Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neu-Abdera

Daß in den Ratskammern unserer Stadt etwas radikal Verkehrtes auskriecht, das kommt bekanntlich sehr selten vor, dann aber um so häufiger. Zur Charakterisierung solcher Abseitigkeiten hält die Mehrzahl meiner Brüder von der Pressezunft ein immer wirksames Schlagwort bereit: ›Abdera! Abderiten!‹ Sobald eine derartige schnurrige Maßregel bekannt wird, wette ich in die Luft hinein: Morgen wird in den Journalen und Zeitschriften das bewußte Schlagwort an zehn Stellen zu lesen sein, und ich gewinne die Wette regelmäßig. So auch neulich, als sich der sogenannte ›Gasskandal‹ entwickelte. Der beruht nämlich auf einer Verfügung mit ›rückwirkender Kraft‹. Man schraubt die Tarife für Kochgas, und zwar nicht bloß hinauf, sondern auch rückwärts: der längst verbrauchte Kubikmeter Gas der Vorzeit wird auf den Preis der Zukunft gesteigert. Das könnte auch andere Aemter zur Nacheiferung anspornen. Zum Beispiel: Mir wird nachgewiesen, daß ich vor langen Jahren mit sehr geringem Fahrgeld in die bayrischen Alpen gereist bin. Jetzt meldet sich das Prinzip der Rückwirkung, revidiert mein billiges Vorleben und verlangt von mir die Nachzahlung der ganzen Fahrstrecke zum Kilometertarif von übermorgen. Dieses krebsgängige Prinzip hat übrigens seine geschichtlichen Vorläufer und ist schon von unserem Kopisch in seiner famosen Krebsromanze besungen worden: »Und alles kehrt im Erdenschoß zurück zu Adams Erdenkloß, die Henne wird zum Küchlein, das Küchlein kriecht ins Ei, das schlägt der große Krebs dann mit dem Schwanz entzwei.«

Aber meine Genossen von der Presse dichten keine Romanzen, sondern sie setzen sich mit dem großen Verwaltungskrebs in derber Prosa auseinander; sie rufen Abdera, nennen unser Berlin eine Abderitenstadt und liefern zu diesem Thema sinnige Variationen, indem sie auch die Schildbürger und Schöppenstedter zum Vergleich heranziehen.

Hier trete ich mit einem Widerspruch auf, denn ich finde diese Vergleiche und Anspielungen sehr ungerecht. Schließlich beruht doch unsere ganze Kenntnis der vormaligen törichten Städte auf Ueberlieferung, und wenn schon das Programm »Rückwärts« aktuell wird, gut, so revidiere ich die Tradition auch rückwärts. Ich besitze hierfür mein eigenes, aus Chroniken geschöpftes Material und hierauf gestützt beweise ich, daß es sich nur um flunkernde Legenden handelt, die endlich einmal eingesargt werden müssen. Tatsächlich waren Abdera und Schilda die grundgescheitesten Städte von der Welt.

Also zuerst die Schildbürger! Die bauten ein Rathaus ohne Fenster und wollten sich über die Finsternis durch Sonnenlicht hinweghelfen, das sie zuvor in Säcken, Wannen und Kesseln eingefangen hatten. Gott, wie blöde! sagen die Neunmalweisen. Aber habt ihr denn noch niemals von Luminiszenz, Phosphoreszenz, Fluoreszenz gehört, mit deren Hilfe es allerdings gelingen kann, Sonnenstrahlen in Gefäßen aufzuspeichern für späteres Erleuchten? Die Schildaleute waren eben als Naturforscher ihrer Zeit weit voraus, heißt es doch in der Chronik wörtlich, daß sie bestrahlte Erde zur Illuminierung ihres Rathauses verwandten, hier haben wir den deutlichen Hinweis auf das Radium, auf uranhaltige Erdsubstanzen, auf Alpha-, Beta- und Gammastrahlen, von denen diese Werkmeister schon Jahrhunderte vor Becquerel und Curie Kenntnis hatten. Sie selbst waren »luminös« wie die radioaktiven Stoffe, deren sie sich bedienten. Und wenn sie am Stadthaus die Fenster sparten, so geschah es nur zur Verfestigung der Mauern, die sich um so solider bewährten, je weniger sie durch Sichtluken unterbrochen wurden.

Der zweite Streich: die Schildbürger hatten eine kostbare Glocke, um sie vor beutelustigen Feinden zu sichern, in den See versenkt; und sie wollten eine Methode ersinnen, um den genauen Ort der Versenkung wiederzuerkennen, wenn der Feind abgezogen wäre. Der Schultheiß entschied: wir machen an dem bewußten Punkte einen Kerbschnitt in das Schiff, das die Glocke trug, und an diesem Zeichen werden wir die bewußte Stelle im See jederzeit wieder auffinden. Ist das trottlich oder genial? Ich halte es für einen Ausfluß der höchsten Physik in Verbindung mit einem Triumph der Feinmechanik. Denn auf den Idealfall bezogen, taucht ein Schiff an verschiedenen Punkten eines Gewässers verschieden tief, und ein Kerbschnitt am Wasserspiegel bietet allerdings eine ganz eindeutige, zuverlässige Orientierung. Die Tauchtiefe ist nämlich vom Schwerepotential abhängig, das von der Verteilung der Landmassen, vom Relief des Seegrundes und von der Abplattung der Erde abhängt, wechselt mithin von Punkt zu Punkt. Freilich erfordert dieses scharfsinnige Verfahren die allerextremste Präzision bei Anbringung der Schnittmarke: allein es liegt kein Grund vor. diese Technik bei Leuten zu bezweifeln, deren überragende Fähigkeiten wir bereits an anderen Proben erkannt haben.

An den Kernpunkt der Angelegenheit gelangen wir indes erst, wenn wir die Originalchronik von Schildburghausen aufschlagen, die sich, von 1597 datiert, in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Wir erfahren daraus, daß die Stadtbewohner aus ganz sinnvollen politischen Motiven zu dem Beschluß gelangt waren, sich dumm zu stellen und mit den Proben eines erklügelten Aberwitzes die ganze Welt zu foppen. Sie ersannen abenteuerliche Handlungen, die viel zu intelligent waren, um von der stupiden Außenwelt begriffen zu werden; und sie nahmen den Verdacht der Borniertheit gern in den Kauf, weil sie ganz genau wußten, daß die wirklichen Narren im Publikum saßen, ausgelacht von den schlauen Komödianten auf der schildbürgerlichen Possenbühne.

Kurzum, sie benahmen sich so vernünftig wie ihre thrazischen Vorbilder von Abdera, denen Lucian, Galenus, Juvenal und Wieland die Albernheit bescheinigt haben. Wer sich meinen Studien und Ueberlegungen anschließen will, gelangt auf geradem Wege zu dem Ergebnis, daß es im ganzen Altertum keine so erleuchtete Stadt gegeben hat wie Abdera.

In den Adern der Bevölkerung floß jonisch-tejisches Blut, und hierdurch war sie stammesverwandt den großen jonischen Figuren Alkäos, Anakreon, Apelles, Sappho, Aspasia: Abdera selbst entkeimten Anaxarch, der hervorragende Geschichtsschreiber Hekatäus, der große Protagoras, der Urbegründer der philosophischen Relativitätstheorie, und das Weltwunder Demokrit. Die elementarste Logik bäumt sich schon auf bei der Vorstellung, alle diese Genies wären einem Boden entsprossen, der sonst nichts hervorbrachte als Blödiane.

Die Abderiten waren ein Kunstvolk ersten Ranges, sie besaßen das prächtigste Nationaltheater, die erste Bühne, die dem barbarischen Gebrauch entgegen ihre Iphigenien und Andromachen als von wirklichen Frauen gespielt herausstellte. Und von welchen Frauen! In allen abderitischen Darstellungen wimmelt es von Prachtfiguren, deren göttliche Schönheit gepriesen wird. Und wiederum wird die Logik – sagen wir: die Biologik – auf den Kopf gestellt, wenn man annimmt, so viele Venusgestalten hätten in einem »Schöpsenlande« (so spricht Juvenal) entstehen können.

Aber die Kunst der Abderiten war verpfuscht, so versichern die Gewährsmänner, die hinzufügen: Ihr Gesang verfolgte nicht die einfache Tonlinie, sondern erging sich in lächerlichen Schnörkeln, wie Trillern, Koloraturen und Nachtigallkadenzen. Ein Fehlurteil schlimmster Sorte, denn solche Verzierungen sind gerade die Merkzeichen einer Kunst, zu deren Entfaltung alle anderen Länder erst nach vielen Jahrhunderten gelangten.

Das Paradestück der systemisierten Legende ist der abderitische ›Prozeß um des Esels Schatten‹. Für jeden Leser, der nur um Spannbreite vom Vorurteil los kann, der instruktivste, in allen Beweisreden scharfsinnigste Prozeß, der je geführt wurde. Man vergleiche sie nur mit den schulpaukerischen Plädoyers Ciceros, um den Abstand zwischen eloquenter Meisterschaft und Stümperei zu ermessen. Nein! sagen die Lästerer, in diesem Schattenprozeß wurde nicht gerecht, sondern nur mit übertriebener Spitzfindigkeit verhandelt. Also, muß man nach Juvenal ergänzen: die Abderiten waren ›spitzfindige Schöpse‹. Und mit diesem unmöglichen Begriff hat sich die Welt angefreundet, bloß damit Abdera um jeden Preis die Stadt der Idioten bliebe!

Freilich, Prozesse wie die von Athen wurden in Abdera nicht geführt. Zu den Schandstücken gegen Sokrates, Aristides, Protagoras, Aristoteles, Diagoras findet sich hier kein Seitenstück. Die alten und die neuen Lukiane mögen erklären, daß die Abderiten zu dumm waren, um derlei Abscheulichkeiten zu tätigen. Wir aber könnten nun wohl unter die alte Rechnung den Schlußstrich ziehen und das Fazit hinschreiben: es hat keinen Sinn mehr, einem modernen Gemeinwesen, wenn sich blamable Dinge ereignen, Abderitismus oder Schildbürgerei vorzurücken.

In Berlin tagte bis in diese Tage eine Finanzkommission mit dem offiziellen Auftrag, zu untersuchen, weshalb wohl der Dollar im April vor etlichen Jahren von 20 000 auf 30 000 geklettert wäre, vielleicht tagt oder nächtigt diese Kommission mit stattlichem Beamtenapparat noch heute. Auch aus diesem Anlaß ist der Spottruf »Abdera!« laut geworden. Sehr zu Unrecht. Die Abderiten waren wie alle Thraker weinbegeisterte Leute und vermieden es bei ihren bacchischen Freuden prinzipiell, sich um unerforschliche Probleme den Kopf zu zerbrechen. Ihnen galt die Gegenwart mehr als alle Revision der Vergangenheit. Eine Rückwärtskommission und überhaupt alle unsere Rückwärtsereien wären im klassischen Abdera einfach unmöglich gewesen!

 


 


 << zurück weiter >>