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1.

»Franz, die Portokasse!«

Franz Lohmann fuhr erschrocken auf. Eine tiefe rote Welle flutete über sein junges, frisches Lehrlingsgesicht. In seine hellen blauen Augen trat förmliches Entsetzen.

Hatte der alte Zipperer etwa bemerkt, was in der letzten Stunde an dem kleinen Pult des Lehrlings Franz Lohmann vorging? Hatte er bemerkt, daß Franz Lohmann rechnete und rechnete und doch immer wieder zu dem gleichen Resultat kam: 13 Pfennige Fehlbetrag?

Drohend und mahnend hatten die 13 Pfennige dagestanden und gebieterisch ihre Aufklärung verlangt.

Und Franz Lohmann hatte vor ihnen gesessen, war immer wieder mit dem spitzen Bleistift über die Zahlenreihen hingeglitten, wie ein hartnäckiger Kämpfer, der mit dem Degen in der Faust die schwache Stelle des Gegners suchte – –

Es hatte nichts genutzt:

Der Fehlbetrag blieb.

Da hatte Franz Lohmann einen ängstlich forschenden Blick hinübergeschickt zu dem mageren Gesicht 6 des alten Buchhalters Zipperer und dann mit jäher Entschlossenheit eilig hingemalt:

»Josef Maier, hier     M. –.03
Georg Schmitz, Augsburg M. –.10«

Und hatte mit einem tiefen, befriedigten Lehrlingsaufatmen festgestellt, daß die Portokasse nun wieder in Ordnung war.

Und just in demselben Augenblick hatte Zipperer die Portokasse verlangt, wie einer, der im Hinterhalt nur so lange gewartet hatte, bis der ahnungslose Gegner in die Falle getappt war.

Zögernd schob sich Franz Lohmann durch das Kontor in die Buchhalterei, die mit dem allgemeinen Kontor durch ein Glasfenster verbunden war. Stand, in der einen Hand das schmale Portobuch, in der andern die Portokasse, vor Zipperer und sah ihn aus unsicheren Augen an.

Zipperer warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Was ist denn los, Franz – – du zitterst ja.«

In das Prüfen schlich sich unverkennbares Mißtrauen.

Franz stammelte irgend etwas.

»Ich – – ich wollte – –«

»Ist schon gut – – geh inzwischen ins Lager und bring die Listen da in Ordnung. Wenn ich dich brauche, wirst du gerufen!«

Franz Lohmann schlich sich mit hämmerndem Herzen davon. Sein Denken war ein einziges Bitten: 7 Wenn er nur nicht merkt, daß heute gar keine Briefe an Maier und Schmitz abgegangen sind.

Und als er nach kaum fünf Minuten hinaufgerufen wurde, sank ihm das Herz buchstäblich in die Hosen, als wisse er genau, daß sein letztes Stündlein nunmehr geschlagen habe.

Der alte Zipperer empfing ihn mit einem merkwürdigen Blick und deutete mit spitzem Zeigefinger auf das verstaubte Messingscharnier der Portokasse, aus dem friedlich die eingeklemmten Ecken einer Zehn- und einer Dreipfennigmarke zu sehen waren. Er zog sie hervor und legte sie zu den übrigen Marken.

»Dreizehn Pfennige Überschuß, Franz. Komisch, nicht? Was meinst du, wenn wir auf die neuen Kunden Maier und Schmitz ein für allemal verzichteten?«

Franz stand blutrot vor dem alten Buchhalter. Der nahm ihn beim Ärmel und zog ihn nahe zu sich heran.

»Komm mal ein bißchen näher, Franz, die andern brauchen's nicht zu hören. Deine Mutter, Franz, ist eine kreuzbrave Frau. An die dreißig Jahre säubert sie jetzt die Kontore von Utz und Lamprecht. Denke mal, wie das wäre, wenn sie morgen dich, ihren Sohn, mit hinausfegen müßte – – 'n Häufchen Schmutz mehr, nicht weiter der Rede wert, nicht wahr?«

8 »Ich – – ich – –« stammelte Franz, völlig verwirrt und dem Weinen bedenklich nahe.

Der alte Zipperer winkte ab.

»Keine Entschuldigungen, Franz. Merk dir eins: Stimmend machen ist noch nicht ganz stehlen. Aber die Scheidewand ist dünn – – verdammt dünn, mein Junge. Denk an deine Mutter, die alle Hoffnungen auf ihren einzigen Sohn gesetzt hat. Gib mir die Hand und versprich mir, nie wieder in deinem Leben etwas stimmend zu machen.«

Die hagere Hand Zipperers umschloß die zitternde, kräftige Jungenhand. Ließ sie wieder los und winkte. Bedrückt und erleichtert zugleich schlich Franz wieder auf seinen Platz zurück.

Zipperer sah ihm ein paar Sekunden lang nach und wandte sich dann mit einem leisen Seufzer von neuem der Jahresbilanz zu. Sein Blick wanderte über die aufgeschlagenen Bücher hin und blieb an einem kleinen gelben Heft haften. In diesem Heft standen eine Reihe von Paragraphen. Zipperer brauchte es nicht aufzuklappen. Er kannte sie fast auswendig. Auch diesen, auf den es ankam:

». . . . sämtliche Vermögensteile nach dem Werte einzusetzen, der ihnen in dem Zeitpunkt beizulegen ist, für welchen die Aufstellung stattfindet.«

Wenn er den Paragraphen 4a wörtlich nähme, könnte er – – ja, mehr noch: er wäre sogar verpflichtet – –

9 Hm – – im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung waren die und die noch prima-prima. Keine Spur dubios! Also dürfte man – –

Aber – –

Ein Schatten huschte an der Mattscheibe der Tür zur Buchhalterei vorüber. Ein schwerer, etwas schleppender Schritt, den Zipperer gut kannte. Mit plötzlichem Entschluß riß er die Tür auf:

»Herr Utz, darf ich um einen Augenblick bitten – –?«

Gleichmütig lenkte der schwere Schritt. Mit einer etwas zerfahren wirkenden Bewegung strich der Mann die schweren Folianten vom Rande des Schreibtisches weg und setzte sich. Sah den alten Buchhalter aus fast erloschenen Augen an.

»Sie wackelt immer noch, Zipperer! Ich suche vergebens nach den Ursachen. Können Sie mir vielleicht sagen, woran es liegen mag?« fragte Utz den alten Buchhalter, und seine Stimme klang seltsam schleppend und müde, als müsse er erst die Worte suchen.

Zipperer bemühte sich, Ruhe zu bewahren.

»Ich fürchte, es bleibt nicht beim Wackeln, Herr Utz, wenn uns der Bankkredit gekündigt wird!«

Utz nahm nur die Worte auf, ohne sich ihren unheilvollen Sinn zu eigen zu machen. Seine zögernd hervorbrechenden Gedanken zerquälten sich mit anderen Dingen.

10 »Bankkredit? Was kümmert mich der Bankkredit, Zipperer? Ich meine die Dreschmaschine. Tag und Nacht grübele ich – – und erreiche keinen ruhigen Stand.«

»Ich weiß es, Herr Utz,« meinte Zipperer ernst. »Aber wichtiger ist im Augenblick die Bilanz.« Sein knöcherner Finger klopfte auf das Buch. »Diese Bilanz hier.«

Utz machte eine ärgerliche Handbewegung.

»Bilanzen. Bilanzen sind Papier, lieber Zipperer. Utz und Lamprecht – – das sind Maschinen. Arbeitende, widerspenstige Maschinen – – nicht Papier, Zipperer.«

»Die Bank hat bereits gemahnt. Es ist höchste Zeit. Sie wissen, Herr Utz, wir brauchen neuen Bankkredit.«

Utzens Blick ging leer, zergrübelt in die Ferne.

»Wenn sie feststeht, Zipperer – – wenn die Dreschmaschine feststeht – – wir wären die ersten Landmaschinenbauer.«

Zipperer blieb hartnäckig bei dem, was ihm auf dem Herzen lag.

»Herrn Lamprechts Unterschrift hoffe ich heute abend noch zu bekommen – –«

Der andere vermochte sich nicht aus seiner Welt loszureißen:

»Heute abend? Hoffen? Zipperer, tausendmal habe ich mir das auch schon gesagt. Abend um Abend 11 kam – – und die Dreschmaschine wackelt noch immer. Gelang es mir, den Abreuter zu packen, daß er nicht mehr zu mucksen wagte, rebellierte der Siebkasten um so stärker. Bändigte ich den Siebkasten, schlug der Abreuter wie verrückt um sich. Die Formel brauche ich, Zipperer, die Formel, um die beiden unter einen Hut zu bringen.«

»Gewiß, gewiß, Herr Utz,« nickte Zipperer ergeben. »Aber wenn Sie, da Sie gerade hier sind, die Bilanz hier unterschreiben würden – –«

»Meinen Sie, daß es für die beiden Rebellen von Vorteil wäre?«

»Sicher, Herr Utz, absolut sicher. Der neue Bankkredit – –« Er reichte dem Erfinder Utz die Feder. Der malte langsam seinen Namen unter die Bilanz. Zipperer saß dabei und verfolgte mit beinahe angespannter Aufmerksamkeit die schreibende Feder. Plötzlich erschrak er.

»Herr Utz. Sie haben in Ihrem Namen – – wie soll ich gleich sagen – – in Ihrem Namen haben Sie das t verloren.«

Der »ferne Blick« des andern traf den Buchhalter.

»Wenn's weiter nichts wäre, was ich – – was ich verloren habe, Zipperer – –«

»Sie müssen das t noch einfügen, Herr Utz, sonst ist die Bilanz ungültig.«

»Na schön – – wenn sich alles so leicht nachholen ließe.«

12 Er fügte das t ein.

»Ist's recht so?«

Zipperer verneigte sich. Utz nickte und ging hinaus. Sein schwerer, schleppender Schritt verklang im Gang.

Dann trat, kaum daß Zipperer die Unterschrift Utzens getrocknet hatte, Lamprecht ein. Sah den Namen seines Teilhabers unter der Bilanz und hob den Kopf. Sein Blick überfiel prüfend den alten Buchhalter.

»Seit wann lassen Sie sich vor meiner Unterschrift die andere geben, Zipperer?«

Zipperers Verlegenheit offenbarte sich in dem hastigen Hin- und Herfahren der hageren Finger, als suche er irgend etwas auf dem Schreibtisch.

»Verzeihen Sie, Herr Lamprecht, ich glaubte – hm – ich –«

»Sie meinten, Lamprecht werde den Utz nicht Lügen strafen, nicht wahr? Ehrlich, bitte, war's so?«

Zipperer nickte, ohne den Chef anzusehen.

»Woraus hervorgeht, daß die Bilanz – falsch ist!« vollendete Lamprecht ernst.

»Falsch? Aber, Herr Lamprecht – – ich bin –«

»Zurechtgestutzt also.«

»Nein, um Gottes willen nicht – – es ist nur – –«

»Frisiert.«

13 Zipperer gab sich einen Ruck. Sein hagerer Rücken spannte sich.

»Man klopft nicht ungekämmt an eine Tür, Herr Lamprecht.«

»Sie meinen die Bank?«

»Ja.«

»– – die sich, bevor sie unsern Kredit erhöht, überzeugen will, wie es um unsern Geschäftsgang steht?«

»Der Gewinn ist gestiegen, Herr Lamprecht.«

»Er wäre es, wenn alle unsere Forderungen vollwertig wären – das wissen Sie so gut wie ich, Zipperer.«

Der Buchhalter deutete auf das Bilanzdatum.

»Sie sind vollwertig, Herr Lamprecht.«

Eine wegschiebende Handbewegung Lamprechts.

»Sie waren es am einunddreißigsten Dezember. Heute ist der fünfte Mai, Zipperer. Zwischen diesen beiden Daten floß ein Strom, der viel weggerissen hat. Der Landwirtschaft geht's nicht gut. Unsere treuesten Bauernkunden möchten gern bezahlen und können's nicht. Ich schätze: Zehntausend Mark waren abzuschreiben – –«

»Nicht am einunddreißigsten Dezember, Herr Lamprecht. Der einunddreißigste Dezember ist das Datum der Bilanz. Und da das Gesetz strikte vorschreibt – –«

»Machen wir uns doch nichts vor, lieber Zipperer. 14 Das Gesetz des Gewissens kennen Sie, und ich kenne es auch. Es ist das einzige Gesetz, dem wir uns zu beugen haben.«

Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Und zwischen ihnen wuchs plötzlich etwas Unauslöschbares, etwas nicht Wegzudenkendes auf: Die Vergangenheit.

Die Vergangenheit von jenem Tage an, an dem sich die Väter von Utz und Lamprecht zusammenfanden. Von jenem Tage an, an dem der alte Utz auf seiner Wanderschaft eine Dreschmaschine sah, die auf jeder Eisenrippe in großen Buchstaben das Wort »Great Britain« trug. Diese Inschrift brannte sich tief in Utzens Herz. Sie verfolgte ihn und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er baute eine Stiftendreschmaschine, die von einem Pferdegöpel vorsintflutlich angetrieben wurde – und versagte. Da lernte er den Wagenbauer Lamprecht kennen. Schlosser und Wagenbauer spannten sich zusammen. Was die in England können, können wir auch, sagte einer zum andern. Aber diese Erkenntnis stand im leeren Raum. Und in diesen leeren Raum warfen sie alles, was sie hatten und füllten ihn mit Lärm und Hämmern und Getöse. Bis eines Tages aus dem Getöse die erste deutsche Dreschmaschine rollte. Eine, die nicht versagte, vor der aber die Bauern höhnend standen, als sie zu rattern anhub, vor der sie sich bekreuzten, als sie links 15 gedroschenes Stroh herauswarf und rechts die goldenen Körner. Eine, die mit einer einzigen Kurbel alles das vollführte, wozu in England bisher drei Kurbeln gebraucht wurden. Eine deutsche Dreschmaschine, die mit unsichtbaren Armen rings ins Land hinausgriff, überallhin, wo aus den Tennen das rhythmische Geklopf der Dreschflegel dröhnte. Eine, die den Dreschern einen Flegel nach dem andern aus der Hand wand und der Firma Utz und Lamprecht eine solide Grundlage verlieh. Eine, die den Söhnen von Utz und Lamprecht ein Vermögen hinterließ, mit dem sie sich ihr Leben lang gute Tage hätten schaffen können, wenn sie – die Firma verkauft hätten.

Aber der Dreschmaschinenrhythmus saß ihnen im Blut. Tackte und hämmerte da herrischen Befehl: Weiter! Immer weiter! Bis sie im neuen Wettkampf mit verbesserten Maschinen ihrer Konkurrenten Geld verloren, Geld gewannen im Gewoge streiterfüllter Jahre.

Jetzt konnten sie nicht mehr zurück. Die Brücken ins bequeme Rentnerdasein waren zerbrochen. Vor ihnen lag das weite Schlachtfeld, das Opfer forderte – – täglich und stündlich Opfer. Der Erbe Lamprecht lag in schwerem Kampf mit der gigantischen Macht Geld – – schwerer noch aber war der Kampf des Erben Utz mit dem Moloch Maschine.

Das alles war aufgewachsen zwischen den beiden 16 Männern, die sich in dem kleinen Buchhalterraum gegenüberstanden. Das und noch einiges dazu.

Ein tiefer Atemzug hob Lamprechts Brust.

»Der Bankkredit muß her, Zipperer. Kredit ist Blut. Ohne Blut ist kein Leben im Firmenkörper. Ohne Blut rollt die neue Dreschmaschine nicht aus dem Dunkel. Nur – –« – ein kurzes, schwerlastendes Zögern, aus dem sich ein Blick hinaustastete auf den Hof, über den langsam und schleppend Utz schritt – »– – auch Utz geht im Dunkeln, Zipperer. Die Maschine hat mit gierigen Fangarmen alle guten Kräfte aus seinem Gehirn gesaugt. Und es ist keiner da, auf den der Funke überspränge.«

»Was wissen wir, Herr Lamprecht?« sagte Zipperer leise. »Unsere Sache ist es, dafür zu sorgen, daß er nicht ins Leere springt, der Funke.«

»Sie meinen, dazu müssen wir die Firma halten? Sie haben recht – – geben Sie die Feder her!«

Als Lamprecht gegangen war, saß der alte Zipperer vor der Bilanz mit den beiden Unterschriften. Sein Blick ruhte starr darauf, als könne er sich nie mehr davon lösen.

Und eine Stimme war da, lastend, drückend. Die legte sich auf seine Brust, fordernd, befehlend:

›Buchhalter Zipperer, zeig mir den Unterschied zwischen dreizehn Pfennigen und zehntausend Mark.‹

Und der Buchhalter Zipperer schwieg. Er fand den Unterschied nicht – – 17

 


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