Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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I. Teil

Sammlung aus dem Projekt Gutenberg-DE

2017

Meine Zeitlupe

Als ich Detektiv wurde

In einer Ecke des Raucherabteils hatte ich es mir vor Jahren bequem gemacht. Als alleiniger Insasse des Coupés schmökerte ich stundenlang in einem Bande von Sherlock Holmes, und geriet immer tiefer in den Ideenkreis des findigen Verfassers. Jeder Mensch, so dachte ich, sollte doch imstande sein, seine Wahrnehmungen soweit zu stärken und kombinatorisch zu steigern, daß er aus der Menge kleinster Indizien wichtige Ergebnisse zu gewinnen vermag, vielleicht ist das Genie eines Detektivs garnicht so merkwürdig, als unser aller Gleichgültigkeit den eigenen Beobachtungen gegenüber. Ich nahm mir vor, künftig besser aufzupassen, die Nebenmenschen schärfer unter die geistige Lupe zu nehmen, da müßte sich oft Interessantes, Unerwartetes ergeben. Freilich im Gewühl der Straße, in der Berührung mit den Vielzuvielen läßt sich das nicht bewerkstelligen. Aber hier, im Bahnabteil zum Beispiel, wäre ein guter Experimentalboden; da könnte man einen unbekannten Mitreisenden, ohne daß er es merkt, längere Zeit studieren und aus den anscheinend nebensächlichen Aeußerungen seiner Persönlichkeit Rückschlüsse ziehen auf seinen Beruf, Charakter, auf die Besonderheiten seiner Existenz.

Ich saß aber, wie gesagt, ganz allein im Abteil und hatte zunächst keine Gelegenheit, meine detektorischen Absichten zu verwirklichen.

Nach etlichen Stationen änderte sich das Milieu. Zwei Herren stiegen ein und ließen sich mir gegenüber, am entgegengesetzten Fenster, auf der Polsterbank nieder. Sie nahmen von mir nicht die geringste Notiz, und das schien mir für meine Absicht recht zweckdienlich. Da hatte ich zwei Beobachtungsobjekte, an denen ich meinen Vorsatz erproben konnte. Hier hieß es also: In Symptomen denken!

Daß die beiden zusammen gehörten, war ersichtlich. Dies ergab sich schon daraus, daß der eine dem kontrollierenden Schaffner zwei Fahrkarten vorwies. Sie neigten nicht zu besonderer Gesprächigkeit, begannen indes doch nach etlichen Kilometern eine Unterhaltung in kurzen, durch erhebliche Pausen getrennten Sätzen. Sie sprachen leise und vertraulich, so daß nur hin und wieder ein zusammenhangloses Wort mir vernehmlich wurde. Um so besser für mein Vorhaben. Ich wollte nicht direkt erfahren, sondern ahnen, kombinieren und erraten.

Der eine war schlank, blond, glatt rasiert, trug schwarzgeränderte Harold-Cloyd-Brille, sein Nachbar hatte eine behäbige Figur, wohlwollenden Gesichtsausdruck, sein bräunlicher, etwas schütterer und leise angegrauter, Bart verlieh seinem Antlitz eine gewisse Würde.

Geschäftsfreunde? Berufskollegen? – das war nicht anzunehmen, Männer, die zwischen sich das Land gemeinsamen Fachs spüren, pflegen in der Unterhaltung bald auf einen Punkt zu geraten, wo sich die Interessen zuspitzen, und das merkt man an der erhöhten Akzentuierung der Stimmen. Hier aber verlief alles im sottovoce, die kurzen Gesprächsstücke waren kaum mehr als ein verlängertes Schweigen; die Voraussetzung einer Vergnügungsreise kam schon gar nicht in Betracht, und ich schloß daraus, daß ihr spärliches Geflüster von einem Geheimnis beherrscht wurde. Soweit hatte mich das Verfahren der Induktion schon gebracht.

Ich betrachtete den schlanken Blonden genauer, heftete mir vors geistige Auge eine besonders kräftige Lupe, und vertiefte mich in die Figur seiner Kopfbildung. Ich verfuhr dabei optisch-geometrisch nach der gültigen Methode von Camper, indem ich nach Augenmaß die Gesichtslinien zog: eine im Profil vom Ohr zum Oberkiefer, und von da die zweite Linie nach der Stirn. Der Winkel beider Linien beträgt beim normalen Europäer etwa achtzig Grad, allein bei meinem Gegenüber am Coupéfenster konnte ich visuell knapp fünfundsiebzig feststellen, höchst verdächtig! Eine stark zurückfliehende Stirn findet man in der Regel nur bei niederen Rassen, oder unter Kaukasiern bei den Degenerierten. Gerade in jüngster Zeit hatte ich Schriften von Lombroso, Liszt und Ferri studiert, und es war mir in Erinnerung geblieben, daß der kleine Gesichtswinkel sehr oft als Merkmal des Verbrechertyps auftritt.

Aber mit dieser Vermutung kam ich hier nicht durch. Denn wenn der Blonde ein Verbrecher war, so hätte auch sein Begleiter, der behäbige Braune, mit dem er auf dem Fuß der Vertraulichkeit stand, der nämlichen Kategorie angehören müssen, und das war vollständig ausgeschlossen. Nein, das Verdachtsmoment blieb durchaus auf den Blonden beschränkt, aber bei diesem um so sicherer, als er auch das charakteristische Zeichen der hervortretenden Backenknochen besaß. Nur daß sich nunmehr der Verdacht auf eine andere Spur lenkte. Denn jene Abweichungen vom Normaltyp treten ja nicht nur beim Verbrecher auf, sondern auch bei Personen mit ererbtem oder erworbenem Irrsinn. Es ist der Geist – unter Umständen der Geistesdefekt –, der sich den Körper formt. Das wußte ich nun wieder aus den Werken von Griesinger, Krafft-Ebing und anderer Psychiater, die mir in diesem schwierigen Fall zur Erleuchtung dienten. Es geht doch nichts über eine gediegene Bildung, wenn man verborgene Zusammenhänge erforschen will!

Jetzt also stand ich auf der gesuchten Fährte; noch ein bißchen wacklig, noch nicht völlig überzeugt, denn die konkludenten Wahrnehmungen genügten mir nicht zum Beweis. Aber ich hatte doch den Ansatz zu einer Wahrscheinlichkeit. Der schlanke Blonde konnte sehr wohl ein Irrsinniger sein, und hieraus ergab sich ungezwungen die Begriffsbestimmung seines Nachbars, den man ohne weiteres als Arzt auffassen durfte. Erstens sah der Braune ungefähr so aus wie ein Medikus, und zweitens erklärte diese Annahme auch das leise, konfidentielle Verhalten der beiden. Ich hätte gern gewußt, wohin sie reisten, denn das konnte meiner Vermutung vielleicht eine Stütze gewähren. Möglich war es ja, daß hier ein Gesundheitspfleger seinen irren Patienten in eine Heilanstalt brachte. Aber ihr Reiseziel blieb vorläufig im Dunkeln.

Inzwischen befestigte sich meine Diagnose durch ein merkwürdiges Strahlenspiel in den Augen des Blonden. Das konnte ich durch seine Augengläser hindurch ganz genau verfolgen. Der Herr war absolut nicht imstande, seinen Blick auf einen bestimmten Gegenstand auch nur drei Sekunden lang zu konzentrieren: das war ein beständiges Irrlichterrieren in diffusem Hin und Her, von der Coupétür zu meinen Fußspitzen, zum Griff der Notbremse, zum Hebel der Heizung, zur Hand seines Begleiters, direktionslos, unstet flackernd, und mir schien es dabei, als ob sich seine Pupillen abwechselnd erweiterten oder verengten, ohne optische Ursache. Auch das Benehmen des Individuums bot des Auffälligen genug. Jetzt öffnete er ein Etui, entnahm daraus eine Zigarre von ersichtlich köstlicher Herkunft, entzündete sie und warf sie nach zwei aromatischen Zügen aus dem Fenster. Jetzt zog er ein Zeitungsblatt aus der Rocktasche und hielt es verkehrt vors Auge, lauter Anzeichen einer Gestörtheit, von der es zunächst unentschieden bleiben mußte, ob sie als dementia praecox oder als paranoia juvenilis zu definieren war.

Mehrfach betrat er den Wagenkorridor, um zur Handwaschung die Toilette aufzusuchen. Regelmäßig folgte ihm auf dem Fuße der andere, dem offenkundig daran gelegen war, ihn nicht einen Moment aus der Kontrolle zu lassen. Immer enger liefen die Radien meiner Vermutung zusammen, ein Zweifel erschien kaum noch statthaft.

Jetzt meldete sich der Schaffner, um die beiden auf ihr Reiseziel aufmerksam zu machen: »Die Herren wollten doch nach Pirna? Nächste Station – in fünf Minuten!«

Dieser Zuruf mußte die Entscheidung des Problems bringen. Pirna? Was hat der Mitteleuropäer dort zu suchen? Für Ausflüge in die sächsische Schweiz war die Jahreszeit und das Wetter nicht im mindesten geeignet. Schnell nahm ich meinen Baedeker zur Hand und überflog das Wissenswerte in dem roten Allerweltsbuch: Pirna – schöne katholische Kirche – Bismarckdenkmal – Progymnasium – Fabriken für emaillierte Blechgeschirre – nein, diese Sehenswürdigkeiten kamen als Reisemagnete nicht in Betracht. Über eine Zeile weiter las ich: dabei Bergschloß Sonnenstein mit Landesirrenanstalt.

Also wie genial hatte ich meine Vermutungen vom weiten Umkreis her bis zum unausweichlichen Zentrum zusammenfließen lassen! Das war ein detektorischer Triumph. Kaum hielt ich es noch für nötig, weiter nachzuspüren und nur aus einem begreiflichen Mitteilungsbedürfnis heraus wandte ich mich nachträglich an den Schaffner, den ich durch einen gewichtigen metallischen Händedruck zum Gespräch stimmte.

»Bitte, können Sie mir vielleicht zufällig sagen, wer die beiden Herren waren, die in Pirna ausgestiegen sind?«

»Das könnte ich schon, aber ich darf nicht. Ich weiß es nämlich vom Zugführer, dem die Herrschaften behördlich gemeldet worden sind, und so was ist Dienstsache mit Amtsverschwiegenheit.«

Ich erneuerte den metallischen Händedruck und ergänzte: »Eigentlich weiß ich ja schon, wonach ich frage. Ich war nämlich durch gewisse Beobachtungen zu dem Schluß gekommen, daß der blonde Herr mit der Brille ein Geisteskranker ist, der von dem andern zur Anstalt Sonnenstein gebracht wird.«

»Donnerwetter!« rief der Schaffner. »Sie sind mir aber ein Schlauer. Und so ziemlich stimmt's ja auch. Also, weil Sie's schon wissen: Jawohl es war ein Krankentransport. Bloß ein kleiner Irrtum ist Ihnen dabei passiert: nämlich der Blonde mit der Brille, das ist ein Anstaltsdoktor; und der andere, der Untersetzte mit dem braunen Bart, bei dem ist im Schädel eine Schraube locker!«

 


 


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