Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Ein stürmischer Fahrgast

Ich bin nicht sehr gut zu Fuß und würde heute als Mitbewerber im Stafettenlauf geringe Aussichten haben: aber zu Wagen bin ich ausgezeichnet, und als Insasse eines D-Zuges halte ich die größten Geschwindigkeiten aus. So auch diesmal, als ich das besondere Glück hatte, ein leeres Abteil zweiter Klasse zu erwischen. Ich kam vom Riesengebirge, wo ich in einem schöngelegenen Hotelrestaurant Wintersport mit gebackenen Schneehühnern getrieben hatte, und rollte nun wohlgemut der Heimat entgegen.

Ich machte es mir in der Ecke bequem, lauschte auf das Geräusch der ratternden Räder, übersetzte mir diesen Takt in den Rhythmus des Schmiedemotivs aus »Siegfried«, fühlte mich davon sanft geschaukelt und dachte sogar ans Einschlafen. Jedenfalls waren die Präludien des Schlummermotivs schon im besten Gange, allein bei der Fortsetzung dieser Tätigkeit ergab sich eine Störung. Denn auf irgendeinem Haltepunkt bekam ich Nachtbesuch. Wie ich blinzelnd wahrnahm, war es ein langer, glattrasierter, bebrillter Herr, der einen gelblichgrünen Koffer ins Gepäcknetz verstaute und sich mir gegenüber niederließ.

»Guten Abend!« sagte er.

Ich nahm diese Anrede stillschweigend zur Kenntnis.

»Guten Abend habe ich Ihnen geboten«, wiederholte der Eindringling nachdrücklicher.

»Also meinetwegen«, erwiderte ich, »oder noch besser: Gute Nacht und wohlzuschlafen. Sie werden vermutlich ebenso müde sein wie ich.«

»Darin täuschen Sie sich«, versetzte der andere. »Ich bin so wenig müde, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als mich die ganze Nacht mit Ihnen angeregt zu unterhalten. Gestatten Sie, mich vorzustellen: Servatius Schlüpfer: Sie werden von mir gehört haben.«

»Bedaure, kann mich nicht besinnen.«

»Tut auch nichts zur Sache. Die Hauptsache ist, daß wir uns über die Gestaltung dieses Jahres verständigen. Sie wissen, das ist ein Jubeljahr.«

»Mein Herr, es ist halb zwei Uhr nachts!«

»Also die schönste Zeit zu einer gründlichen Erörterung. Was mich betrifft, so habe ich mein Programm schon ziemlich fertig . . .«

»Ich nicht, mein Herr.«

»Um so mehr muß es Sie interessieren, die Ziele eines scharfdenkenden Zeitgenossen kennen zu lernen. Ich habe das alles schon mit dem berühmten Propagandisten Bombastus Utopikus durchgesprochen, und um mit der vollen Wahrheit herauszurücken: die aufsehenerregenden Flugschriften dieses Utopikus sind von mir.«

»Das will ich Ihnen glauben, unter einer Bedingung: setzen Sie sich in die andere Ecke und lassen Sie mich in Frieden.«

»Ihr Antrag ist abgelehnt, und ich fahre fort, Sie über das Thema aufzuklären. Also, wie gesagt: ein Jubeljahr, und unsere Aufgabe wird es sein, mitzujubeln. Die Veranlassung dazu liegt klar am Tage: wir treten nunmehr in den Völkerbund ein, und diese Genfer Körperschaft wird mit allem Eifer bemüht sein, unsere innigsten Wünsche zu erfüllen.«

»Ich habe nur den einen Wunsch, schlafen zu können.«

»In dieser Hinsicht bin ich anspruchsvoller. Der Völkerbund soll uns wieder zur Stellung einer bedeutenden Kolonialmacht verhelfen, und nach meinen Informationen haben wir alle Aussicht, das durchzusetzen. Es brauchen ja nicht ausgerechnet unsere alten Kolonien zu sein, es gibt ja noch andere. Um mit dem einfachsten anzufangen, verlange ich acht Millionen Quadratkilometer von Marokko.«

»Sie sind ein Ignorant: ganz Marokko ist noch nicht den zehnten Teil so groß.

»Nach Ihrer Meinung, aber nicht nach meiner! Wenn ich sage: Marokko, so meine ich natürlich: inklusive Tibet und Mongolei. Kennen Sie die Reisewerke von Sven Hedin und Ossendowski? Nein? Also da dürfen Sie gar nicht streiten. Tibet und Mongolei sind die Länder der Zukunft, und wenn wir diese durch Spruch des Völkerbundes bekommen, dann haben wir wirklich was zum Jubeln.«

»Wünschen Sie vielleicht auch Mesopotamien?«

»Selbstverständlich, so wahr ich Servatius Schlüpfer heiße. Oder haben Sie mich für einen Leisetreter gehalten?«

»Ganz gewiß nicht, danach zu schließen, wie Sie dauernd auf meinen Schuhen herumtreten. Ziehen Sie gefälligst Ihre Piedestale ein bißchen zurück.«

»Nichts ziehe ich zurück, weder meine Beine, noch meine kolonialen Ansprüche. Ich will auch einen Korridor!«

»Draußen, mein Herr: der Korridor dieses D-Zug-Wagens steht zu Ihrer Verfügung.«

»Das könnte Ihnen so passen, Sie Mann ohne ernste Ziele beim Beginn eines Heiljahres! Was ich unbedingt haben muß, ist ein Korridor nach dem Ural und nördlich weiter nach Spitzbergen und dem Nordpolgebiet. Wenn erst Amundsen und Fritjof Nansen in Preußen naturalisiert sind, werden wir das schon in Genf durchdrücken, haben Sie das begriffen?«

»Schreien Sie nicht so, Sie Mensch mit den Laubenkolonien im Eise! Und außerdem, Sie qualmen da eine Stinkadores, die mir die ganze Lausitz verpestet!«

»Bleiben wir beim Jubelthema! . . .«

»Bleiben Sie mir vom Halse, Herr! Scheren Sie sich in einen anderen Wagen. Sie belästigen mich!«

»Wollen Sie mich beleidigen?«

»Mit Wonne, wenn ich Sie dadurch loswerden kann.«

»Sie werden mir Genugtuung geben, und zwar auf der Stelle!« – Dabei griff der nächtliche Unhold in seine Manteltasche: »Hier sind zwei Pistolen, wählen Sie eine! und auf zehn Schritt Abstand!«

Mir war alles recht, ja ich brannte darauf, dem verdammten Schwätzer eins auf den Pelz zu feuerwerkern. Die Sache vereinfachte sich dadurch, daß der Zug plötzlich auf offener strecke hielt. Wir stiegen aus, faßten Posto auf dem Fahrdamm, – auf genaue Innehaltung der Duellregeln kam es ja in so besonderem Fall nicht an, – zwei Kugelblitze durchzuckten die Finsternis, – ich sah Schlüpfern wanken, – mit dem Ausruf: »Ceylon muß an Braunschweig fallen!« schlug er auf die Schwellen des Nebengeleises.

Ich schleuderte die Pistole fort, kletterte in den Wagen zurück, warf mich in die Ecke zurück und konstatierte mit Befriedigung, daß man mit schlechtem Gewissen sehr gut einschlafen kann; allein bald geriet ich in einen dämmernden Zustand des Halbwachseins, und jetzt erst überkam es mich mit allen Schrecken. Allgütiger Himmel! Was war das eigentlich gewesen? Eine Vision? Ein Alpdruck? – Sicherlich doch! Ich hatte keinem was zuleide getan, keinen Hilflosen auf den Schwellen liegen lassen. Mir wurde leichter. War ja überhaupt auf der ganzen Fahrt ganz allein gewesen, da war niemand unterwegs eingestiegen – – –

Aber nein! Da oben im Gepäcknetz lag ja der gelblich-grüne Koffer!! und wie es mich angrinste, dieses Gepäckstück! Wie es mir die Anklage ins Gesicht schleuderte! Kein Zweifel, der Koffer gehörte zu einem Menschen, den ich nach einem fatalen Wortwechsel erschossen hatte!

Ich wankte auf den Korridor. Und da, – am Fenster stand der Herr, schlank, glatt, bebrillt und starrte mich an.

»Herr Schlüpfer! Sind Sie es wirklich?«

»Professor Doktor Servatius Schlüpfer; freut mich, daß Sie sich meinen Namen gemerkt haben, obschon Sie nahe am Einschlafen waren, als ich mir erlaubte, mich vorzustellen.«

»Ja, wie kommen Sie denn hier auf den Durchgang? Wir hatten doch ein böses Abenteuer miteinander?«

»Wir ein Abenteuer? Nicht daß ich wüßte. Ich bin bloß herausgegangen, weil ich es, offen gestanden, in Ihrer Nähe nicht aushalten konnte. Leiden Sie öfter an solchen Anfällen?«

»Ich? Anfälle? Wie verstehen Sie das?«

»Ja, Sie phantasierten dauernd von Marokko und Mongolei und Quadratkilometern, und dabei brüllten Sie und strampelten Sie, und was das Aergste war, Sie hielten eine kohlende Zigarre im Mundwinkel, die das ganze Coupé verstänkerte, – da zog ich es doch vor, das Feld zu räumen.«

»Ich begreife noch immer nicht. Sie waren es doch, Herr Schlüpfer, der mit ganz verschrobenen Zukunftsplänen anfing –«

»Nichts läge mir ferner. Ich bin Geschichtsprofessor und kümmere mich prinzipiell nur um das klassische Altertum, niemals um die Zukunft . . .«

»Wir hatten also gar keinen Wortwechsel?«

»Soweit es mich betrifft, nur einen Platzwechsel. Uebrigens werden wir sogleich in Berlin einfahren, gestatten Sie, daß ich mir meinen Koffer hole.«

»Und Sie haben auch keinen Zorn gegen mich? Nein? O, wie gütig! Sollte ich je in die Lage kommen, mich Ihnen gefällig zu erweisen . . .«

»Diese Lage ist bereits gegeben. Sie treffen eben Anstalten, um sich eine neue von Ihren Zigarren anzustecken – – wenn Sie vielleicht damit warten wollten, bis wir den Zug verlassen haben . . .??«

Ich warf den Glimmstengel durchs Fenster, ergriff die Hand des Mannes in freudiger Erregung und, von aller Gewissensangst befreit, wünschte ich ihm ein gesegnetes Jubeljahr.

 


 


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