Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Vor der Frühjahrsoffensive

Es erinnert in Deutschland jetzt einiges an die Stimmung vor elf, zwölf Jahren. Noch lagerten die Heere eingegraben; schwache Gefechtstätigkeit. Aber hinter der Front wurde unermüdlich Munition und Kampfmaterial herangeschleppt, über den Karten brütete der große Stab, die lascheste Partie des Gegners zu erkunden. Bis dann im Grauen eines Märzmorgens das lang Erwartete begann: die Frühjahrsoffensive, die den Sieg, den Sieg über alle bringen sollte.

Die Rechtsparteien, die am treuesten die militärische Tradition des Kriegs ins Innenpolitische umgesetzt haben, spannen alle Kräfte ein für einen gewaltigen Frühjahrscoup. Es ist schon heute sehr unruhig. Man spürt die Nervosität. Der Stahlhelm führt eine rüdere Sprache als je. Er riskiert nichts. Ein Gericht hat seinen Duesterberg freigesprochen, der die Entstehung der Republik auf Hochverrat und Meuterei zurückgeführt hat. Im Hintergrund wird das Volksbegehren gegen den Parlamentarismus aufgezäumt. Es wird nicht durchgehen, aber viel Verwirrung anrichten. Das Parlament wird schon alles tun, um seine Feinde mit Material zu füttern.

Aber dies alles ist nicht, weil die Patrioten des Vaterlandes Schmach nicht länger ertragen können, sondern weil es wieder mal ums Zahlen geht, weil wieder um Reparationen verhandelt wird. Das genügt, um die militanten Späße von 1920 bis 1923 wieder aktuell werden zu lassen. Um schließlich die Lasten doch wieder auf die breiten Massen abwälzen zu können, die Frieden und Verständigung wollen, muß ihnen zunächst ein neuer Dolchstoß in den Rücken der nationalen Abwehrfront nachgewiesen werden können, damit Herr Schacht und die ihm verbündeten Industriekönige wenigstens mit Anstand kapitulieren können. Man schafft, wie damals, eine unvernünftige Situation, damit die rettende Vernunft nachher dem Hochverrat gleichgesetzt werden kann.

Vielleicht wäre der Bericht des Reparationsagenten wirklichkeitsnäher und weniger unfreundlich ausgefallen, wenn man ihm nicht die fatalsten Feststellungen gradezu frei ins Haus geliefert hätte. In den paar Stabilisierungsjahren ist ein Kultus der Fassade getrieben worden, der aller Welt als Prosperität vorgespiegelt hat, was tatsächlich nur Aufatmen und knappe Erholung ist. Diese Fassade muß jetzt bezahlt werden, als wäre sie edles Material und nicht Stuck und Pappmaché. Der Reparationsagent hat nicht nur die Bestände taxiert, sondern auch die Aufmachung. Die großmäuligen Reden von der deutschen Kraft, die dennoch die Welt erobern wird, womit jedes neue Westenknopfpatent eingeführt wird, diese Reden müssen jetzt mitbezahlt werden wie früher Kaisers Liebeserklärungen an Ägir. Dabei wurde vergessen, daß die Blüte falsch war und an gepumptem Sonnenlicht entwickelt wurde, und daß die deutsche Kraft einmal einen Krieg verspielt hatte und daß sie durch einen feierlich unterzeichneten Vertrag ersatzpflichtig gemacht worden ist. Staunend wird der Bürger jetzt erfahren, daß wir mal vor grauen Zeiten einen Krieg verloren haben, und er wirds nicht glauben.

Inzwischen aber ist die Propaganda wieder vorbereitungslos umgeschlagen. Es wird wieder grau auf grau gesetzt, und wo eben noch eine rundhüftige Germania einladend gezeigt wurde, appelliert heute das arme Deutschland à la Käthe Kollwitz kostümiert an das mitleidige Herz der amerikanischen Weltbankiers. Da man sich jedoch von Sentimentalität nicht alles verspricht, mischt man robustere Elemente ein. Drohungen klingen dumpf. Die Industriepresse schmettert tyrtäisch gegen die Knechtung, nur Hugenberg vertraut noch ein Mal der Wissenschaft und läßt seinen ›Lokalanzeiger‹ durch den alten Professor Gustaf Cassel, das schwedische Zündholz der Nationalökonomie, illuminieren.

Zunächst beschäftigt sich die tapfere Phalanx im Innern. Seit langem hatten wir nicht eine so ungemütliche, eine so drückende Luft. Zu dem großen offenen Affront gesellt sich der kleine Kampf um den Alltag. Auf Katzenpfoten schleicht die Zensur ein; wenn auch noch nicht Gesetz geworden, ist sie doch wieder da und auf unterirdischen Gängen wirksam. Die Sprache ihrer Anhänger ist laut und siegesgewiß geworden. Das berüchtigte »normale Volksempfinden« wirft wieder Stinkbomben in Theaterhäuser. Die Moral des gröbsten Spießbürgertums wird zum öffentlichen Wertmesser. Die Rechte kann hier sehr dreist sein, denn sie darf in allen kulturellen Dingen auf die Sympathie des Zentrums rechnen, das seit der Thronerhebung des Herrn Kaas sich wieder in festen Klerikerhänden befindet. Die Reichsregierung schwankt ohne Entschlossenheit und ohne Autorität von einer Niederlage zur andern. Die Justiz verwundet die Republik, wo sie kann, das Reichsarbeitsgericht desavouiert Herrn Wissell, das offiziöse Telegraphenbureau stellt sich mit ruhiger Selbstverständlichkeit dem ehemaligen Kaiser zur Verfügung. Keiner dieser Fälle ist an sich sehr bedeutsam, bedenklich nur die Häufung. Selbst wenn sich einmal ein Arm reckt, einen Allzufrechen zu disziplinieren, schreckt das keinen ab, sondern regt eher an, die letzte Leistung noch zu überbieten. Die Macht hat nun einmal ihren eignen Geruch, die im entferntesten Dorf zu wittern ist und den letzten Hilfsgendarmen bewegt. Die einzige Eigenschaft, die die Regierung Hermann Müller bisher gezeigt hat, war die Nachgiebigkeit. Neben ihrer Schwächlichkeit wirkt das letzte Marxkabinett wie ein pausbackiges Naturkind.

Die sozialdemokratischen Führer wissen sehr wohl um diese Schwäche, aber ihre Mittel zur Behebung sind falsch. Sie wissen, daß ihre Minister vom ersten Tage an in allen ernsten Fragen kapituliert haben, aber ihre Stärkungsversuche werden nichts nützen, sondern das Übel nur vergrößern. Es ist eine wahrhaft groteske Verkennung der wirklichen Machtunterlagen, jetzt aus der losen Verbindung einiger Parteien die amtlich registrierte Große Koalition machen zu wollen. Sie glauben, damit ihre Partei von Verantwortung zu entlasten und den rechten Flügel, Volkspartei und Zentrum, auf Gedeih und Verderb zu verpflichten. Sie halten das nicht nur für die Etatsberatung notwendig, sondern mehr noch für die Reparationsverhandlungen. Sie ahnen nicht, daß die erlösende Formel für alle Möglichkeiten bereits gefunden ist: der Sozi wird verbrannt, was auch kommen möge. War nicht der Panzerkreuzer schon der Preis auf die Große Koalition? Und trotzdem beginnt jetzt der Handel von neuem. Was wird die Sozialdemokratie noch zahlen müssen? Inzwischen ist sogar die Demopresse skeptisch geworden. Denn das Zentrum fordert zunächst einmal die Entfernung des Herrn Koch aus dem Justizministerium, seine Ersetzung durch Herrn Bell. Es ist sehr merkwürdig, daß die Sozialdemokraten, die doch vom marxistischen Dogmatismus herkommen, heute die einzigen vom Glauben an den Parlamentarismus ganz Durchdrungenen sind: sie glauben an die Abstimmungszahlen wie an mystische Verlautbarungen und vergessen darüber, daß die letzte Entscheidung darin liegt, welche ökonomische Kraft hinter den Parteien außerhalb des Parlamentes liegt. Würde die Stresemannpartei heute auf sechzehn Sitze sinken, sie würde an Bedeutung nicht verlieren, weil sie sich sehr wohl erinnern würde, daß sie auch mit fünfzig Mandaten ihren Einfluß nur dem Zusammenhang mit den Industriekomptoiren verdankte.

Jetzt wird mir aber der geeichte Sozialdemokrat triumphierend entgegenhalten: »Damit hast du als Demokrat also die Demokratie preisgegeben.« Ich denke nicht daran, aber die Demokratie verliert ihren Sinn, wenn die Beauftragten, die Parteiführer und Abgeordneten, ohne Verbindung mit ihrem Auftraggeber, mit dem Volke bleiben und eine Kaste für sich werden. Jeden Demokraten, der auf sich hält, muß eine Gänsehaut überlaufen, wenn er im parteiamtlichen ›Sozialdemokratischen Pressedienst‹ vom 21. Januar tatsächlich folgendes liest: »Die Demokratie innerhalb des Proletariats, echte demokratische Organisationsformen der Arbeiterschaft gibt es eben nur in der sogenannten bürgerlichen Demokratie.« Heiliger Lassalle, bitte für deine Erben! Es war bisher der simpelste Laienbegriff des Sozialismus, bürgerliche Demokratie mit Plutokratie, mit Geldsackherrschaft gleichzusetzen. Es war bisher, selbst in der Sozialdemokratie Scheidemanns und Eberts des Landes der Brauch, die Erfüllung der Demokratie nur in der klassenlosen Gesellschaft zu sehen, die formale Demokratie von Heute nur als Mittel und Weg dahin zu betrachten. Jetzt ist auch das preisgegeben, die bürgerliche Demokratie ist eine mit Unrecht »sogenannte«. Das Endziel ist erreicht, wir haben die freieste Verfassung, die beste aller Republiken. Mein Liebchen, was willst du noch mehr? Deckt die sozialistische Partei diese profunde Erkenntnis ihres parteiamtlichen Artikelschreibers, dann hat sie damit zugestanden, daß es eine Entwicklung über das Heute hinaus überhaupt nicht mehr gibt, eine Anschauung, die bekanntlich von vielen Nichtsozialisten nicht geteilt wird. Jeder Mann von der Rechten, der sich in seinem Studierzimmer ein Bild von einem ständisch gegliederten Staat zu konstruieren versucht, steht höher als diese fette Selbstzufriedenheit, die in einer wirbligen gärenden Zeit den einzigen waschechten Konservativismus verkörpert.

Es ist tragisch, daß der Sozialdemokratie grade jetzt der treibende Sporn fehlt. Sie fühlt sich in konkurrenzloser Sicherheit, wozu sie der Zerfall der Kommunistischen Partei allerdings berechtigt. Vielleicht wird Stalin seine Diktatur über Rußland behaupten, aber die europäischen Sektionen der Dritten Internationale gehen dabei zugrunde. Die deutsche Kommunistenpartei befindet sich hoffnungslos im Zerrinnen. Sie ist heute schon nicht mehr als existent zu betrachten, mag sie sich auch dem Namen nach noch für eine Weile behaupten. Eine eigne Aktivität, die sie zum Mittelpunkt des Geschehens gemacht hätte, hat sie niemals entwickelt. Ihre Aufgabe im geschichtlichen Sinne ist immer nur gewesen, auf die andre, die demokratische Arbeiterpartei zu drücken, sie zu stacheln, weiter zu treiben, nicht einschlafen zu lassen. Von dieser Sorge ist die Sozialdemokratie jetzt frei, sie kann sich die Mütze noch tiefer über die Ohren ziehen. Die störende Konkurrenzfirma zerfließt in zahllosen Rinnsalen.

Der Versuch Brandlers und Thalheimers, eine zweite kommunistische Partei zu gründen, ist tapfer, aber nicht sehr aussichtsreich. Woher soll die neue Partei die Mittel nehmen? Sie ist von zwei Seiten boykottiert. Die reichen Bürgersnobs, die heute noch in der KPD herumwimmeln, werden sich nicht für eine arme proletarische Sekte erwärmen. So werden in absehbarer Zeit die heutigen Kommunisten in versprengten Haufen bei den Sozialdemokraten landen. Sie werden so aufgenommen werden, wie man Verirrte aufnimmt: sie werden herzlich begrüßt und dann in die Gesindestube abgeschoben werden. Sie werden ohne jeden Einfluß bleiben, nicht einmal den berühmten Sauerteig bilden. Schon die Unabhängigen, die doch 1922 noch immer ein ziemlich großes und geschlossenes Gebilde darstellten, sind kurze Zeit nach der Einigung, die mehr eine Folge der durch die Inflation zerrütteten Parteikasse war als ein freier Entschluß, ruhmlos verschwunden. Nur einige ihrer Führer sind ganz rechts aufgetaucht, wo vor allem ihr Breitscheid steht, den die Natur zwar nicht zum Führer, wohl aber zum Flügelmann bestimmt hat.

Dieser Rundgang durch die Linke ist sehr deprimierend. Es stehen große Erregungen, harte Zusammenstöße bevor, die Frühjahrsoffensive gegen die Republik, die sicher kommen wird, findet die Republikaner in dem angenehmen Bewußtsein, daß alles in Ordnung ist. Heute noch kommen von der linken Sozialdemokratie kritische Stimmen. Wird dagegen endgültig die Große Koalition verhängt, so werden auch der lieben Disziplin wegen die letzten losen Zungen gebunden werden. Also Maul halten, denn: »Die Demokratie innerhalb des Proletariats, echte demokratische Organisationsformen der Arbeiterschaft gibt es eben nur in der sogenannten bürgerlichen Demokratie.«

Das ist die letzte sozialistische Verkehrsordnung. Wer weitergeht, wird erschossen!

Die Weltbühne, 29. Januar 1929


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