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10.
Rekrut und Veteran.

In einem Stübchen der Contrada larga saß ein junger Mann allein an dem Fenster, bemüht, bei dem letzten Aufflackern des versinkenden Tagesgestirns eine Broschüre zu Ende zu lesen.

Er war jung, hübsch, Soldat und wie die schwarz und gelbe Schnur anzeigte, die den Lederdeckel seines Czako begrenzte, Gefreiter in der Infanterie.

Es war Jacopo, der Rekrut, der bereits die erste Stufe zur »Leiter aller Macht«, wie das alte Lied sagt, erstiegen hatte.

Er war nicht leicht mehr zu erkennen, der flanierende Junge von damals, so schmuck und ernst saß er jetzt da in dem Stübchen seiner Mutter, deren Herz die stolzesten Hoffnungen schwellten, wenn sie ihren Eingeborenen sah, ganz das Bild des Seligen, wie er sie erobert hatte vor fünfundzwanzig Jahren mit Hilfe einer schlanken Taille und »zweierlei Tuch«.

Was Jacopo las, schien ihm keineswegs zu behagen, soviel ließ schon das unzufrieden knurrende Brummen desselben während des Lesens erkennen und bestätigte vollends der Fluch und die Rage, mit der er die Broschüre nach Überlesung der letzten Seite zu Boden warf.

»Pfui Teufel!« rief er zornrot in dem feinen Gesichte, »und das wagt er mir zu bieten, anzuempfehlen und will sogar meine Meinung darüber hören, mein eigener, bluteigener Oheim – na! Er soll sie hören meine Meinung, ich will sie ihm sagen, dem alten Ischarioth.« –

Die Türe öffnete sich leise und behänd und ließ den freundlichen Kopf der Kollektantin sehen. »Was ficht die an, Jakob, Du sprichst mit Dir selber?« fragte sie lächelnd.

»Ei, mit Euerem ewigen Gewasche und Gekoche! Mit wem soll ich denn reden, wenn Ihr den ganzen Tag in der Küche hantiert?« war die trotzige Antwort.

»Ei du lieber Gott! Was der Bub' hat? Bin ich nicht schon zehnmal da gewesen und immer saß der gestrenge Herr Gefreite da in tiefem, ernstlichem Lesen, wie der Podesta am Ratstische, ohne sich um die arme, unwissende Mutter zu kümmern!«

»Pah, unwissend! Mütterchen, das ist nichts – eigentliche gerade gefährlich für Unwissende; aber obwohl ich nicht zu den Gescheitesten gehöre, kenne ich doch so viel, dass dieses Schandbüchel nirgend anders hingehört, als wo es jetzt liegt – daher – daher –«, sagte Jakopo mit flammenden Augen und setzte den Kamaschenschuh kräftig auf das Pamphlet.

Ehe die Mutter den Grund der Entrüstung ihres Sohnes erfahren konnte, ward sie zum gänzlichen Eintritt ins Zimmer durch das Ankommen eines Gastes gezwungen, der eilig über die Stiege herauf rannte und so sans façon ins Zimmer trat, dass man annehmen musste, er habe ein Recht, hier so ohne Umstände aufzutreten.

Und so war es. Es war der Bruder der Kollektantin, ausgedienter Soldat und gegenwärtig Besitzer einer Boutique neben dem Palazzo Boromeo. Eine eigene, seltsame Gestalt dieser Wirt, jedenfalls von nicht empfehlendem Äußeren. Er war untersetzt, mit breiten Schultern und einem auffallend dicken Kopfe. Sein Gesicht war nur in groben Zügen ausgebildet; der breite Mund, die fleischigen Lippen, das Doppelkinn verrieten, dass hier der Geist eine untergeordnete Rolle spiele, auch wenn dies die eckige, niedere Stirn und das runde, graue Auge unter den buschigen Brauen nicht bestätigt hätte. Dennoch aber war in diesem Gesichte eine große Festigkeit des Charakters ausgeprägt, aber eines falschen, unheimlichen Charakters.

Seine Erscheinung stand im auffallendsten Kontraste zu der seiner Schwester, die man beim ersten Anblicke ohne weiteres unter jene Gattung Leute rangieren konnte, die man mit dem Namen »einer gute Haut« bezeichnet.

»Nun – und was mein Kind?« fragte der Wirt, leicht erbleichend, als er gewahrte, wie trotzig der junge Soldat ihm die zerknitterte Broschüre mit dem Fuße entgegenstieß.

»Ihr wagt es noch zu fragen, was?« polterte Jakopo grimmig heraus, wär't Ihr nicht der leibliche Bruder meiner lieben Mutter, so schmisse ich Euch bei Gott durch das Fenster auf die Gasse – das tät ich Euch bei Gott, denn Ihr verdient nichts anderes –«

»Hilf, Himmel, was muss ich hören? Du gottvergessenes Kind, was ist denn das! Was hast Du denn mit Paul?« fragte erstaunt und erschreckt die Frau den jungen Soldaten.

»Paul –?« sagte dieser rasch und voll bitteren Hohnes, »Paul? Ein Saulus ist er, ein österreichischer, der Onkel, und da muss wohl auch Gott Zeichen und Wunder tun, soll der ein Paulus werden!«

»Geh Narr, mit Dir ist nicht zu reden!« sagte die Kollektantin, rot vor Ärger, und wandte sich an den Wirt: »Sag' du mir, Paul, was Du mit dem Burschen hast?«

Der Wirt drehte sich verlegen nach allen Seiten, bemüht, Jakopos stechendem Blicke auszuweichen, der ihm überall nachfolgte; er räusperte sich, hustete und rang sichtlich nach Fassung und einer passsenden Einleitung; endlich sprach er: »Er ist so, liebe Schwester, der Jakob ist ein dummer Junge –«

»Zum Teufel!« unterbrach ihn dieser und trat drohend näher an ihn, »ich will nicht gescheit sein, Herr Onkel, aber Soldat bin ich, und das möchte ich gerne ehrlich bleiben!«

»Aber Jakob!« mahnte die Mutter mit strafenden Blicken.

»Ei, Mutter! Davon versteht Ihr nichts, lasst mich nur«, entgegnete der Junge barsch, »dass Ihr's nur wisst, was es ist: ein italienisches Pamphlet hat mir der Onkel da gebracht und zum fleißigen Lesen empfohlen mit den Worten: das ist wahr wie der Katechismus, Jakob! Und wisst Ihr, was es ist –«

»Geh, geh, Kind! Mache nur nicht so viel Wesens mit dem Spaße!« fiel ihm der Wirt mit verlegenem Lächeln in die Rede, »ich sagte Dir bloß, dass jedes Ding zwei Seiten hat – Du hörtest immer nur, die Welschen seien Rebellen, Mörder und dergleichen, lies das einmal, denn beide Teile –«

»Was zwei Seiten und beide Teile!« schrie der Gefreite mit jugendlicher Heftigkeit und schlug auf den Tisch, »wisst Ihr noch, wie man bei uns einen heißt, der zwei Parteien dient oder auf zwei Achseln trägt? – Einen Lumpen heißt man ihn! Und ein solcher seid Ihr, der Ihr Eure Bottega zum Kasino für die tote Carboniaria hergebt, und Euch selbst zum Apostel ihrer wahnsinnigen Lehren – Ihr, der gediente, alte Soldat und geborener Österreicher! Pfui!«

»Aber Jakob!« mahnte die Mutter abermals und ergriff die zornbebende Hand ihres Sohnes.

Dieser aber riss sie rau zurück, und sie drohend gegen Paul erhebend, sprach er feierlich: »Mutter, Ihr seht mich zum letzten Male innerhalb dieser Mauern, wenn Ihr noch ein Wort verliert zu Gunsten dieses falschen Mannes – wisset, was er wollte: mich zum Meineid und zum Treubruche verleiten!«

Entsetzt starrte die Kollektantin ihren Bruder an: »Paul!« rief sie mit vorwurfsvollem Tone.

Ehe der bestürzte Beschuldigte etwas erwidern konnte, ging die Türe auf, und auf ihrer Schwelle zeigte sich die Gestalt des Korporals Heller, der verwundert auf die erhitzte Gruppe schaute.

»Hoho! Was ist da los?« fragte er, den Kopf schüttelnd.

»Ei, grüß Gott, Pate, gut, dass Ihr da seid!« rief ihm Jakopo entgegen, »da, nehmt dies Büchlein, und Ihr werdet gleich wissen, was es gibt?«

Heller sah betroffen die erregten Gesichter der Gesellschaft der Reihe nach an, dann griff er mechanisch nach der Broschüre und las deren Titel: »Österreichs Unrecht und Italiens Recht – von einem Lombarden – Hoho! Hoho? Na freilich, gedruckt in Belinzona! Das versteht sich, die im Tessin müssen es uns sagen, was rechts oder links, sonst wüssten wir's nicht! Und wie kommt der Wisch daher?«

»Der Onkel gab mir das Buch –«

»Ei, Ihr?« sagte der Korporal mit scharfer Betonung und fixierte den Wirt, der sich schleichend der Türe zudrehte: »Wisst Ihr, was darauf steht, solche Dinge zu führen und zu verbreiten?«

»Ei, Heller, was fällt Euch ein? Ein reiner Spaß mit dem Jungen –«, versetzte mit erzwungenem Lächeln der Wirt.

»Nein, nein, Pate!« fiel ihm Jakob ins Wort, »er gab es mir zu lesen und zu beherzigen, und der Katechismus unserer Zeit sei's, sagte er mir, wahrhaftig!«

»Na, da soll doch augenblicklich ein Schock Schwerenot auf Euch niederhageln, Ihr alter Schuft!« schrie erglühend der Korporal, »wollt Ihr den Jakob, Euren leiblichen Neffen, ins Gespann mit dem armen Gerber Louis, den Ihr, nur Ihr auf dem Gewissen habt – da müsst Ihr früher aufstehen, Ihr Zwitterlombarde; der Jakob ist, wenn nicht der Teufel sein Spiel treibt, von dem Holze, aus dem man Offiziere schnitzt, und darum nichts für Eure schleichende Propaganda!«

»Aber Heller! Was wollt Ihr denn? So hört doch!« rief der Wirt dazwischen.

»Was soll ich hören?« fragte Heller sarkastisch, »etwa, dass es höchst abgeschmackt ist, dass die Lombardei nur einen Kaiser hat, da sich doch sonst ganz gut ein Fürst von Pavia, ein Herzog von Brescia und ein Markgraf von Cremona da ernährt haben? Oder wie schändlich es sei, dass die Fußtritte deutscher Barbaren den heiligen Boden Italiens besudeln, während die Enkel der alten Römer mit Feigen, Datteln, Käse und Salami durch die Welt hausieren –«

Paul war bleich wie die Wand geworden bei dieser Rede, ebenso vor Zorn als aus Verdruss, dem Korporal nichts Treffendes erwidern zu können; endlich sagte er trotzig: »Wenn den Franzosen nicht bestritten worden ist, ihre Regierung selbst zu wählen, so sollte man das den Italienern auch nicht!«

»Ah, so?« lachte der Korporal boshaft, »Ihr gehört also nicht zu den Carlo Albertisten und den Unitariern, Ihr seid Republikaner! Ja, das ist wahr! Italien hat's ja schon einige Male probiert damit, und so viel nur ich, ein schlichter Soldat, weiß, hat es sich für nichts mehr zu schämen als für die Geschichte seiner Vierellen-Republiken! Und Frankreich? Wenn das den Rausch wieder ausgeschlafen hat, kommt auch der 18. Brumaire wieder und mit ihm ein Napoleon oder sonst einer, der's versteht, und eins, zwei, drei ist die Republik wieder beim Teufel, wohin sie auch gehört!«

»Ja, Pate«, nahm Jakopo seine Anklage wieder auf: »und was das für Ausdrücke sind in dem Büchel: >blutschnaubendes Tier, Gewaltstreich der Tyrannen, Schergen und Schlächter< und so fort in einem Tone!«

Der Korporal zog sein dunkles Gesicht in die strengsten Falten und sprach ernst zur Kollektantin: »Nanni, Du wirst schon zugeben, dass ich heute Hausrecht übe an Deiner statt, eben weil der Dir nahe steht, der deine Schwelle besudelte, und das Herz Deines Kindes zu vergiften drohte!« Dann wandte er sich finster zu dem Wirte und sagte feierlich: »Ich weiß nicht, was mich abhält, Dich anzuzeigen als Hochverräter, ehrvergessener Mann, wenn es nicht die Ahnung ist, dass Dich der Galgen kriegt, auch ohne mein Zutun! Fort mit Dir aus diesem Raume, das der Friede bewohnt und die Ehrlichkeit!«

Der Wirt erwidert kein Wort mehr, er biss grimmig die Lippen übereinander und verließ das Gemach.

Die drei Zurückgebliebenen blieben noch eine Zeitlang wie versteinert in ihren Stellungen, die Kollektantin leise weinend, die beiden Soldaten in ernsten Gedanken vor sich niederstarrend; dann ergriff Heller plötzlich den Arm des jungen Mannes und sagte freundlich: »Komm hinaus in die freie Gottesluft, da verfliegt so ein Verdruss am schnellsten! Komm! Adieu, Nanni!«

»Ihr kommt nicht mehr vor dem Zapfenstreich?« fragte die Frau wehmütig.

»Nein, morgen ist ja auch ein Tag! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Franz! Schlaf' wohl, mein Kind! Auf Wiedersehen!«

Die Soldaten gingen, und die Frau sprang, wie von einer gewaltigen Ahnung getrieben, ans Fenster, um ihren beiden Lieben mit den Augen zu folgen, solange sie es vermochte.

Als die Tiefe der Contrada ihre Gestalten aufnahm, sank sie gebrochen auf einen Stuhl nieder und flüsterte mit bebender Stimme: »Morgen – morgen!«

Arme Mutter, armes Weib! – Morgen ist – der 18. März!


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