Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Vor Sonnenaufgang

»Am 14. September bricht die Morgenröte an!« so verkündet vor mir ein Flugblatt des rheinischen Nationalsozialisten Doktor Ley (Hm ... Ley?). Es ist also noch eine gute Stunde, bis es sich entscheidet, ob das Dritte Reich definitiv ausbricht oder die Erste Deutsche Republik sich einstweilen weiterläppert. Noch einmal steigen die Schatten dieses Wahlkampfes auf, der der wichtigste seit vielen Jahren war und doch so dumm, so charakterlos geführt wurde. Letzter technischer Comfort war aufgeboten worden, um albernes Zeug zu verbreiten. Lautsprecher warben für das Mittelalter, ausrangierte Möbelwagen tönten asthmatisch zum Preise vermotteter Programme. Und nun erst die Plakate in ihrer zeichnerischen und textlichen Kümmerlichkeit. Überall der gute deutsche Michel, immer unterdrückt und gefesselt oder etwas mit letzter Kraft schleppend: ein Kreuz, eine Kriegsfahne, eine Kettenlast, lauter Symbolisches; nur eines nicht, was real ist: den Militäretat. Sogar die strohtrockene Wirtschaftspartei bietet ein ganzes Zeughaus auf, und der Christlichsoziale Volksdienst läßt gleich den Tod von Alfred Rethel mit Heckerhut und Hippe auf fahlem Klepper über die Heide reiten; aufflattern ein paar hungrige Raben, die aussehen wie Hilfsprediger vom Rauhen Haus. Danse macabre der Witzlosigkeit. Und dennoch hatte dieser Wahlkampf etwas Gespenstisches. Denn keine Partei arbeitete mit klaren Parolen, alle hielten die wirkliche Position in künstlicher Vernebelung, schlugen sich für Chimären gegen Chimären. Die bürgerlichen Parteien stürmten gegen eine marxistische, revolutionäre Sozialdemokratie, die es nicht gibt. Diese selbst schleuderte gegen den kleinen Goebbels, den es nicht gibt, große Kaliber, nicht gegen die wirkliche Diktaturgefahr, nicht gegen Herrn Brüning. Mit ihm knüpfte sie Konversation an wegen Beteiligung am Geschäft. Die Herren von Seeckt und Treviranus eröffneten Privatkrieg gegen den »äußern Feind«, die jungdeutschen Lohengrine dagegen suchten den »deutschen Menschen« und fanden Oscar Meyer. Erich Koch und Mahraun begaben sich auf jene hohe Warte, wo man nicht mehr von Sozialversicherung und Steuern spricht, und kämpften tapfer gegen das von ihnen diagnostizierte deutsche Grundübel, den »Parteiismus«; sie taten das mit viel Schwatzismus und noch mehr Gehirnschwundismus. Die Kommunisten wieder setzten mit einstimmig gefaßten Beschlüssen anglo-indische Beamte in Schrecken und eroberten feste Plätze am Hoangho: sie machten am Wedding indische und chinesische Revolution, aber nicht deutschen Wahlkampf. Die einzige linke Oppositionspartei, der eigentlich die Ernte hätte zufallen müssen, verzettelte sich und lief, anstatt zu führen, hinter Hitler her, ihrem Kopisten, und der brave Thälmann, der sonst so viel Sozialrevolutionäre Pathetik in der Thermosflasche mitschleppt, servierte einen lächerlichen Aufguß von nationalistischem Fascismus. Herr Heinz Neumann, der kommunistische Treviranus, mag ein recht intelligenter junger Herr sein; seine Erfolge bei chinesischen Banditengeneralen bestätigen nur sein Talent als Emissär, seine Fingerfertigkeit für das Clairobscur bezahlter konspiratorischer Verhältnisse. Bis auf weiteres ist Herr Neumann nur eine Gastfigur aus der diplomatischen Unterwelt. Wenn er im Tageslicht europäischer Arbeiterpolitik mitspielen will, muß ihm geraten werden, sich vorher die Augen zu säubern, und nicht nur die Augen. Wie diese Neigung von Ganzlinks zu Ganzrechts allerdings zustande gekommen ist, erfordert schon ein besonderes Studium. Aber vielleicht handelt es sich hier auch nur um jene unberechenbare Liebe, die zum Unheil aller Beteiligten nun einmal von Zigeunern stammt. Sie fragt nach Rechten nicht, Gesetz und Macht. Liebst du mich nicht, bin ich entflammt. Und wenn ich lieb – nimm dich in Acht! Der Kommunistenpartei sei letzteres dringend zum Nachdenken empfohlen, wobei nicht verhehlt werden soll, daß man diese Mahnung auch weniger musikalisch ausdrücken kann. Jedenfalls: – nimm dich in Acht!

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Die ersten Resultate, die während der Wahlnacht einlaufen, geben schon ein unmißverständliches Bild. Die Sozialisten halten sich, Zentrum und Kommunisten wachsen, und die Hitlerleute werden die zweitstärkste Fraktion sein. Das eröffnet abenteuerliche Aspekte. Die Demokratie verschwindet tief unten. Der Aufstieg in die Stratosphäre beginnt. Es ist zwecklos, wenn links von einem Zusammenbruch Hugenbergs gesprochen wird oder wenn die Blätter des alten Cheruskers über den Zusammenbruch der Mitte triumphieren. Nicht eine bürgerliche Partei nur, der bürgerliche Gedanke überhaupt hat sein Waterloo gefunden. Nur wo er, wie im Zentrum, noch religiös fundiert ist, kann er Massen binden. Alle Versuche, ihn neu zu beseelen, sind gescheitert. Den Demokraten hat die Kopulation mit den Jungdos nichts genützt; im Gegenteil. Die Treviranen sind, wie wir voraussagten, völlig versackt; es fragt sich, ob selbst ihr Primgeiger sein Mandat erobern wird. Das deutsche Bürgertum hat für seine Entrechtung und Erniedrigung, für den Fascismus Adolf Hitlers optiert. Dieses Bürgertum hat sich politisch niemals durch Gaben und Haltung ausgezeichnet, aber wenn es seine Würde vor einem Bismarck vergaß, so war das doch Bismarck. Heute hängt es sich verzweifelt an einen halbverrückten Schlawiner, der Deutschland vor der ganzen Welt blamiert. Saudumm wie dieser Wahlkampf geführt wurde, ist sein Ergebnis. Man wollte die Millionen Nichtwähler herauskitzeln, und scheute zu diesem Zwecke vor keinem Intelligenzopfer zurück. Herr Nichtwähler hat den Appell verstanden und demgemäß votiert. Der fünfte Reichstag der Republik ist das erbärmlichste Parlament, das jemals irgendwo zusammengewählt worden ist. Er ist, alles in allem, das legitime und den Eltern zum Speien ähnliche Kind dieses Wahlkampfes. Möge er während seines hoffentlich nur kurzen schändlichen Daseins den Namen führen: der Reichstag der Nichtwähler.

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Vieles ist noch durch Phrasendunst verschleiert, doch eines ganz klar: außer Sozialdemokratie, Zentrum und Fascismus gibt es keine großen Faktoren mehr. Man weiß zwar, daß Otto Braun bereit ist, mit dem Zentrum zu regieren, aber niemand weiß, was Herr Brüning vorhat. Vielleicht möchte auch er jetzt für kurze Zeit still hinter der Kulisse der Großen Koalition verschwinden, aber dieser begreifliche Wunsch sollte nicht die Tatsache unterdrücken, daß der Hindenburgblock geschlagen, die Fregatte Brüning-Treviranus gekentert ist. Wenn nicht weiter wider die Verfassung verstoßen werden soll, zählt der blaue Liebling unsrer Götter nicht mehr mit. Mag sich auch Brünings Partei salviert haben, die von ihm zusammengetrommelte und in den Wahlkampf geführte Parteiengruppe der neuen Achtundvierziger ist dahin. Brünings Bürgerblockidee ist besiegt, ihr hoher Täufer, der Reichspräsident, mit ihr. Gedenkt Herr von Hindenburg die Konsequenz zu ziehen? Wahrscheinlich wird jetzt in der Gegend von Scholz und Bredt der Ruf nach einer Permanenzerklärung der Hindenburgdiktatur doppelt laut werden. Denn dort saßen immer schon die eingefleischten Drückeberger, die Etappenschweine der Politik, die sich niemals zu einem Ja oder Nein an die Front wagten. Sie werden auch vor Hitler kuschen, am liebsten aber den bisherigen Zustand fortgesetzt wissen. Herr Brüning ist wiederholt gefragt worden, ob er sich mit der Meinung seines Freundes Treviranus identifiziere, daß so lange aufgelöst werden müsse, bis der Reichstag mit der richtigen Mehrheit da sei. Er hat geschwiegen. Jetzt wird Hitler ihn zum Reden zwingen. Denn Hitler muß entweder mitregieren oder putschen.

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Es gibt in der Schwerindustrie ein paar Schlauköpfe, die es sehr nützlich finden würden, wenn die Sozialdemokratie in diesem Winter das Innenministerium und das Arbeitsministerium besetzt hielte. Das ist Herrn Duisbergs feine Rechnung: ein Sozialist soll die Löhne drücken, ein andrer notfalls schießen lassen. Was die Sozialdemokratie auch tun wird, sie darf nicht die Müllerregierung neu auflegen. Das wäre das Ende. Ist es ein Zeichen von Einsicht, daß jetzt Otto Braun, der »Preußenzar«, in die erste Linie gerückt ist? Er hat bisher bewiesen, daß er kommandieren kann, und es ist zu hoffen, daß er den kärglichen Resten der bürgerlichen Mittelparteien mit genügender Schroffheit deutlich macht, wie gründlich sie in die Pfanne gehauen sind und wie wenig Berechtigung sie noch haben, Forderungen zu stellen. Die Arbeitermillionen sind radikalisiert, davon zeugt der kommunistische Erfolg. Das kann auch die Sozialdemokratie nicht unbeeinflußt lassen. Sie hat noch einmal von gewaltigen Wählermassen Blankovollmacht erhalten, und das nicht, um Panzerkreuzer zu bauen oder, wie die Müllerminister, vor jedem bürgerlichen Couloirgeknalle in den Heldenkeller zu kriechen. Die tragische Stunde der Republik hat begonnen. Es geht darum, Menschen zu sammeln, die bei der Abwehr der weißen Diktatur zum höchsten Einsatz bereit sind. Nieder mit dem Fascismus! Einerlei, ob er mit Hitler durch die Vordertür plumpst, ob er mit Brüning über die Hintertreppe schleicht!

Die Weltbühne. 16. September 1930


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