriotische Lüge gebreitet, aber ein paar Millionen Goldmark mehr an den Gläubiger, das entflammt die Köpfe und verwandelt kurzatmige Schoßmöpse in reißende Tiger.

Die Mittel, mit denen die hauptsächlich betroffenen Regierungen, die in Paris und Berlin die unangenehmen Tatsachen zu vernebeln suchen, um selbst aus der gegenwärtigen durchaus unheroischen Situation einen Sieg herauszuklopfen, sind denkbar verschieden. Einig sind sich die beiden nur in der übertriebenen Herauskehrung der Räumungsfrage. Hier wird aus den rettungslos nüchternen Ziffern des Youngplans klirrende Außenpolitik, mit Eichenlaub und Schwertern bei uns, mit schmetternden Clairons drüben. Dieser Kampf zwischen Wilhelm-Straße und Quai d'Orsay ist weder neu noch unterhaltsam, auch die Argumentation der den beiden Ämtern attachierten Presse mutet reichlich verbraucht an. Dabei ist Aristide Briand wieder viel raffinierter vorgegangen als die deutschen Herren, indem er ganz unvermutet den großen Trumpf der Vereinigten Staaten von Europa ausgespielt hat. Während die deutschen Koryphäen wieder protestieren und protestieren und das Recht vom Himmel holen, das unveräußerlich dort oben wohnet, Wirth und Kaas sich Briefe schreiben, deren Inhaltlosigkeit erschreckt und selbst von Breitscheids schön geschwungenen Diplomatenlippen das harte Nein nicht weichen will, tritt der Franzose ganz unvermutet wieder als der Mann mit den großen Aspekten, mit den erdteilumspannenden Plänen auf. Dieser eine Zug hat die deutsche Politik, wie so oft, geschlagen. Denn sie scheint wieder engherzig und nationalistisch, während der milde Greis aus der »Politischen Novelle« mit seinen zigarettenbraunen Fingern jenen Lehmkloß formt, dem er so gern noch den Odem seines alten Lebens geben möchte: Europa, Europa! Was bedeutet daneben eine Kontrollinstanz im Rheinland? Deutschland hat wieder zu früh deklamiert, zu eifrig seine Protestationen in die Welt geblasen. Saul hat Tausend geschlagen, David zehntausend.

Die Hoffnung auf eine zunehmende unfreundliche Stimmung zwischen London und Paris ist nur ein schwacher Ersatz für die verlorne Chance. Will man hier wieder der alten Suggestion unterliegen? In der Tat bedeutet der Streit zwischen englischer und französischer Politik schon lange nicht mehr als der Konflikt zweier Fraktionen eines noch nicht verbrieften und dennoch schon tätigen europäischen Parlaments – eines Parlaments, dem auch Deutschland, ohne es zu wollen, angehört und in dem es mit seinem ewigen Beleidigtsein und seiner Unzuverlässigkeit in allen wichtigen Entscheidungen ein wenig die Rolle unsrer Wirtschaftspartei spielt. Auf die Zänkereien der Andern kann man sich nicht dauernd verlassen. Seit zehn Jahren hat sich die Weisheit deutscher Politiker mit Vorliebe im Schatten angeblicher englisch-französischer Konflikte niedergelassen, und immer sind wir zerbleut herausgekommen.

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Der Kampf gegen den Youngplan weckt die traurigsten Erinnerungen an 1923. Nicht einmal zur geselligen Unterhaltung dividendenschwerer Industrieklubs sollte man diese schrecklichen Geister zitieren. Lächerlicher Hokuspokus. Keine Parallele ist möglich. Damals lag Deutschland tief unten, seine Wirtschaft war durch den Krieg, mehr noch durch den schändlichen Raubzug seiner eignen Industriemagnaten verwüstet. Gewiß ist heute vieles Fassade, aber Deutschland steht wieder gekräftigt, es ist wirtschaftlich und politisch ein Machtfaktor, den niemand übersieht oder zu übersehen wagt. Das Gegreine grade derjenigen, die die Nutznießer der Konsolidierung sind, verdient mit Gelächter quittiert zu werden. Warum erregt sich denn wieder der unsympathischste Schwerkapitalismus am meisten? Warum echauffieren sich die Herren Schacht und Vögler, warum nicht die Arbeiter, die Angestellten, die Lohnempfänger, die doch die größten Pfunde in die Opferbüchse der Reparationen zu legen haben? Weil sie friedensgewillt sind, weil sie wissen, daß ein verlorener Krieg bezahlt werden muß, eine Einsicht, die in der hohen Region des Herrn Schacht noch nicht aufgegangen ist.

Innenpolitisch ist die Verquickung von Reparationen und Räumung ein wirkliches Unglück. Denn die patriotische Blechmusik lenkt von der Hauptsache ab: nämlich von der Verteilung der durch den Youngplan entstehenden Lasten. Grade die Rheinlandfrage ließe sich durch eine kluge und überlegene Außenpolitik ohne viel Geräusche lösen. Indem aber mit großem Kraftaufwand eine Prestigesache daraus gemacht wird, tritt die viel wichtigere Erwägung in den Hintergrund: wer die Lasten tragen und wie die Mittel herbeigeschafft werden sollen. Das ist bei der lauten und überhitzten Debatte ganz verloren gegangen. Jetzt wäre für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften der Augenblick da, diese wichtigste aller Fragen aufzuwerfen. Daß die Schwerindustrie trotz aller großmäuligen Reden mit der Annahme des Youngplans rechnet und bereits ihre Dispositionen für die Zukunft getroffen hat, ist ziemlich gewiß. Die Herrschaften überlassen der Arbeiterschaft alle Unannehmlichkeiten der Erfüllungspolitik und behalten sich die stolzere Geste des Neinsagens vor. Diese großartige Haltung sollte ihnen endlich verleidet werden. Sie sollten endlich zu ihrem Teil an den vielgeschmähten Tributen gezwungen werden, die schließlich keine Willkür sind, sondern Stück eines auf dem ganzen Volke wuchtenden Schicksals. Dazu gehörte natürlich eine entschlossene und volksfreundliche Finanz- und Wirtschaftspolitik, woran leider nicht im Traum zu denken ist, so lange sich die führenden Genossen der gleichen nationalen Phrasen bedienen wie die Herren vom Langnamverein. Für die Industrie war die Niederlage ein ebenso üppiges Geschäft wie der Krieg. Zum Ersatz für die entgangenen Kriegsgewinne wurde die Inflation gemacht, nach dem Dawesplan kam die Rationalisierung, die künstliche Fabrikation der Arbeitslosigkeit. Die nächste Etappe der Erfüllungspolitik wird mit der Demolierung der Sozialpolitik geahndet werden.

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Ob der Youngplan angenommen werden kann oder nicht, das darf nur abhängen von seiner Tragbarkeit durch die arbeitenden Schichten. Darauf hat sich die Untersuchung erst einmal zu richten. In der heutigen Debatte überwiegen nicht ökonomische Gesichtspunkte, sondern nationalistische Redensarten, die die Tatsachen vernebeln. Weil Herr Schacht seine geliebten Kolonien nicht herausdrücken konnte, deshalb ist der Youngplan noch nicht untauglich. Daß aber die Herren von der Industrie sich in fast noch wildern Protesten ergehen als damals anno Dawes, das zeugt doch für ihre Furcht vor einer solchen Entwicklung. Noch ist die Erfahrung nicht sehr weit verbreitet, aber doch im Wachsen begriffen, daß die Reparationen keine Sache sind, die wir mit dem Feindbund abzumachen haben, sondern deren Ungerechtigkeiten im eignen Lande liegen und hier abzustellen sind. Daß der Youngplan keine ideale Lösung ist, wird nicht nur bei uns empfunden. Aber ein deutsches Neinsagen würde ebensowenig eine Lösung bedeuten.

Es gibt überhaupt nur einen Ausweg: die Einigung aller europäischen Schuldnerstaaten gegen Amerika. Das aber wäre sehr wenig nach dem Geschmack unsrer Nationalisten, die grade auf das gemeinsame Geschäft mit Amerika rechnen, und von Amerikas Druck auf seine Schuldner Erleichterung erhoffen. Sie würden gar zu gern mit amerikanischer Erlaubnis Frankreich um die Reparationen prellen und sind zu diesem Zweck zu allen nur denkbaren Liebesdiensten bereit. Heiter und etwas verständnislos nehmen die Amerikaner alle Gefälligkeiten entgegen. Sie verstehen überhaupt Europa nicht recht. Sie werden nicht recht daraus klug, warum die Franzosen so obstinat sind, wo es sich darum handelt, geliehene Gelder zurückzuzahlen. Und sie haben erst recht kein Verständnis übrig für Stiefelputzer, die sich dabei wie Freiheitshelden vorkommen. So lange Deutschland nicht begreift, daß es eine europäische Schuldenfrage gibt, so lange wird auch seine eigne Reparationspolitik unfruchtbar bleiben und von einer Niederlage in die andre führen. Stresemann wird gewiß klug genug sein, um das zu wissen. Aber die patriotische Borniertheit der Parteien, die immer ein neues nationales Schlachtroß aufzäumen müssen, verwehrt ihm die notwendige Bewegungsfreiheit.

So ist der eigentliche Sieger wieder Aristide Briand, der alte Theatraliker, der leider in einer kleinen Fingerspitze mehr Realsinn hat als unsre großen Realpolitiker in allen Fühl- und Denkorganen. Sein europäisches Projekt markiert die wirklichen Fronten: Europa und U.S.A. In diesem Zusammenhang gesehen hört auch die deutsche Reparationsfrage auf, eine Partikularität zu sein, fließt sie mit den Nöten Frankreichs, mit denen All-Europas zusammen. Grund genug für die Träger unsrer beiden Nationalfahnen, um auszuspringen und ihren desperaten Kampf gegen den Youngplan zu führen, der eine kostspielige und gefährliche Überflüssigkeit ist, wenn man nicht mit einer bessern Idee aufwarten kann.

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Wahrscheinlich wird es auch diesmal so kommen, wie es immer seit Versailles war: man wird nach schrecklich viel Krach endlich annehmen (vielleicht sogar wieder mit gütiger Assistenz der nationalen Opposition). Es drohten in diesen zehn Jahren jedesmal vor wichtigen Entscheidungen viele Hände zu verdorren, die heute noch im Reichstagsrestaurant munter ihr Kotelett zerteilen. Denn es ist die besondere Kunst der deutschen Politik, sich durch Resistenz gegen Selbstverständlichkeiten ganz unnötige Niederlagen zu holen. Das Geschrei gegen den Youngplan bereitet die nächste kapitale Niederlage schon vor. Nachher wird es wieder heißen, daß man uns etwas aufgezwungen hat, was unerfüllbar ist und deshalb ohne moralisches Manko wegdisputiert werden kann. Wir werden wieder verraten, wieder erdolcht, wieder Opfer eines Diktates werden. So bleibt das Mißtrauen, daß wir jeden unterschriebenen Vertrag als chiffon de papier betrachten, als einen Teufelspakt, den schließlich liebenswürdigerweise der Himmel löst, wenn die Unterwelt die Rechnung einziehen will, und damit geht auch der politische Nutzen der Unterschrift leider dahin. Man sollte nicht über die Franzosen spotten, weil Herr Franklin-Bouillon, ein geistig nicht sehr begabter, aber ungewöhnlich mundfertiger Politiker, neulich die Kammer in einen etwas absurden Paroxysmus versetzte und zu einem dramatischen Schritt in Washington verführte, der eine recht klägliche Abweisung zur Folge hatte. Es war eine Nachtsitzung, und am nächsten Morgen war der Taumel verflogen. Bei uns dauert die Nachtsitzung schon zehn Jahre, und jedesmal, wenn der Morgen durchs Fenster lugt, zieht man die Vorhänge dichter.

Die Weltbühne, 23. Juli 1929


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