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3.
Im Ghetto

Ho! Was soll das? Ganz Mantua, ganz Italien – was sage ich, ganz Europa im Jubel, im bunten Schmucke, und freiheitberauscht fröhlich herum plätschernd in dem Märzregen der »Errungenschaften« – nur dies Viertel, S. Giorgio gegenüber, öd und stumm wie ein Friedhof stille?

Droben in der Stadt von allen Türmen wehende Fahnen in lustigem Grünrotweiß, hallende Glocken wie zu Weihnacht, wenn der Messias neugeboren; summende, singende, lärmende Menschenhaufen, flatternde Bänder, bauschende Teppiche aus allen Fenstern und Luken – nur hier unten alles tot – alles tot, bis auf die dunklen, schaumperlenden Wogen des Sees, die immer wieder in langen, hastigen Reihen den Ufern zueilen und brandend hoch hinan schlagen, als ob es sie verdrösse, wieder hinein zu müssen aus dem weiten, glatten Bassin des Sees in das enge, steinigte Bett des Mincio; als wollten sie sich festklammern an den gewaltigen Quadern der Terrassen, damit sie die Undine des brausenden Po nicht erfasse und hineinjage in den grünen Busen der Adria.

Sollte nur hierher die Siegeskunde nicht gedrungen sein, dass der Löwe von S. Marco mit einem Schütteln der trotzigen Mähnen sich frei gemacht von den Fesseln der »Barbaren« und die gekrönte Schlange der Lombarden mit einem Schlage die Mauer zertrümmert, die die fremden Zwingherren gezogen um das Penetrale des italischen Nordens, die Schatzkammer zu Monza?

O nein! Die angstbleichen Menschenkinder, die da unten scheu hervor lugen zwischen den zugezogenen Vorhängen in den geschlossenen Fenstern, sie wissen es nur zu gut, was für ein wildes Lied die Welt durchbraust! Dasselbe war erklungen um die gesenkten Häupter ihrer Ahnen, als sie weinend zogen in das Land der stolzen Pharaonen, in die Knechtschaft! Dasselbe war um sie erklungen, als die Adler der weltherrschenden Roma anfielen den Löwen Judas, bis er verblutet lag unter den rauchenden Trümmern Zions.

Und wie damals sangen sie jetzt in leiser, trüber Klage das tausendjährige Leid und Lied ihres Volkes:

»An den Gewässern von Babel saßen wir und weinten –
Und unsere Tränen mischten sich mit den Gewässern.« –

Es ist das Judenquartier, das Ghetto von Mantua.

Und in den düstern, rauchigen Stuben sitzen die alten, uralten Juden im Kreise ihrer bleichen Kinder und Kindeskinder und erzählen ihnen grause, markerschütternde Sagen von den Verfolgungen, von den blutigen Martern, die ihre Vorfahren betroffen, sooft die Revolution ihr Medusenhaupt erhoben auf Italiens roter Erde.

Und erzählten ihnen, wie sie endlich – endlich Ruhe gefunden und Schutz unter des Doppeladlers schirmenden Schwingen und tausend heiße, brünstige Gebete sandten sie empor zu dem Gotte ihrer Väter, dass er ihn schirme und vernichte die gierigen Geier, die ihn meuchlings angefallen.

Nur in einem dieser Häuser, einem großen, einzeln stehenden Gebäude war es ganz, ganz stille.

Droben in dem Erkerzimmer lag auf einem seidenen Ruhebette ein Mädchen von feenhafter Schönheit, die Blume des Ghetto, Reb Abrams vom See einziges Kind. Ihr Antlitz von dem reinsten orientalischen Schnitte hing tief nieder auf die junge Brust, fast ganz eingehüllt in den duftigen Schleier ihres goldbraunen Haares, das lose und aufgelöst darüber niederhing; die Augen waren geschlossen, und die feinen, schmalen Brauen, die sich darüber spannten, zuckten und zerrten an den samtweichen Lidern, als wollten sie sie aufziehen, damit die hellen Sterne darunter ihr Licht strahlten durch das düstere Gemach.

Sie schien zu schlummern – sie regte sich nicht.

Da erklang plötzlich die Türglocke laut, kurz und hastig.

Mit dem ersten Schlage war das Mädchen aufgesprungen und stand einen Moment, die Hände auf die Brust gepresst und die schönen Augen, ach wie leuchtend, offen, in der Mitte des Zimmers.

»Er ist's! Er kommt!« perlte es leise mit sonorem Gesange von ihren roten, frischen Lippen: »Ach, und ich muss warten!«, setzte sie traurig hinzu, sprang in die Zimmerecke und drückte mit dem Elfenfüßchen auf einen, durch eine starke Feder gehaltenen Metallknopf.

Ein feiner, gellender Glockenton antwortete auf diesen Druck, und fast in demselben Augenblicke hörte man unten die Türe öffnen, während in dem anstoßenden Alkoven langsame, schlürfende Fußtritte hörbar wurden.

Der großgeblümte, schwere Vorhang, der die beiden Gelasse trennte, wich der Gestalt eines alten Mannes, der mit der Frage ins Gemach trat: »Wer ist's, der da läutet, Gela mein Kind?«

Das Mädchen ließ verlegen die Fenstervorhänge sinken, hinter denen sie auf die Gasse hinabgeblickt hatte, und sagte langsam: »Zwei Offiziere, Vater!«

Der Jude drückte unmutig das schwarze Samtkäppchen fester auf den kahlen Scheitel und rief: »Weh, was sollen sie da? Steht der Abram noch nicht sattsam notiert mit schwarzer Kreide in den Registern der Herrn von der Unita, dass die da kommen und läuten ganz laut bei hellem Tag vor seiner Tür, während droben die Revolution rumort! Was wollen sie? Hat Aaron aufgetan?«

»Ja, sie kommen schon – es ist – Herr Ernst dabei!« sagte Gela mit gesenkten Augen, die nur zu einem kurzen, aber innigen Willkomm sich auftaten und wieder schlossen über den sanft errötenden Wangen, als Ernst mit dem Adjutanten eintrat.

Abram zog, als er Ernst gewahrte, freundlich grüßend das Käppchen und fragte: »Was zu Befehl, Ihr Herren?«

Der Adjutant stand förmlich verwirrt bei dem Anblicke des Juden und seines Kindes da.

War jenes eine sinnberückende, zauberische Erscheinung, so war der alte Jude eine imponierende, sozusagen traditionelle: ganz der Prototyp jener alten heroischen Patriarchen, die mit Gideon auszogen, zu sprengen die Ketten Midians. Er war groß und hager, aber das Alter, das sein Haar gebleicht, hatte den starken Nacken nicht zu krümmen vermocht, und sein graues Auge funkelte noch voll hellen Feuers unter den buschigen Brauen hervor.

Da der Adjutant noch immer schwieg und eigentlich Ernst, als Bekanntem des Hauses, das Entree zustand, sagte dieser, indem er die Hand des Juden ergriff: »Reb Abram! Wir kommen zu Euch um Rat und Tat – bittend!«

Der Jude zuckte leicht zurück und warf einen raschen Blick auf den ihm fremden Adjutanten. »Geld?« fragte er leise.

»Nein – größeres, schwereres kommen wir von Euch zu fordern, im Namen des Kaisers und hiesiger Garnison!« war die Antwort.

»Ho! Was hat der arme Jude, der Staub unter dem Fuße der Mächtigen, anderes als Geld! Was kann er helfen dem Herrn Kaiser und den Soldaten – der arme Jude?« rief Abram verwundert.

»Das ist die Sache, Herr!« nahm jetzt der Adjutant höflich das Wort: »Ihr seid durch meinen Kameraden hier als braver Mann und treuer Anhänger Österreichs empfohlen.« –

»Ja, weiß Gott! empfohlen – aber nur Euch; die singen anders vom alten Abram, die Herren, in der Stadt« – unterbrach ihn der Jude.

»An Euch liegt's, ihnen das Anders-Singen zu verwehren!« fuhr der Adjutant warm fort; »Ihr seid weitum mit allen Stegen und Schlichen vertraut als Hausierer: es handelt sich darum, eine Botschaft nach Borgoforte oder wohl noch weiter hinab am Po, vielleicht bis Suzzara zu bringen.« –

»Nun! Und was soll ich damit?«

»Ihr sollt ihr Überbringer sein.« –

»Was ich? Ihr scherzt, Herr Offizier!«

»Scherz – jetzt!« sagte der Adjutant bitter lächeln, »mein guter Abram, ich fürchte, wir haben auf gar lange Zeit hin ausgescherzt in diesem Lande; höret den Sachverhalt: wir erwarten Zuzug, das Regiment Este, das von Parma herkommt. Ihr wisst, wie es steht um Festung und Stadt. Dem Gouverneur ist es unmöglich, ein Korps weiter hin zu detachieren, als höchstens in die nächste Umgebung, so nötig es wäre, denn das Komitee der Aufständischen hat alle Kommunikation ringsum zerstört, um jenen Succurs von Mantua abzuschneiden; man sagt, es existiere nur eine einzige fliegende Brücke mehr, in der Gegend von Dosolo.« –

»Haltet ein wenig, Herr!« unterbrach der Jude abermals den Adjutanten; doch diesmal schritt er zur Türe und rief mit hallender Stimme hinaus: »Aaron!«

Als hätte ein Zauberer seinen dienstbaren Genius gerufen, trat, fast ehe noch der Ruf verhallt war, ein stämmiger Bursche mit klugem, feinem Gesichte herein.

»Weißt Du, was die Herren wollen?« fragte Abram kurz.

»Ich weiß alles – ich stand an der Türe!« antwortete der Knecht des Juden.

Dieser wandte sich lächelnd zu dem Adjutanten und sagte vergnügt: »O, der ist pfiffig, der Aaronleben! Fahrt fort, Herr, er muss dabei sein!«

»Nun, ich bin fast schon zu Ende«, sagte der Offizier, dem dies Intermezzo von guter Vorbedeutung schien: »wir brauchen einen verlässlichen Mann, der die Avantgarde des Regimentes auf die rechte Straße und über den Po führt; denn ohne diesem Succurs können wir uns nicht einen Monat mehr halten!«

»Pah, Monat, nicht acht Tage, sage ich Euch, Herr! Es dauert nicht so lange, so stehen die piemontesischen Blauröcke am Mincio! Ich sage es Euch!« sprach ernst der Jude, dann wandte er sich an seinen Knecht und fragte: »Was sagst Du, Aaron?«

Der Knecht zuckte die Achseln und gab keine Antwort.

Abram warf einen raschen Blick nach dem Fenster, an dem Ernst mit seiner Tochter in leisem Gespräche stand, dann rief er diesen mit einiger Verlegenheit: »Kommt herbei, lieber Herr, und helft uns Kriegsrat halten!«

»Ihr geht also, Abram?« rief Ernst hinzutretend mit freudiger Stimme.

»Was ginge ich nicht, lieber Herr!« sagte der Jude bescheiden, »ist's doch besser für uns alle, es hat der Kaiser Mantua, als käm' es in die Hände der welschen Gurgelabschneider.« –

»Ich wusste es ja, der Abram ist ein treuer Patriot!« jubelte Ernst.

»Ein armer Jude, ein armer Jude!« murmelte dieser und sah seinen Knecht mit einer sonderbar fragenden Miene an.

Dieser schien sie völlig verstanden zu haben, denn er trat sofort an den teppichbehangenen Tisch und tippte mit beiden Händen auf zwei verschiedene Punkte. »Das ist Viadana, das ist Pomponesco – an diesen zwei Punkten müssen die Soldaten erwartet werden.« – sagte er langsam und sah die Offiziere an.

»Er hat Recht, der Aaron, er hat Recht – er ist meine rechte Hand, der Aaron! Gewiss, meine rechte Hand!« rief Abram mit blitzenden Augen.

Die Offiziere sahen verwundert dem Gebaren des Knechtes zu; dieser beschrieb, vor sich hin brummend, Linie auf Linie, hielt an gewissen Punkten nachdenklich an, dann rief er plötzlich: »Ich mach's allein, ganz allein, Reb Abram! Ich stehe Euch dafür, in Boretto muss ich ihnen begegnen, wenn sie noch jenseits des Po sind!«

Der alte Jude rieb sich mit stolzem Lächeln die Hände und sagte ein- über das andere Mal: »Er macht's allein, ganz allein – oh der Aaron, nun Ihr Herren?«

Der Adjutant sah etwas misstrauisch in das listige Antlitz des Knechtes, da trat plötzlich Gela zu ihm, legte ihre weiche Hand auf seinen Arm und sprach feierlich: »Traut ihm, Herr! Traut ihm getrost, der Aaron ist treu und brav, er tut, was er sagt, er würde lieber sterben als wortbrüchig werden!«

Der Adjutant sah erstaunt in das Wunderantlitz der Fürsprecherin, dann warf er Ernst einen kurzen Blick zu, der ein tiefes Kompliment für dessen Geschmack enthielt.

Gela trat hastig wieder zurück, sie hatte den Blick bemerkt und verstanden.

Der Adjutant erwiderte darauf etwas verwirrt: »Ich nehme Eure Garantie mit Freuden an, mein schönes Fräulein; und Ihr, guter Freund, könnt des reichsten Lohnes gewiss sein, wenn das Regiment morgen hier eintrifft. Also abgemacht, Ihr geht noch heute auf Euern Posten?«

»Hier meine Hand!« sagte der Knecht lakonisch und streckte dem Offizier eine schwielige, derbe Hand entgegen.

Dieser errötete leicht, als er die Seine darin legte, aber er drückte sie sogleich mit ehrlichem Herzen, als er bedachte, dass es die eines treuen, österreichischen Untertans sei, der hinging, diese Treue vielleicht mit dem Tode zu besiegeln.

Auf dem Gesichte Abrams lag ein freudiges Lächeln, als er dies sah: »Fürchtet nichts, Herr!« sagte er versichernd, »der Aaron führt alles aus, Ihr könnt morgen meinen Hals haben, wenn er das Regimen nicht bringt!«

»Ich glaube und hoffe es! Noch eins! Bis morgen Abend soll ein Detachement zwischen Cerese und Montanara stehen – für alle ungünstigsten Fälle!« sagte der Adjutant und setzte hinzu: »Nun, Ernst! Unser Geschäft ist zu Ende!«

»Nur einen Augenblick noch, Bruderherz!« rief dieser mit beklommener Stimme und schritt dem Fenster zu, in dessen Tiefe Gela stand.

Er ergriff ihre kleine, zitternde Hand und drückte sie an seine pochende Brust: »Gela!« sagte er langsam und feierlich, »als mir der Himmel das Glück bescherte, Euch zu tragen auf diesen Armen aus der Stätte des Todes an das Licht des Lebens, verspracht Ihr mir, jeden Wunsch, den je mein Herz Euch verraten sollte, zu erfüllen, stände es in Eurer Macht.

Ich hatte keinen bislang, als den, mich manchmal sonnen zu dürfen in dem Strahle Eurer Schönheit. Nun, da ich zum ersten Male das Soldatenleben fasst mit rauer Hand, nun ich von Euch mich trennen soll, auf lange vielleicht, vielleicht auf immer – werdet ihr mir heute eine Bitte gewähren?«

Gela war totenblass geworden bei diesen Worten, ihre Brust rang nach Atem, und sie vermochte kein Wort hervorzubringen.

Da trat Abram leise näher und legte seine Hand auf die Schulter seines Kindes: »dem Retter Deines Lebens magst Du jeden Wunsch gewähren – zum Abschiede!« sagte er mit mildem Lächeln.

Ernsts schwermütiges Gesicht verklärte ein Strahl von Seligkeit; er ließ die Hand des Mädchens los, löste schweigend das schwarze Samtband, das den schlanken Hals Gelas umspannte, verbarg es in der Brust, dann zog er das Mädchen mit einem dumpfen Seufzer in seine Arme und drückte auf dessen erbleichte Lippen einen langen, langen, heißen Kuss.

»Adieu!« stammelte er dann und schwankte aus dem Gemache. Der Adjutant folgte ihm, das sonst kalte Herz gar wundersam erregt. – Als die Gondel vor dem Hause in den See stieß, stand Ernst mit über die Brust gekreuzten Armen an dem Schnabel derselben, und sein Blick hing an einem offenen Fenster in dem Hause Reb Abrams, aus dem eine blütenweiße Hand tausend Grüße winkte, aus dem zwei wunderschöne Augensterne durch einen Tränennebel ihm liebend, grüßend nachleuchteten, bis die Gondel auf der Höhe des Spiegels verschwand. –

Tags darauf, um drei Uhr nachmittags, stieß das aus der Zitadelle detachierte Korps auf die Avantgarde vom Regiment Este, und eine Stunde später rückte Oberst Castelliz mit derselben durch das Tor Pratella in die Festung ein. Aaron hatte Wort gehalten. –

Es war einige Wochen später, am letzten Maientage dieses unglückseligen Jahres, da ertönte abermals die Glocke an der Türe Reb Abrams vom See.

Abermals flog oben der dunkle Vorhang zurück, und das leuchtende Antlitz der Blume des Ghettos wurde sichtbar. Aber es erblasste in trüber, banger Ahnung. – Er war es nicht!

Der Adjutant kam allein.

Nein, nicht allein! Er brachte Leid mit, den Gram und langen, lebenslangen Jammer. –

Er legte schweigend mit traurigem Blicke ein zerknittertes, blutbeflecktes Samtband auf den Tisch.

Mit einem gellenden Schrei sprang die Jüdin ihm entgegen, ergriff seine beiden Hände und starrte ihn an mit den schönen, schönen Augen fragend – zagend. –

»Er ist tot!« sagte der Offizier ernst, »Euer Name war sein letzter Laut!«

Da sank Gela gebrochen nieder in die Knie, und an das Herz ihres alten Vaters, der selber weinend neben sie hingesunken war. – Er aber lag draußen in dem Tale vor Goito inmitten einer Menge erschlagener Kameraden, die dunkle Todeswunde in der tapferen Brust.


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