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2.
Café Cova.

Fast um dieselbe Stunde drängte sich durch die dichten, lärmenden Gruppen, die das Café Cova umschwärmten, eine merkwürdige Gestalt, geführt von einem halb erwachsenen Jungen, und nahm an dem Fenster neben der Salontüre Platz.

Es war ein Mann, oder vielmehr die Ruine eines Mannes, dessen Kraft und Form eine schwere Krankheit vor der Zeit gebrochen zu haben schien; denn die breite, kräftige Brust, die starken, vollen Arme gehörten dem blühenden Mannesalter an, während der gekrümmte Rücken, der sich schleppende Gang, vor allem aber die erblindeten, von einem grünen Schirm überdachten Augen jene Hilflosigkeit beurkundeten, die das Scheiden vom Leben mit dem Tode zu vermitteln pflegt.

Der Blinde trug einen weiten, braunen Mantel und einen Hut von der Façon, die damals schon beargwöhnt, als Kennzeichen einer politischen Clique zu dienen, später unter der Benennung »Ernanihüte« streng verpönt wurden. Er hatte kaum seinen Sitz eingenommen und eine Tasse Kaffee geleert, als er seinen jungen Führer auf eine Zeitungsrazzia aussandte, die bei dem Umstande, dass sämtliche Gäste des Cafés sich ausschließlich in leidenschaftlich erregten Gesprächen ergingen, so lohnend ausfiel, dass der Bursche ohne allen Widerspruch einige Tische voll Journale abräumen konnte und einen förmlichen Berg von Neuigkeiten vor dem Blinden auftürmte.

»Lies, Jacopo!« sagte dieser hastig, »was immer für ein Blatt, nur vom neuesten Datum!«

»Hier, Herr, die Gazetta di Roma vom St. Sylverstertage«.

»Ah die! Gut, suche einen Artikel vom bravsten Manne der Blouse, von Cicernachio! Hast Du einen?«

»Ja, Herr! Er ist überschrieben: »Sù Italia!«

»Bravo! Sù Italia! Lies, lies!« – und der Blinde legte, wohl um besser zu hören, seinen Kopf auf den Tisch, indem er den Hut zurück und den Augenschirm in die Höhe schob.

Der Knabe las, und zwar einen Artikel aus der Feder des bekannten römischen Demagogen, überströmend von Poltronerien und groben Invektiven gegen Österreich, also ganz mundgerecht für jene unheilschwanger Zeit und deren verblendete Kinder.

Indes wurde es am Buffet des Cafés immer lauter, immer stürmischer. Dort stand neben dem dicken, geschwätzigen Cafétier eine auffallend lange hagere Gestalt, in einen kurzen, grauen Surtout gehüllt, augenscheinlich der Wortführer in dieser lärmenden Gruppe.

Er hatte eine lange Papierzigarre (Zigaretto) in dem rechten Mundwinkel, die er selbst beim eifrigsten Sprechen nicht herausnahm, er schien Rauch und Flammen zu speien beim Sprechen, und es war dies Accompagnement bei ihm auch durchaus am Platze, denn er sprach nicht zehn Worte, ohne Hölle und Tod auf die »deutschen Barbaren« herabzufluchen. Merkwürdiger Weise war sein Nachbar, und zwar sein so naher, dass nicht einer der tausend Flüche, die auf Österreich geschleudert in seiner Rede sich jagten, ungehört an ihm vorüber konnte, ein österreichischer Soldat, und zwar ein Oberjäger. Es war ein junger Mann und wie die Mannschaft seines ganzen Bataillons geborener Italiener. Es musste einer jener ehr- und pflichtvergessenen Soldaten sein, die durch die hohlen Phrasen der alten, unverbesserlichen Revolutionsmacher gewonnen, den Ausbruch einer Bewegung begünstigten und befördern halfen, die das Land mit Blut und Trümmern, sich selbst aber mit der Schande des Meineides bedecken sollte; denn er hörte lächelnd und zustimmend Worte, die keines ehrlichen Soldaten Wehr in der Scheide gelitten hätten.

Um diese beiden stand in dichten Reihen eine Menge jener aristokratischen Flaneurs, die nur Italien in solcher Abondance produziert, alle voll Aufmerksamkeit den Berichten des Hageren lauschend, der, heute von Bellinzona aus dem Tessin gekommen, im Besitze von Neuigkeiten war, die einer Zeitung anzuvertrauen, vor der Hand noch nicht rätlich war. Er erzählte von den Rüstungen in Savoyen und Piemont, von den massenhaften Zuzügen patriotischer Freischaren an die Grenze und von den großartigen Vorbereitungen, die unter Mazzinis Leitung getroffen würden, um endlich einmal, und zwar zum entscheidenden letzten Male den Kampf aufzunehmen mit Österreichs Aar auf Italiens roter Erde.

Ihm wurde dafür gegenberichtet, wie weit es in Mailand, Padua, Como und Brescia gediehen mit der Exaltation der Massen und der Korruption der Bediensteten. Sämtliche Männer rauchten bloß Zigarettos, gehörten demnach den Verschworenen gegen die beiden Staatsmonopole des Lotto und Tabakes an.

Die Unterredung wurde trotz ihrer gefährlichen Tendenzen so laut und rücksichtslos geführt, dass man anzunehmen gezwungen war, die Gäste dieses Lokals seien solidarisch, wenn nicht beteiligt, so doch vertraut mit den Plänen der jungitalischen Propaganda.

»Jakopo, mein Junge!« flüsterte seinen Vorleser unterbrechend der Blinde, indem er seine Hand auf dessen Arm legte, ohne den Kopf vom Tische zu erheben: »Siehst Du den langen, dürren Kerl im grauen Überwurf, der dort an der Credenz schwadroniert?«

»Ich sehe ihn!« war die ebenso leise Antwort des Burschen, der nicht die mindeste Verwunderung bezeugte, den Blinden eine Person so genau beschreiben zu hören, die allem Anscheine nach fremd und durch die ganze Länge des Salons von diesem entfernt stand.

»Nun, mein Junge«, fuhr der Blinde fort, »gehe hin und suche seinen Namen zu erfragen – vorsichtig Jacopo!«

Der Bursche stand still vom Tische auf und huschte unbeachtet durch den Salon bis an die Gruppe am Buffet.

In diesem Augenblicke kam ein sehr elegant gekleideter junger Mann hastig vom Corso her auf die Gruppe um den Hageren zu: »Gracia al cielo! Marco Creppi!« rief er diesem von Weitem zu und flog in seine Arme.

»Ah – ah! Gut! Marco Creppi heißt er und kommt von Tessin her! Jetzt werden sie es doch glauben«, flüsterte der Blinde vor sich hin und erhob den Kopf ein wenig vom Tische.

»Signore!« sagte leise Jacopo, der bereits wieder an seiner Seite saß, »er heißt –«

»Ich weiß es bereits!« unterbrach ihn der Blinde und neigte sich tiefer zu dem Ohre des Burschen: »Du musst noch einmal hin, mein Junge, gib acht: dort auf dem kleinen Tischchen liegen ein Haubajonett und ein Hut. Im Sturmbande des Hutes und im Überschwungriemen des Bajonettes werden Name und Compagnie-Nummer jenes Oberjägers stehen – die merke Dir gut und sage sie mir – mich triffst Du an der Ecke des Theaters della Scala – geh, geh – ich habe anderes zu tun.«

Der Knabe huschte abermals durch die Menge hin, die sich plötzlich gegen den Gasseneingang des Cafés zudrängte.

»Hora ruit! Meine Freunde, wir werden erwartet!« rief mit schallender Stimme der zuletzt angekommene der Gäste und trat an der Hand des Hageren unter das Dach der Veranda vor dem Café.

»Evviva Italia! Evviva l' unione!« erscholl es hier rings aus dem Publikum, das in dichten Haufen vom Theater an bis an die Ecke der Contrada del monte das Café Cova umflutete. Es hatte seit einigen Augenblicken seine friedliche Physiognomie ganz verändert, auch waren dessen Elemente ganz andere geworden, als die vor einer Stunde noch um das Haus flanierten. Wilde, trotzige Gestalten mit dicken Knitteln in den Fäusten und die kurzen Dolche vor der Brust, mit roten Halsbinden und Trikoloren an den Hüten waren aus allen Seitengassen und besonders von der Porta nuova her gegen das Café geströmt. Wie das Meer mit zürnendem Tosen an die Felsen des Ufers, so schlugen die Wogen dieses empörten Menschenschwarmes gegen den Vorbau des Cafés, auf dem nun der Hagere und seine Umgebung vortrat und nach einem leichten Gruße gegen die Menge einen breiten Ledergürtel öffnete, den er um den Leib geschnallt hatte, und eine Hand voll Silbermünzen herauszog, die er unter die mit Evvivagebrülle an ihm herandrängende Pöbelmasse verteilte. Seine Begleiter taten desgleichen, um dem gewaltigen Andrange abzuwehren. Immer neue Scharen, immer trotzigere Gestalten traten aus den Gassen und Portiken vor, um den Sündensold in Empfang zu nehmen, den eine wahnwitzige Partei auf den »Altar des Vaterlandes« gelegt zu haben glaubte, als sie damit dem Raube und Morde, dem Verrate und Meineide Tür und Angel öffnete.

Während dies vor dem Café sich zutrug, hatten die wenigen Gäste, die noch im Salon geblieben waren, sich neugierig dem Ausgange und dem Platze zugedrängt, wo soeben noch der Blinde saß.

Der Platz war leer – auf dem Boden lag ein grüner Augenschirm.

Durch die Menge aber, die die Salontüre versperrte, bahnte sich eben ein Mann barsch den Weg, ein Mann im braunen Mantel und Ernanihute, ähnlich zum Verwechseln mit dem Blinden, wäre sein Wuchs nicht ein so mächtig hoher, sein Auge nicht ein mutig funkelndes gewesen. Er trat auf die Veranda hinter den Hageren und hielt diesem die flache Hand mit den lakonischen Worten hin: »Eccomi, Padrone!«

Der Hagere wandte sich um und nach einem beifälligen Blicke auf das entschlossene Gesicht und den kräftigen Bau des Mannes ließ er einige größere Silberstücke in dessen offene Hand gleiten.

»Per bacco! In buon ora!« rief der Mann wie erfreut über die reiche Gabe und sprang mit einem kühnen Satze über die Marmorbrüstung der Veranda mitten in die Straße, die er eifrig verfolgte dem della Scala zu.

An dem Portale des Theaters angekommen, rief er einem der dort haltenden Fiaker, der alsbald schnell wendend vor ihm hielt.

»Alla direzione generale di Polizia!« sagte der Mann im Ernanihute und setzte den Fuß auf den Wagentritt.

Doch schien er sich plötzlich auf etwas zu erinnern; er sah scharf nach allen Seiten hin, dann ließ er einen feinen, langen, eigentümlichen Pfiff erschallen.

In selbem Augenblicke sprang von der Ecke des Theaters her ein kleiner Bursche an die Seite des Mannes.

»Nun, Jacopo?« fragte dieser hastig.

»Der Soldat heißt Stefano Perote und ist von der 2. Compagnie«, war die Antwort des Knaben.

»Bravo, mein Junge! Du kannst mich hier herum wo erwarten, längstens in einer Viertelstunde bin ich zurück!« sagte mit leuchtendem Gesichte der Mann, während er in den Wagen stieg; dann steckte er den Kopf durch das vordere Fenster und rief dem Fiaker zu: »Hoi fratello! A pallazo des Commando militare!«

Der Wagenlenker hieb in die Pferde, und das Gefährt rollte pfeilschnell dem Corso des carmine zu.

Hätte der Mann im Wagen aber das Gesicht des Fiakers gesehen, als er den Knaben den Namen des Soldaten nennen und den Mann die veränderte Weisung, »zum General-Commando« erteilen hörte, er wäre gewiss nicht so vergnügt lächelnd im Fonde des Wagens gelegen, die erhaltenen Silberstücke auf der Hand: »Bei Gott! Gut zahlen sie! Vier Scudi nuovi – ob sie mir's wohl noch nicht glauben? Also Stefan Perote heißt der eine – der andere Marco Creppi der Lange – der Rendant Mazzinis; die dürften wohl manches Stücklein zu erzählen wissen! Ah – da bin ich –«, der Mann sprang aus dem Wagen und befahl dem Fiaker einen Augenblick zu warten, er müsse unverzüglich zum General-Polizeidirektor, Baron T. –

Der Fiaker nickte zustimmend mit dem Kopfe – als aber die Gestalt dessen, der ihn gedungen, zwischen den Schildwachen im Portale verschwunden war, wandte er rasch den Wagen und fuhr im Carriere denselben Weg zurück, aber an seinem Standort beim Theater vorüber bis zum Café Cova, brach sich mühsam Bahn durch die, noch immer auf- und niederwogende Menge, sprang vor dem Café vom Bocke und rief den Cafétier.

Verwundert und schwerfällig kugelte sich dessen dicke Gestalt bis an die Lehne des Vorbaues.

»Herr«, begann atemlos und drängend der Fiaker, »verließ nicht soeben ein Mann, auffallend stark und muskulös, in einem weiten, braunen Mantel, das Café?«

»In einem braunen Mantel!« wiederholte nachsinnend der dicke Wirt, »Ah! Ein Blinder!«

»Pah Blinder!« entgegnete unmutig der Fiaker, »er sieht und hört wohl besser und mehr als Ihr und ich – das ist nichts! – kennt Ihr einen gewissen Stefano Perote?«

»Wohl, wohl, mein Sohn! Was soll's mit dem? Er ist Soldat?!« antwortete gespannt der Cafésieder.

»Nun Meister«, flüsterte sich enger an die Mauer drückend, der Fiaker, »solltet Ihr diesen Stefan Perote irgendwo zur Hand haben, so sagt ihm, dass in diesem Augenblick ein Befehl gefertigt wird, der ihm nichts geringeres bescheren mag, als einen Strick oder die Kugel – ich fuhr soeben seinen Denunzianten ins General-Commando!«

Der dicke Wirt wurde leichenblass und hielt sich krampfhaft an der Marmorlehne der Wand: »Deh! Deh! Per amore del cielo!« stöhnte er, »davvèro, davvèro!?«

»Ja, Meister! Es ist, wie ich sagte!« bestätigte der Fiaker; und mit einem finsteren Blicke fuhr er fort – »aber versteckt nur den Soldaten, den Angeber bringe ich Euch her, ehe zehn Minuten um sind. Er hat wohl noch mehr zu berichten, denn er bestellte mich wieder – er will zu Baron T. Also, Coraggio! Ich liefere Euch den Schurken her! Macht Anstalt danach und merkt meine Nummer – 67 ist's!« damit wandte sich der Fiaker, bestieg den Bock und fuhr, so schnell es ging, durch die überfüllte Straße dem General-Commando zu.

Er stand kaum eine Minute vor dem Portale, als der Mann im braunen Mantel aus dem Palaste trat und mit zufrieden lächelnder Miene in den Wagen stieg. »Sù! Via!« rief er dem Fiaker zu.

Dieser ließ die Zügel schießen, während er aus den höhnisch verzogenen Lippen halblaut hervorstieß: »Sù? – al diavolo, tradditore!«

*

Unmittelbar nach dem Wagen schritt eine acht Mann starke Patouille denselben Weg gegen das Café Cova.


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