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7.
Die Blume des Ghetto

Zu Mantua sah es ganz wieder aus, wie zur Zeit des tiefsten Friedens.

Seit der »eiserne« Grozkowisky die Maulrevolution der Mantuaner gebändigt und die Ruhe erzwungen hatte, erklang auf den Pflastersteinen, die damals ein kurzes, unschuldiges Spiel als Barrikaden mitgemacht, statt dem trabenden Kotburn der »Liberatori« wieder der gemütliche Soccus des Handels und Wandels; was früher die Bluse trug und den »Ernani« und die Büchse, ging wieder recht modest im Bratenrock und Zylinder, und handhabte Elle und Handwerkszeug.

Und im Ghetto unten, bis weit hinab an den See wimmelte es wieder von Käufern und Verkäufern zwischen den Buden und Läden der klugen Kinder Israels. –

Nur ein Haus des Judenviertels stand still und verschlossen inmitten des lärmenden Marktes, das Haus Abrams vom See.

In dem Gemache, das sonst seine Tochter bewohnt hatte, waren die Vorhänge zugezogen, als wollten sie der goldenen Abendsonne wehren, ihren warmen Strahl in den öden Raum zu werfen, und kein Lebenston drang herauf und herein von der Industrie durchäderten Ghettogasse, als das ferne, einförmige Rauchen des Sees, der noch immer das alte Handwerk trieb, seine Wogen an die blank gewaschenen Quaderterrassen zuzuwälzen.

Im Hintergrund des Gemaches lag auf einem niederen, nach morgenländischer Art gebauten Ruhebette eine dunkle, zusammengekauerte Gestalt, die Abrams. Sie bewegte sich nicht.

Doch plötzlich zuckte sie wie schmerzlich zusammen und erhob den kahlen, mumienartig braunen, spitzen Kopf, auf dem ein eng anliegendes Samtkäppchen saß, und horchte gegen die Türe hin.

Auf dem Korridor draußen hörte man leise, behände Tritte sich nahen.

Der alte Jude setzte sich seufzend auf und starrte gegen die Türe hin, die sich geräuschlos öffnete und seinen Knecht einließ.

»Nun sprich, Du sprichst nicht, Aaron!«, rief Abram dem Eintretenden entgegen.

Dieser schritt, ohne zu antworten, auf den Alten zu, neben dem er sich niederließ, ihn lange mit einem finsteren Blicke ansah und dann sprach: »Es hilft nichts!« – worauf er den Kopf zwischen die Hände nahm und schmerzhaft stöhnte und seufzte.

Der alte Jude sank mit einem heiseren Schrei wieder in die Kissen zurück, und es ward wieder stille in dem Gemache, nur dass zu dem Rauschen des Sees das schwere Atmen zweier leidbedrückter Menschen kam.

Auf einmal erhob sich der Alte wieder mit einem hastigen Rucke, und die dürre Hand gen Himmel hebend, rief er keuchend: »So möge das Licht der Seele verlöschen und der Leib zerfallen, der Reb Abram hieß, dieweil der Stern seines Lebens versinken will in Todesnacht! So mögen diese Augen erblinden und diese Lippen verdorren, die nicht mehr sehen sollen die Blüte seines Kindes und sich nicht mehr auftun zu sagen, der Segen Gottes und sein Friede über Dir!«

Der Knecht ließ die rauen Hände langsam sinken und erhob das bleiche Gesicht zu dem Juden: »Was willst Du, Abram, und was fluchest Du?« sprach er feierlich, »ist Deine Trauer größer als die ihre?«

Der alte Jude sah stier vor sich nieder und sagte mit singendem Tone: »Wäre sie gestorben, läge sie draußen an der Seite Sarahs, ihrer Mutter, im Beth-Chaim unserer Väter, aber sie lebt, sie blüht holder als die Rose Sarons und will nicht leben!« Er schluchzte laut und bitterlich.

Aaron sprach: »Was fühlst Du Deinem Kinde nach den Pulsen des Herzens, das gestorben ist? Hat sie das Recht zu trauern nicht, da des Todesengels Fittich ihres Liebsten Schläfen berührte, oder meinst Du, das Herz der Jüdin frage, ob es nur trauern dürfe an den Gräbern im »Hause des Lebens« unserer Väter? Hoffst Du nicht auch, dass einst die Stunde kommt der Vergeltung, wo unseres Volkes einiges Beth-Chaim wieder reichen wird von Meer zu Meer?«

Abram starrte lange vor sich nieder, dann fragte er plötzlich und rasch: »Was sagte sie?«

Das Antlitz Aarons überflog ein dunkles Rot bei dieser Frage; er rang nach Atem und bedachte sich einen Moment, ehe er antwortete: »Sie lebe – den Toten, dem sie sich zu Eigen gegeben an jenem Tage, wo er sie aus des Todes Nacht getragen in den Strahl des Lichtes!« Da riss Abram den Kaftan heulend auseinander und schrie: »So reiß' die Klingel ab an meiner Türe, dreh' ab den Schlüssel in dem Schlosse und trage meines langen Lebens blutigen Schweiß, das Gold, das ihr ich häufte, trage es hinab und versenke es in des Sees Fluten! Mir aber bring' das Totenhemd, denn ich –«, er hielt plötzlich inne, denn unter seinen Worten hatte sich leise die Tür aufgetan, und herein schritt Gela, die Blume des Ghetto, die prangende zur weißen Rose geworden.

»Was schiltst Du, Vater!«, fragte sie sanft.

Abram sah sie wild und ingrimmig an: »Wer wäre Dein Vater? Ich? Hihi!« und er rieb sich mit irrsinnigem Lachen die Hände.

»Was wollt Ihr Vater? Aaron wollte es mir nicht sagen!« sprach Gela mit scheuem Tone.

»Nicht, nicht?« rief der Alte, aufspringend und seines Kindes Hand ergreifend: »Höre, mein Kind, zum letzten Male höre sie, die Stimme Deines Vaters!«

»Ich höre!« lispelte die Jüdin.

»Ich werde gehen, bald hinüber in das Land der Seligen, ich ertrage diesen morschen Leib nicht länger; sag' an: Wie soll ich schließen die Augen, deren Trost und Stolz Du wärest? Wie soll ich ruhig niederlegen den Leib ins enge Grab, wenn Du allein bleibst droben, allein ohne Schutz und Schirm, ohne Gatten?«

Aaron trat rasch an den Juden und zog ihn zurück! »Ich, Gela, meine Schwester!«, sprach er, »ich will es Dir sagen, was Dein Vater will: Du sollst mich zum Manne nehmen!«

»Dich? O mein Bruder!«, rief Gela mit freundlichem Lächeln und legte ihre zarte, weiße Hand in die schwielige des Knechtes.

Der alte Jude sah dem Treiben der beiden mit weit aufgerissenen Augen zu: »Was soll das, Bruder, Schwester?«

»Lasst Euch erzählen, Vater!«, sagte Gela heiter, »Ihr wisst, dass ich einst geschworen, die Seine zu werden, wie er wolle. Als er starb, – erlasst mir das, ich bin seine Witwe. Und dass ich nicht verging vor Jammer an seinem qualvollen Krankenlager, an seinem offenen Totenschreine, an seinem Grabe, danke ich Aaron, meinem Bruder, der mich mehr liebt als sich, und er die Blüten, die die Liebe zu mir aus seinem öden Herzen trieb, freudig auf das Grab meiner Liebe legte, als ich ihn bat, seine Schwester sein zu dürfen für das Leben!«

Der alte Jude lächelte schlau, und heimlich kichernd schlich er wieder an das Ruhebett, ohne mehr ein Wort zu sprechen. –

»Der Abend ist schön, willst Du nach dem Friedhof hinüberfahren, Gela?« fragte nach einer kurzen Pause der Knecht.

Die Jüdin hüpfte mit einem dankbaren »Ja« davon, und eine Minute darauf durchschnitt ein leichter Kahn, von Aarons starker Hand gerudert, die blaue Seefläche. –

Was drängt das Volk von der Zitadelle her der Brücke zu! Flüche und Verwünschungen erschallen hinter einem jungen, weiblichen Wesen, das mit fliegender Hast dem See zu flieht! »L' Orca! L' Orca!« erbraust es drohend aus dem Menschenschwalle, meist aus Soldaten bestehend, der hinter dem Weibe einherrast.

Ein alter Soldat von »Kinsky« voran, mit dem ewigen Rufe: »Fangt sie, sie hat meinen guten Herrn bezaubert und ermordet in Venedig! Fangt sie! Steinigt sie!«

Doch das Weib hatte einen großen Vorsprung, und die Brücke, weil gegen die Stadt abgesperrt, war völlig leer.

Doch nicht der Brücke zu, nach dem See rennt das bleiche, verfolgte Weib, und die großen, starren Augen schauen schon von der Terrasse aus flehend hinab zu den brausenden Wogen, als wollten sie fragen, ob sie wohl eine Verlassene gastlich aufnehmen und umfangen wollen mit den nassen Armen!

Und die Wellen schäumen, rauschen, locken und hüpfen an dem Ufer empor, als ob sie riefen: »Komm', o komm' herab in unser grünes Bett, Du armes, gejagtes Menschenkind! Wir haben viel Perlen drunten für Dich und weiches, grünes Moos! Komm!«

Das Weib springt die Terrasse hinab und über die Piloteneinfassung, da fasst sie ein kräftiger Arm, sie fühlt sich gehoben und getragen und – nichts mehr weiter.

Eine Ohnmacht verschleiert ihre Sinne.

Aaron war's, der die Verfolgte auffing, als sie vor Menschen floh in die Arme des Wellentodes.

Er hatte gerade an dem Ufer angelegt und wollte Gela ihre tägliche Wallfahrt nach dem Grabe Ernsts in dem Friedhofe der Zitadelle antreten, als er die verzweifelnde Gestalt dem See zustürmen sah.

Vor dem hatte er sie bewahrt, ob aber seine Kraft ausreichen wird gegen ihre Verfolger?

Sein Nachen war noch keine Schussweite vom Ufer, als die verblendete, abergläubische, blutdürstende Meute sich schon an dem Ufer hin ergoss, sich der dort ankernden Pontons bemächtigte und zur Verfolgung anschickte.

»Ho, da holt Ihr mich nicht ein!«, lachte Aaron, als er die Anstrengungen sah, die seine Verfolger machten, um die schweren, tiefgehenden Boote in See zu bringen; »Bespritze sie mit Seewasser, sonst vergeht die Arme!« rief er der Jüdin zu, die das blasse Haupt der Ohnmächtigen in ihrem Schoße und ihren Augen mit tiefer Teilnahme an die schönen Züge des Weibes geheftet hielt.

»Wer muss sie sein?«, fragte sie leise.

»Ein Menschenkind, verfolgt und gejagt – wie Israel!« sagte Aaron mit Bitterkeit. »Doch was fangen wir mit der Frau an? Wo bergen wir sie vor dieser Rotte Korah?« setzte er nach einer Pause hinzu.

»Wohin anders als in unser Haus!«

»Sie ist eine Christin!«

»Aaron, Du nanntest sie ein armes, verstoßenes Menschenkind und –«

»O, du irrst, Gela! Ich sage dies darum, weil ich nicht glaube, das Haus eines Juden sei je stark genug, um einem Christen zum Asyl zu dienen; denke der alten haarsträubenden Sagen unseres Volkes, die uns der Bochar erzählte –«

»Nein, nein, Aaron! Das sind eben nur Sagen und aus alter Zeit, lege nur beim Hause an; ich werde es bei dem Vater verantworten!«

»Wie Du glaubst!«, sagte Aaron kurz und stieß den Nachen an die Terrassenstufen an. Mit einem stolzen Blicke sah er nach seinen Verfolgern zurück, sie waren noch auf der Höhe des Sees.

Er nahm die Gerettete, die noch immer bleich und mit geschlossenen Augen dalag, auf den Arm und trug sie in das Haus.

Das Ghetto lag bereits still und verlassen, der Abend war angebrochen.

»Wen bringt Ihr da, was ist's Aaronleben?«, fragte der alte Jude erstaunt, als er diesen mit der sonderbaren Last eintreten sah.

»Ein Weib, das abkürzen wollt den Faden ihrer Tage und vor Menschen flüchten in den tiefen See!«, entgegnete der Knecht; »so viel ich flüchtig hörte, klagt sie ein Soldat der Zauberei an und des Mordes –«

»O blicket her, Vater, in dies schöne, edle Antlitz und saget nein! Saget nein!« rief die Jüdin in edlem Eifer.

Als der Jude sich dem Weibe näherte, schlug es gerade die Augen auf, schöne, große, verwunderte Augen, die starr an dem gefurchten, dunklen Antlitze Abrams hängen blieben, der leise flüsterte: »Erschrick nicht, mein Kind, Du lebst!«

Und das Weib rief plötzlich wie als Antwort auf des Juden Worte mit schmerzlichem Tone: »O, warum ließet Ihr mich nicht sterben?«

Während Gela die Fremde aufzurichten und zu trösten suchte, zog Aaron den Alten an das Fenster, dessen Vorhänge er zurückzog, und auf den See hinweisend, rief er: »Seht hin, Reb, das gilt uns!«

»Hm, uns? Und sind es lauter Soldaten?«

»Gesindel dabei, wie es in der Zitadelle sich immer lungernd herumtreibt!«

»Meinst Du, dass sie kommen, Aaron, dass sie das Ghetto angreifen?«

»Das Ghetto nicht, Reb, aber Dein Haus, denn sie sahen mich ihre Beute da verbergen!«

Abram blickte eine Weile nachdenklich vor sich nieder, dann rief er rasch: »Dein Ring, Aaron, das Andenken des Kommandanten!«

»Bei Gott wahr, ich fahre nochmal in die Zitadelle!«, sagte Aaron eifrig, »öffnet nur das Fenster nicht!« – Einen Augenblick darauf tanzte sein Schifflein bereits wieder auf der Höhe des Sees in einem weiten Bogen um seine Verfolger herum und vorüber. –

Und eine Weile darauf ergoss sich ein Schwarm von Soldaten, Weibern und zerlumpten Männern, alle brüllend mit dem Rufe: »L' Orca, gib sie uns heraus, Hebräer!« in die Ghettogasse und vor Abrams Haus.

Die furchtsamen Kinder Israels verkrochen sich in ihren dunklen Stuben und seufzten und hielten wie immer die Wange hin zum Streiche. –

Während die wilde Meute im Ghetto das Haus Abrams vom See mit Steinen bewarf und lärmend umtobte, hatte Aarons Schifflein den See durchflogen, und bald stieg er mit geflügelten Schritten die Stufen zur Zitadelle hinan.

Der Ring, den Gorzkowsky dem treuen Führer des Regiments Este in jener dringenden Not gegeben, mit dem Wunsche, ihm je anders vergelten zu können, öffnete ihm schnell die Tore der Kommandantur, und wenige Augenblicke darauf jagte die Eskadron des Ulanenbiquets, das auf Bereitschaft in der Zitadelle stand, mit verhängten Zügeln über die Brücke hinab, dem Ghetto zu. –

Hui, wie das kreischend und schreiend zerstiebt nach allen Seiten, als die glänzenden, schlanken Polensöhne ihre Rösslein traversierend hineinjagen in den Schwarm des Gesindels!

Der flache Säbel klatscht schlagend nieder über die Schulter der zerlumpten Facchinos, der Lazzaroni Oberitaliens!

Die Weiber werden verjagt, die Soldaten festgehalten, und bald darauf zieht das Biquet, das Häuflein der Ruhestörer in der Mitte, wieder hinauf, der Zitadelle und dem Gerichte zu. –

»Hast Du denn wirklich etwas verbrochen, schöne Fremde, dass die da Deinen Tod wollten?«, fragte Gela schüchtern.

»Ich habe Verrat an der Liebe begangen!«, war die leise, traurige Antwort. –

Tags darauf verließ das arme Weib das Haus des Juden an der Hand der Ghettoblume, die es bis zu einem großen, stillen, Hospital ähnlichen Gebäude in der Contrada S. Martino begleitete; das Weib trat ein, und die Jüdin kehrte weinend heim.

Das Gebäude war das Lazarett des freiwilligen Ordens delle Fatebenesorelle! »Ihr tut wohl Schwestern«, eine Abart der Soeurs grises.


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