Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Einsteins Streckenwärter

Kleine Parodie großer Geistestat.

An die Eisenbahnfahrt werd' ich denken! Ich kam von Dresden, wollte nach Berlin und hatte mir's im Abteil bequem gemacht. Und während ich meine Butterbemme kaute, fing ich an zu lesen, in Zeitungen und Heften, was man eben so damals las: Einstein, Einstein, Einstein!

Relativitätserklärer, und kein Ende! Jeder fängt bekanntlich mit einem fahrenden Bahnzug an, mit Beobachtern innen und außen, die da Strecken, Lichtwege, Zeiten messen, beobachten, beurteilen, in Widerspruch geraten, bis plötzlich die Relativitätstheorie einsetzt und den eiligen Durchschnittsleser mit der Wohltat eines Mühlrades überrascht, das ihm wuchtig rotierend im Schädel herumgeht.

Lektüre ermüdet und macht schlaftrunken. Aber Schlaftrinken löscht noch nicht den Durst, und den verspürte ich, als der Zug gerade irgendwo hielt. Ob's hier wohl ein Glas Bier gibt? – Ich sprang auf, stürzte hinaus auf den Perron und rief: »Kellner, ein Seidel!« – Aber da war kein Kellner, kein Seidel, nicht einmal eine Station. Bloß ein Wärterhäuschen und ein Mann davor, mit einer Uhr in der Hand.

»Entschuldigen Sie,« – sagte ich . . .

»Stören Sie mich nicht,« versetzte der Bahnwärter. »Sie sehen doch, daß ich beobachte!«

Ich blickte um mich, – mein Zug war weg. »Um Gottes willen! wo ist denn der Personenzug hin, mit dem ich eben von Dresden gekommen bin?«

»Hier fahren keine Bummelzüge, hier verkehren bloß Blitzlichtzüge; wird gleich wieder einer kommen. Eben ist er von Paris abgefahren, und in fünf Minuten muß er hier durch. Na, Sie wissen doch, der Einstein-Zug.«

»Ach, da winken Sie doch dem Einsteigezug mit der Fahne, daß er hier hält, ich muß doch nach Berlin!«

»Der wird grad' Ihretwegen halten, haben Sie 'ne Ahnung! So ein Zug von zehn Kilometern Länge, der bloß zu wissenschaftlichen Zwecken fährt!«

»Was sagen Sie da? Ein Bahnzug von zehn Kilometern Länge? Ja, wieviel Lokomotiven sind denn da vorgespannt?«

»Nicht eine einzige. Der fährt bloß so. Und wie fährt er! Knapp saust er durch Köln durch, ist er schon in Stendal!«

»Ja, da muß doch den Tausenden von Reisenden das Hören und Sehen vergehen!«

»Wieso Tausenden? Weil der Zug zehn Kilometer lang ist? Das geht das Publikum gar nichts an. Publikum ist uns schnuppe. Hier wird nur physikalisch gefahren. Bloß zwei Reisende sitzen drin, der Fahrgast A. und der Fahrgast B., der eine ganz vorn, der andere ganz hinten, und die experimentieren in einemfort.«

»Ist denn nicht wenigstens ein Speisewagen in Ihrem Einstein-Zug?«

»Der würde furchtbar stören, begreifen Sie doch! Der ganze Zug besteht nur aus Kilometern und zwei Reisenden. Der hintere gibt dem vorderen ein Lichtsignal, der vordere wirft das Signal zurück, – der hintere antwortet . . .«

»Ist das wörtlich zu verstehen: »Der Hintere antwortet?«

»Nicht wörtlich, aber optisch. Sie messen doch die Zeit für die Lichtwege im Zuge, sozusagen subjektiv.«

»Hören Sie mal, Streckenwärter, Sie reden irre. Wenn die beiden Fahrgäste ganz vorn und ganz hinten sich Lichtsignale zuwerfen, da sind doch viele Hunderte von Waggons dazwischen, da können sie doch nicht die Bohne von einander zu sehen kriegen?!«

»Menschenskind, sind Sie begriffsstutzig. Sie passen überhaupt nicht in den wissenschaftlichen Bahnverkehr. Der ganze Zug ist doch selbstverständlich durchsichtig!«

»Total aus Glas? Und so einen gläsernen Zug lassen Sie hier ganz frei 'rumfahren? Da kann doch das größte Unglück passieren?«

»Bis jetzt ist noch nischt vorgekommen. Die zwei Fahrgäste befinden sich frisch und wohlauf, wie der Fisch im Vakuum, und konstatieren jahrelang mit größter Genugtuung, daß der Lichtstrahl im Zuge für Hin und Her genau dieselbe Zeit gebraucht.«

»Wenn ich bloß wüßte, was Sie als Streckenwärter dabei zu tun haben!«

»Da hört doch alles auf! Ich bin doch die Hauptsache! Die beiden Fahrgäste konstatieren ihren Zimt, und ich konstatiere das Gegenteil! Weil die Sache vom Gleis aus janz andere Zicken macht, wie vom bewegten System aus beurteilt! Det is, der Deibel soll mir holen, een sogenannter kontradiktorischer Widerspruch, und dadruff beruht doch die janze moderne Physik! Die im Zuge sagen so, – ich sage so, – und mit 'n Wuppdich springt Ihnen das Relativitätsprinzip in die Visasche!«

»Ich dachte mir bloß immer, ein Streckenwärter auf einer Staatseisenbahn hätte anderes zu tun als physikalische Widersprüche festzustellen; Sie sollten doch eigentlich auf Ihre Barriere aufpassen und die Weichen richtig stellen.«

»Könnt mir so passen! Det sind überwundene Standpünkter aus der absolutistischen Epoche. Ick bin 'n relativierter Streckenwärter, ick bediene keene Schranke und Weiche, ick messe bloß noch Lichttempo bis auf eine dreißigtausendstel Sekunde exakt. Hier is mein Chronometer, dadrauf kann ich das ablesen. So 'ne Uhr kost't sechs Milliarden Mark zum Vorkriegskurse. Und damit stelle ich fest: zwei Ereignisse, die für mich gleichzeitig sind, brauchen für die Fahrgäste, die vorbeiflitzen, noch lange nicht gleichzeitig zu sein.«

»Wie verstehen Sie das?«

»Na, zum Beispiel, wenn ick Ihnen jetzt uffs Hühnerauge trete und Sie schreien Au, dann is mein Tritt und Ihr Au für uns gleichzeitig. Worum? Woso? Standpunktssache. Von einem andern System aus beurteilt, trete ick Ihnen jetzt de janze Zehe ab, und Sie schreien erst fünfhundert Jahr später. Jewöhnen Se sich nu mal endlich ans Relativieren: die Tante wackelt mit 'm Kopp; richtig; und genau so richtig is: der Kopp wackelt mit der Tante. Sie plinkern mit de Augen; einseitige Auffassung: die Augen plinkern ooch mit Ihnen. Nu genug. Ich muß aufpassen und den Lichtstrahl messen, – da kommt schon der Zehn-Kilometer-Zug.«

Da ergriff mich ein Taumel. Ich stürzte hinüber, wollte aufs Trittbrett springen, um vielleicht noch mitzukommen. Aber der Zug war wirklich nur für die zwei Signalreisenden eingerichtet, und mir erging es beim Ausgleiten und Abrutschen katastrophal. 2688 Bahnräder zermalmten mich in neun Quatrillionen Atome. Eben wollte ich »Hilfe!« brüllen, als mich ein Schaffner aufrüttelte: »Sie, Herr, jetzt müssen Sie aber wirklich aussteigen, wir stehen ja schon drei Minuten auf 'm Anhalter Bahnhof!«


Großer, göttlicher Einstein! Dein Relativitätszug mag ja weit instruktiver sein, aber mit einem gewöhnlichen D-Zug riskiert man doch relativ bedeutend weniger!

 


 


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