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3.
Die Ouvertüre der Revolution.

Der Schauplatz der eben erwähnten Auftritte lag zwischen dem Theater della Scala und jener Ecke des Monte di Pieta, (Leihamt) die auf den Corso di Porta nuova sieht.

Obwohl berührt, und gewiss nicht angenehm, von dem Jubel auf Italien und Pius IX. und den Flüchen und Drohungen auf Österreich, die vor und um sie erschollen, schritten unangefochten zwei österreichische Grenadiere Arm in Arm und jeder eine Zigarre im Munde in harmlosem Gespräche vom Tore bis zur Grenze jenes Tumultes langsam auf und nieder.

Sie mussten ein ganz eigenes Rendezvous hier haben, sonst hätten sie wohl schwerlich alle die Schmähungen so leicht hingenommen, die fünfzig Schritte von ihnen ohne Unterlass zum klaren Winterhimmel empor gebrüllt wurden; denn es waren zwei junge, vollkräftige Burschen, Vollblut-Grenadiere, die ganz danach aussahen, einen Choc auf die zerlumpten Proletarier daneben zu machen, allein, auf eigene Faust, wenn sie sich nicht zu eigen gegeben hätten für diesen Nachmittag der Erfüllung einer Pflicht, die allem Anscheine nach weniger gefahr- und ruhmlos war, als sie anfangs dachten.

Es waren dies nämlich jene beiden Grenadiere, die Korporal Heller sich als Sauvegarde seiner alten Flamme erkiesen hatte; und nicht weit vom Tore, in einen Hausvorsprung eingeflickt, erwies sich eine nette Bude, kennbar durch den kaiserlichen Adler und die Aufschrift: »qua possa giuocare al lotto!« als das gefährdete Asyl der Feldwebelswitwe, zu deren Schutz und Schirm die beiden guten Burschen hier fast eine Stunde schon auf und ab trotteten.

In der Bude selbst saß an der Seite obbesagter Wittib, einer fast wunderbar konservierten Vierzigerin mit dunklen Augen und Haaren und einem etwas anstößigen Bartanfluge von derselben Farbe auf der Oberlippe, der Korporal Heller, in tiefe, weitgehenden Gedanken versunken.

Vor ihm stand eine Probeschale jenes Mokkatrankes, der seinen beiden Grenadieren verheißen war nach ihrer Ablösung; aber trotz der dunkelglühenden Farbe, trotz des Vanilleodeurs, der vermählt dem Cafféearoma, sonst nie verfehlte, seine weiten Nasenflügel in ein krampfhaftes Schnuppern zu versetzen, stand die Schale noch unangetastet vor dem Korporal, der, endlich seiner Gedanken Meister geworden, sie folgendermaßen seiner »Alten« kundzugeben begann: »Du wirst sehen, Nanni! Sie tun's!«

»Was meinst Du, lieber Heller?« fragte die Kollektantin verwundert.

»Gewiss, sie fangen einen Krawall an, eine Revolution, wie Anno Zwanzig – die Welschen nämlich; nicht Nanni?« sagte der Korporal zu der Witwe mit einer Naivität, die bewies, es sei dies nicht zum ersten Male, dass er seine Liebe bei militärischen Fragen zu Rate ziehe.

»Ja, mein Lieber!«, erwiderte die Witwe, »davon verstehe ich zu wenig; ich meine aber, es sei bloß das verworfenste Gesindel und ein Schwarm arbeitsscheuer Facchini (Lastträger) gewesen, die vorgestern den Spektakel mit dem Rauchen hervorriefen.«

»Hervorriefen? Da steckt's!« rief Heller mit triumphierender Miene, »jenes Gesindel hat den Spektakel gemacht; hervorgerufen haben ihn die, die jene dafür bezahlen, die Herren vom Café Cova da unten, deren zweites Wort immer »Freiheit und Italien« ist, deren Heldenmut im Dingen von Banditen besteht, deren Anfang Feigheit und Verrat ist, deren Ende Schmach und Strafe sein wird…« Er hielt tiefatmend inne, und auf seinen braunen Wangen traten zwei dunkelrote Zornesflecken hervor, hinaufgetrieben zu den funkelnden Augen aus dem ehrlichen Soldatenherzen, durch das die bittere Erinnerung zuckte an die vielen hundert Opfer ähnlicher Emeuten, deren Gräber einsam und vergessen liegen in der heißen Erde dieses falschen Landes, während die Urheber ihres schmählichen Todes ungestraft und schwelgend im Auslande eine neue Phase des nie aufgegebenen Kampfes zwischen Banditentum und legaler Macht erwarten.

Die Witwe sah ganz erstaunt in das erglühte Gesicht ihres Galans, den sie noch nie in so ernster Erregung gesehen hatte. »Glaubst Du wirklich, Franz, dass etwas Ernstes zu befürchten ist?« fragte sie kleinlaut.

»Je nun, es ist dies so!« sagte Heller etwas beruhigter; »ich und Du, wir haben nichts zu befürchten; den Kram da getraue ich mich schon zu beschirmen und zu verteidigen, und kommt es zu einer Aufrüstung – ich meine – zu wirklichen Feindseligkeiten – so ist mir das Rohr Rohr – sonst gleichbedeutend mit der Feldwebels-Charge. gewiss – und dann –« Er hielt wieder inne und sein Arm legte sich um den vollen Leib der Witwe mit einer Delikatesse, die wirklich zu filigran für einen Grenadier war.

Sie aber sprach mit einem herzlichen Tone, in dem sie sich näher an ihren Geliebten schmiegte: »Ach Franz, glaubst Du wirklich, dass wir noch –«

Ein hastiges Klopfen an das Guckfensterchen der Bude unterbrach ihre Frage: »Mutter, Mutter! Macht auf! Geschwind!« tönte es angstvoll herein.

Heller zog schnell den Riegel zurück und seinen Säbel vor; ein junger Bursche trat in die Bude und rief mit verstörtem, angstbleichem Gesicht: »Mutter, die wollen den Kommissar ermorden! Eine ganze Rotte mit Stiletten und Pistolen harrt sein an der Theaterecke – Mutter, lieber Pate Heller! Helft, sonst ist er verloren!«

»Teufel!« rief Heller, »doch nicht Herrn Linke?«

»Freilich, Herr Pate!« antwortete weinend der Knabe; »ich fürchtete gleich, es werde nicht gut ausgehen, wenn er sich ins Café Cova wagt!«

»Was, er war dort?« fragte erstaunt der Korporal.

»Ja – ja« – war die Antwort des Knaben, »aber Gott! er will zum Baron T. – er muss vorbei an dem Theater und Café – die wissen das dort; ich hörte sie's ausdrücklich sagen – helft Pate, helft um Gotteswillen!« – und der Knabe hing sich mit tränenden Augen an den Arm des Soldaten, der sich langsam erhob und sprach: »Wenn es so ist, Nanni! Muss ich Deine Hütte im Stich lassen – er ist Dein Wohltäter und Freund, ihm müssen wir helfen! Gott befohlen! Verschließe die Bude und suche Dein Quartier zu erreichen! Du gehst mit mir, Jacopo!« damit setzte der Korporal sein Käppi auf und trat auf die Gasse.

Ein Wink von ihm rief seine beiden Satelliten an seine Seite; »Vorwärts, Kameraden!« sprach er sie an, »macht die Säbel locker! Es gilt des Kaisers Dienst und der Rettung eines seiner treuesten Diener!« Mit diesen Worten machte er seinen Korporalsstock vom Säbelgriffe los, und ihn lustig schwenkend, führte er seine beiden Grenadiere gerade auf den Menschenkeil zu, dar, eingeklemmt zwischen den beiden Häuserreihen der Corsa di Giardine, seine Spitze fast bis zur Porta nouva schob.

Jacopo war ihm immer auf der Ferse mit dem stereotypen Gejammer: »Wenn es nur nicht zu spät ist – wenn's nur nicht zu spät ist!«

Heller achtete des Knaben nicht, aber sein Gesicht färbte immer dunklere Röte, je näher er dem Kern des Haufens kam, je deutlicher die hundertfältigen »Evvivas« zu Ehren der Revolution und Italiens und die »Abbassos« alles dessen, was österreichisch sein Ohr trafen.

Endlich konnte er nicht mehr weiter.

»Oh, oh! Attenti! Badete a voi!« rief er zu wiederholten Malen, an verschiedenen Orten versuchend durchzukommen.

»Zigarre weg, deutsches Schwein!« antwortete es allenthalben um ihn, und er sah zehn, zwanzig Fäuste drohend gegen sich erhoben.

Da machte er mit einem heftigen Rucke sich Raum, und wie der Blitz flog sein Haslinger rings um ihn her, bis er in Splittern zerstiebte, und ihn nichts als der Riemen mehr in der Hand blieb, den er dazu benützte, einem schwarzäugigen Abellino, der sich an ihn drängte, einen Denkzettel über das Gesicht zu schreiben, an dem dieser blutend zusammensank.

»Herr Gott!« rief in diesem Augenblicke mit schmerzlichem Stöhnen der >Schlaf< des Korporal, »ich bin getroffen!«

Entsetzt wandte sich Heller um – es war geschehen! Der treue Bursche hatte einen Stich in der Brust – er sank erblassend zu Boden und sprach nicht mehr, aber sein stierer, ersterbender Blick flehte – um Hilfe nicht, die war umsonst – um Rache.

»Müller! Müller!« rief Heller mit einer Stimme, die selbst durch das Gebrülle der erregten Menge wie der Ruf eines Racheengels erscholl: »Zieh, zieh vom Leder und haue drein, wir wollen die Lumpen fragen, ob sie stechen, wenn wir hauen!«, und in dem Augenblicke, als er dies rief, hatte sein Säbel bereits Bahn gebrochen um ihn, so dass er fast bis zu dem Vorbaue des Café Cova gelangen konnte.

Hier aber hielt ihn und seine Gefährten eine Gruppe auf, die die ganze Passage sperrte, da der Gegenstand, den sie tobend umgab, ein Wagen war, dessen Gespann, scheu geworden durch das Gebrüll der es umdrängenden Masse, ihn quer über die Straße gezogen hatte.

Es saß kein Kutscher auf dem Bocke – der Wagen trug die Nr. 67. –

»Pate, das ist der Wagen, mein Gott, es ist zu spät!« rief plötzlich Jacopo, der von des Korporals Seite nicht gewichen war, mit angstvollem Tone.

Heller antwortete nichts; es blickte rasch zurück, sah Müller an seiner Seite und nach rechts, und links flogen wieder seine gewichtigen Säbelhiebe, und nach rechts und links, Raum gebend, die überraschten Belagerer des Wagens.

Als er aber den erreichte, bot sich ihm ein entsetzlicher Anblick dar, ein Anblick, der selbst dem alten Krieger das Blut gerinnen machte.

Ein blutübergossener, fast nackter Leichnam lag unter dem Wagen, die zerrissene Rechte noch krampfhaft an den Wagentritt geklammert – ein kleiner, äußerst phantastisch gekleideter Mann kniete neben der Leiche, beschäftigt, die Taschen ihres zerfetzten Rockes zu durchsuchen.

Sein Aufspringen und triumphierender Schrei: »Voila! Mes amis!« weckte den Grenadier aus seiner Erstarrung; er sah hin und gewahrte in der blutbefleckten Hand des Kleinen ein kleines, gedrücktes Blatt – die Legitmationskarte eines Polizeibeamten – »Mörder!« rief er mit bebender Stimme, sein Säbel fuhr pfeifend hoch empor und krachend nieder auf das Haupt des Banditen, der lautlos niedersank, auf den Tod getroffen, zu den Füßen seiner erstarrt und geschreckt ihn umstehenden Blutgenossen.

Es war der Koch des Grafen F., ein Franzose und einer der engagiertesten Jünger des falschen Propheten von Genua.

Dass Heller und sein Gefährte inmitten dieser Rotte ungefährdet blieben, dass Jacopo unter lautem Weinen die Leiche seines Herrn unter dem Wagen hervorziehen konnte, machte wohl weniger die Verblüffung des Gesindels über die Kühnheit des Korporals, die wie ein Wetterschlag unter sie gefahren, als der Ton, der in diesem Augenblicke heraufdrang aus der Tiefe des Corso, hell und lustig, ein Ton, der in den Ohren des meuterischen Welschen wie die Tuba des Gerichtes tönte. –

Der Instinkt der Selbsterhaltung begann die vordersten Reihen zur Flucht zu drängen – denn die Straße herauf in langen Reihen blinkten die Helme der Dragoner, die im kurzen Galoppe stürmisch heranbrausten – umsonst! Die Straße war so vollgepfropft, und an dem Tore drängten so viel neue Ankömmlinge, ohne Ahnung der nahen Gefahr herein, dass an ein Weichen und Fliehen nicht zu denken war.

Ein mächtiges Zurückwogen der ungeheuren Menschenmenge gegen das Tor und ein entsetzlicher Angstschrei, der hundertstimmig emporstieg aus den vorderen Reihen der Masse, ließ ahnen, dass die Kavallerie mit den Rebellen choquiert habe. Aber unter den Wehrufen der Italiener: »Oh! Oimè! Misero me!« erklangen auch andere, kriegerische Rufe in deutschen, böhmischen, polnischen und wieder italienischen Idiomen, die Dragoner aneifernd zur Hilfe und Rache.

Sie gingen von den einzelnen Soldaten aus, die, meist des Rauchens wegen, angefallen und insultiert, selbst verwundet, natürlich sich zur Wehr stellten und so mit hineingezogen wurden in den Menschenschwall, der aus allen Gassen zuströmend endlich die breite Straße füllte und sperrte.

»Vorwärts Kameraden! – »na pomoc! – napred wiara! Su, Dragóni!« riefen die bedrängten Soldaten, des immer zunehmenden Drückens und Stoßens wegen unfähig von ihren Waffen Gebrauch zu machen; und vorne brausten die wiehernden Rosse mit immer mächtigerem Anpralle an die der Vergeltung anheimgefallene Banditenschar, während im Rücken von dem Corso Casani und die Borgo nuovo her der dumpfe Trommelwirbel erscholl, der die Infanterie im Sturmschritte heranführte.

Die Verwirrung, das Angstgeheul und die ohnmächtige Wut der Versuche, den rings bedrohten Menschenknäuel zu lösen, steigerten sich ins Unglaubliche.

Am gefährlichsten ging es auf der Stelle zu, wo Heller, sein Gefährte und Jacopo sich eingeklemmt sahen. Der Wagen, längst durch das Auf- und Niederwogen der Menge aus dem Gleichgewicht gebracht, hing, da er nicht fallen konnte, zwischen seiner Umgebung, die Pferde lagen auf dem Boden, bedeckt von denen, die ihre Hufschläge zu Boden gestreckt und überflutet von anderen, die neu anrollende Menschenwogen auf sie warfen.

Heller, der den Säbel verloren und das Unterteil seines Rockes eingebüßt hatte, war immer weiter gegen die Porto zugedrängt worden; er hielt Jacopo auf den Armen, Müller dicht an ihm; so waren sie bis nahe an die Mündung der Contrada del Monte getragen worden, als plötzlich der Strom sich brach und sie mit dem Schwalle, der in diese Straße hinab flutete, fortgerissen wurden. Erst in der Mitte dieser Straße gelang es ihnen durch Hilfe des Postens, der an dem Portal des k. Postgebäudes stand, sich von dem Schwarme, der in wilder Fluchte weiterbrauste, loszumachen.

Hier hörten sie erst, dass es auch in anderen Stadtteilen zu blutigen Händeln zwischen Civile und Militär gekommen war; besonders in der Nähe der Galerie, wo die städtischen Pompieri unter Waffen standen, waren die Dragoner mit Steinwürfen, in welcher Angriffsart der Italiener groß ist, empfangen worden; die Dragoner nämlich waren erst angerückt, als die Nachricht von den vielen Insulten und Verwundungen, verübt an einzelnen Offizieren und Soldaten, Anlass zur Alarmierung der Garnison gab.

Indessen hatten sich die Straßen mit fabelhafter Schnelligkeit geleert, die Häuser wurden geschlossen, und man begegnete bloß einzelnen Patrouillen, die gemessenen Schrittes die Corsos durchzogen.

Heller und seine beiden Leidensgefährten machten sich auf den Heimweg, nicht ohne früher noch eine Zigarre angebrannt zu haben, deren qualmende Glut wie eine Kriegserklärung leuchtete.

Als sie an der Porta nuova ankamen, fanden sie die Lottobude der Witwe erbrochen und geleert.

Jacopo brach bei diesem Anblicke in lautes Weinen aus.

»Sei still, Kind!« sprach Heller begütigend, aber mit bebender Lippe und finster zusammen gezogenen Brauen, »ich hoffe, der Marschall wird eine arme Soldatenwitwe schützen, und die Herrn Milaneser werden zahlen, was sie verlor; weine nicht, die Mutter wird wohl geborgen sein!« Damit schritt er eilends vorwärts, der Wohnung der Witwe zu.

Als sie bei dem Café Cova ankamen, fanden sie es militärisch besetzt und Soldaten um einige Trainwägen beschäftigt, die Leichen fortzuschaffen.

An demselben Tage kam in Wien die Kunde von den Vorfällen in Mailand am Neujahrstage an – die Zeitungen brachten sie im leichten Stile und schlossen mit der Versicherung, »die Ruhe sei seitdem nicht mehr gestört worden!« –

Am Abend desselben Tages saßen in Lugano, dem Hauptorte des Kantons Tessin, mehrere Männer im Speisesaale des Albergo Svizzero.

Sie sprachen leise untereinander, wie um einen sehr gewählt und elegant gekleideten Mann nicht zu stören, der mit allen Zeichen einer heftigen Erregung in der Miene schnell im Saale auf und ab schritt.

Er war von großer Statur, sehr feiner, fast verschmitzter Gesichtsbildung, mochte vierzig Jahre zählen, obwohl sein Haar bereits sehr grau gemischt war

Plötzlich blieb er vor einem aus der Gesellschaft stehen und fragte hastig: »Wie spät ist's, Agostini?«

Der Angeredete zog seine Uhr und antwortete: »Fünf Uhr gerade!«

»Dann fließt in diesem Augenblicke in Mailand – Blut, Blut für die heilige Sache der unita Italia!« sprach mit flammendem Auge der grauköpfige Mann.

Der Unselige! – Er hieß: Josef Mazzini! –


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