Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Der Revisor

Meyerholds berliner Debut hat bei unsrer Kritik keine sehr freundliche Aufnahme gefunden. Man kann sie fast auf die nette Formel des Ministers Hustädt im Falle Jakubowski bringen: »So viel Lärm um einen Russen!« Meyerholds Revisor-Inszenierung von 1924 wurde hier als antiquiert, als vorgestrig und reaktionär empfunden. Der Groß-Kophta der Zunft, der sonst bei jedem pariser Schmarren bis zum Ende ausharrt, um dessen Kunstbestand gewissenhaft in römischer Bezifferung zu analysieren, ging schon, heftig ägriert, vor Schluß fort, so daß also sein Platz noch leerer war als vorher; Römisch Null. Die berliner Novitätssucht, die den Gedanken nicht ertragen kann, etwas anerkennen zu müssen, was schon älter ist als eine Saison, empfing Wsewolod Meyerhold ziemlich kühl, wie einen Epigonen seiner uns bekannten Kopisten.

Es gibt trotzdem einige Überraschungen. Die Russen demonstrieren weder Ekstase noch kaltschnäuzige Sachlichkeit; ewige Komödientypen tanzen, huschen, kullern über die Szene. Viel genrehafte Gruppen sind da, Biedermeierfiguren, die ihre kleinen humoristischen Einlagen in gemütlicher Breite auswalzen. Überhaupt: mehr Behaglichkeit als Pointe. Die Abstammung von Stanislawski ist unverkennbar; tänzerische Schritte, freundliches Verweilen bei der Bagatelle, reichliche Verwendung von Musik, alles das kommt Reinhardt näher als etwa Piscator. Grazie gilt nicht als Ketzerei, Spaß nicht als Majestätsbeleidigung. Wenn die Frau Präfekt, im gelben Krinolinenkleid vor dem Spiegel kokettierend, plötzlich lauter kniende Leutnants aus der Erde wachsen sieht, so ist das eine geniale Materialisation verborgenster Träume. Oder wenn bei Einbruch der Katastrophe, alle dichtgedrängt auf einem kleinen Podium hocken, zwanzig, dreißig Menschen, ein schreckliches Ragout von Gliedmaßen, so entsteht die denkbar vollkommenste Illusion der kleinen Stadt, wo der Einzelne im Klatsch erstickt, wo der Skandal sofort tödlich wirkt. Alles wird mit letzter Präzision dargestellt. Es ist keine Kollektivarbeit im Sinne stupider Gleichmacherei, es gibt große und kleine Rollen aber nur eine Disziplin.

Das Anfechtbarste ist die Bearbeitung. Man hört nicht mehr den bösen satirischen Peitschenschlag des Originals. Die Komödie wird zur durchschnittlichen Harlekinade, wird ein xbeliebiges Mantel- und Degenstück, eine Liebesaffäre zwischen dem fremden Abenteurer und der Stadtzarin. Der Präfekt selbst, bei Gogol der Vertreter einer korrupten und verrohten Autorität, bleibt hier nur ein kleiner putziger Gauner zwischen andern; mit seinem grünen Uniformrock und den rostfarbenen Bartkoteletten eher ein Spitzwegscher Milizkapitän als der Statthalter einer Gewalt, die die Dekabristen an den Galgen schickte. Daß der Präfekt am Ende den Verstand verliert und in die Zwangsjacke gesteckt wird, hat nichts mit Gogol zu tun sondern kommt aus der Grand-Guignol-Dramatik Leonid Andrejews. Alle diese Einwände sind natürlich recht leicht, aber ob sie tiefere Gültigkeit beanspruchen können, das läßt der Rezensent dahingestellt. Ein Schlußurteil läßt sich kaum fällen ohne Kenntnis des Bodens, dem diese Kunst entwachsen ist. Man muß wohl das heutige Rußland gesehen haben, um zu fühlen, warum Meyerhold die Komödienwelt Gogols so und nicht anders behandelt. Ein blutgeröteter Himmel, Bürgerkrieg, Partisanenkämpfe, kein Brot, keine Heizung, Zwangseinquartierung im einzigen Zimmer. So war die Zeit, in der die neue russische Theaterkunst sich entwickelte. Der alte Stanislawski hielt nicht nur durch sondern fand auch eine zweite Jugend, seine Schüler wurden flügge und schufen ein moskauer Theater, dessen Anregungen durch die ganze Welt gegangen sind. Wir grüßen Meyerhold und seine Künstler als die tapfern Kämpfer aus einem alten Stande, der immer einer Gottheit verschworen war, die sich zu ihrer irdischen Offenbarung für ihre Diener vornehmlich den Hunger ausgesucht hat.

Die Weltbühne, 8. April 1930


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