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16.
Die Schwester der Brüder.

In der ebenerdigen Stube eines alten, zu einem Bauerngehöfte degradierten Herrenhauses vor der Contrada pietra in Trient saß an dem verglimmenden Kaminfeuer ein junges Mädchen, den Kopf in die Hände gelegt, sinnend und allein.

Es war jung; denn die zeitweise auflohende Kohlenglut beleuchtete ein üppiges, weiches, glänzendes Haar, das der hier üblichen Mode zuwider in kurzen, vollen Locken frei herabhing und kleine, wunderkleine, feine Hände, glatt und weiß wie Carraras Marmor.

Das Mädchen musste von Leid bedrückt sein; denn schwere, tiefe Seufzer drangen zwischen den geschlossenen Händen hervor – und es ist allein!

Alleinsein ist das Unglück des Unglücks! Alleinsen ist die tiefste Armut, denn Almosen hilft da nicht! Alleinsein ist die höchste Marter, denn es presst dem verstoßenen Herzen keinen Wehruf aus und tötet es, ohne dass es zu schlagen aufhört!

Warum weint das Kind nicht? Weinen hilft! –

Wohl, die Trauer ist eine Blume, getränkt und genährt von den Tränen, die aus dem Herzen auf sie niederträufeln; doch wenn das Herz keine Tränen mehr hat, muss die Trauer sterben! –

Das Mädchen lässt endlich die Hände müde in den Schoß sinken und erhebt das Haupt.

Es ist ein bleiches, schönes, edles Antlitz, das unter den reichen Locken hervorschaut – die blassen Lippen beben und flüstern wie im Träume: »Ich bin geflohen! – Ach, vor wem? Wohin? – Weh mir! Wie kann ich fliehen? – Erinnerung! Wie bist Du zu töten? – Nein, du nicht, Du schönes, süßes Kind der qualvollsten und dennoch seligsten Stunde meines Lebens! Aber Du, Du finsterer Schatten – hin!« Sie schlug die Hände krampfhaft vor das Gesicht und sank wieder am Kamine nieder.

Da tat sich die Türe halb und leise auf, und eine freundliche Stimme rief mit lindem Vorwurfe in die Stube hinein: »Seid Ihr schon wieder unfolgsam, Chiarina? Geht, kommt herüber zu den Kindern, hier in der öden, düsteren Stube müssen Euch böse Träume heimsuchen!«

Chiarina erhob sich langsam und schwankend und lispelte: »Seid nicht böse und sorgt Euch nicht um mich!«

»Wie sprecht Ihr doch, Chiarina!« sagte die Bäuerin, ins Zimmer tretend, und drückte die Türe hinter sich zu: »Ich sollte mich nicht sorgen um Euch? Wer täte es denn sonst und so gerne wie ich!«

»O, meine Mutter!« rief Chiarina mit überwallendem Gefühle und legt die Arme um den Hals des treuherzigen Bauernweibes und das glühende Haupt nieder an die Brust der Trösterin.

Nach einer kurzen Pause begann diese mit schüchternem Tone: »Chiarina! Ich will Euch etwas sagen!«

Das Mädchen erhob den schönen Kopf, strich die herabgefallenen Locken zurück und lächelte ihr freundlich zu.

»Aber Ihr müsst mir es nich tübel nehmen! Ich bin nur ein schlichtes Bauernweib, aber ich weiß, wie weh Herzeleid tut, ach! Ich habe das auch erlebt, als mein Erstgeborener starb –«

»Sprecht, sprecht, ich höre!«

»Nun seht! Ich meine – wenn Ihr – beten würdet!«

Chiarina heftete die großen Augen erstaunt auf die Bäuerin. Diese fuhr eifrig fort: »Wisst Ihr, wie ich das meine? Ich bin so einfältig – Wie werde ich das erklären? – Seht, ich denke, es mag Menschen geben, die da wissen, dass Lieb' und Freundschaft für sie die treuen Herzen immer offen halten, um ihr Glück oder Weh zu umfangen mit den weichen Armen des Mitleids – aber dennoch sprechen sie ihr Leid nicht immer aus; denn es gibt eine Macht – ich möchte sie die Keuschheit des Unglücks nennen, die dem echten bitt'ren Leide die Pforten des Herzens, die Lippen, nicht entriegelt, die das Almosen des Mitleids verschmäht, alles und immer allein trägt und die rotgeweinten Augen nur an einem Borne frischt – an den unversiegbaren des Gebetes!«

Chiarina trat unwillkürlich vor dem Weibe zurück, dessen glutvolle Worte ihr Herz wunderbar bewegten und rührten, dies schlichte Weib! – Mitleid ist Poesie! –

»Ja, ich will beten, heute noch, jetzt!« rief Chiarina plötzlich, und ein lichter Hoffnungsstrahl belebte ihre schönen Augen: »Ich will beten, ich will es dem Herrn der Gnade und der Erbarmung sagen, was mich drückt – ach erdrückt, ich will es ihm klagen, was – nein, nein! Aber beten will ich – o für ihn!«

Die Bäuerin lächelte mild, als sie die Frucht ihres Mitleids so schön erblühen sah. »Ich führe Euch, Chiarina!« rief sie freudig, »es ist so spät noch nicht; ach, ich führe Euch zu St. Maria maggiore in die Stadt zu einem Muttergottes-Bild, da betet sich's so leicht, so frei – denn die schöne Himmelskönigin lächelt einen so freundlich, so mütterlich an, als riefe sie einem zu: Vertrau' Dich mir nur an, Du armes Menschenkind! Mein Herz hat wohl noch bitt'rer's Leid betroffen als das Deine!«

»O, so kommt, kommt!« rief Chiarina mit fliegender Hast und ergriff die Hand der Bäuerin. – –

An dem Kirchenportal trennten sie sich.

»Ich muss zu den Kindern heim – soll ich Euch holen, oder geht Ihr allein hinaus?«

»Geht nur heim, Mutter! Mich wird der Trost des Gebetes begleiten!«

Und Chiarina trat in die dunklen Hallen des schönen Gotteshauses.

Wie durch einen Instinkt geleitet, ging sie gerade auf den Altar zu, dessen Wand das schöne Bild der Mater dolorosa schmückt.

Sie sah lange in stummer Entzückung in dies himmlisch schöne Antlitz voll tiefer Trauer – es schien ihr, als rufe eine leise, süße Stimme ihr zu: komm, komm!

Sie fiel in die Knie, und ihr Haupt sank schwer auf die reuige Brust. –

Es ward Nacht, und die Kirche leer. Chiarina lag noch immer auf den Knien, da fühlte sie eine weiche Hand sich auf ihre Schulter legen; sie erschrak und blickte auf: vor ihr stand eine einfach gekleidete Frau, die sie mit mildem, freundlichem Tone fragte: »Warum weinst Du denn, mein Kind?«

Chiarina schaute die Fremde erstaunt an: »Ich weine nicht!« sagte sie noch immer kniend, und bitter lächelnd setzte sie hinzu: »Ich kann nicht weinen!«

»Du kannst nicht weinen?«

»Nein! Sie haben mir die Tränen gestohlen!«

»Wie sagst Du – und wer?« rief die Frau und beugte sich rasch zu der Knienden nieder.

»Oh!« seufzte Chiarina unbewusst mit dem Tone des tiefsten Leides, dann sprang sie plötzlich auf und stieß die Hand der Frau mit den barschen Worten zurück: »Was wollt Ihr von mir? Lasst mich in Frieden gehen!«

Die fremde Frau sah sie einen Moment lang schweigend und nachdenklich an, dann sprach sie langsam: »So geh' denn hin in Frieden!« und streckte ihr die Hand zum Abschiede entgegen.

Chiarina wusste nicht, wie ihr geschah; sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück, ehe sie die dargereichte Hand ergriff, und heftete den Blick forschend auf das Antlitz der Frau. Es war ein junges, mildes, freundliches Gesicht, von reichen, blonden Flechten eingerahmt und erhellt und beseelt von klaren, bauen Augen, deren Sterne Chiarina an etwas Liebes, Liebes mahnten.

»Wer seid Ihr, Signora! Und was wollt Ihr von mir?« fragte sie endlich leise.

»Wer ich bin? –Ein Weib wie du – jetzt ein glückliches; ich bin die Frau des hiesigen Stadtphysikus; und was ich von Dir will, fragst Du? Dein Vertrauen!«

Chiarina schaute noch immer starr in die Augen der jungen Frau und antwortete nicht.

»Ich sah Dich niedersinken an dem Altare«, fuhr jene fort, »und heiß und brünstig beten. Drückt Dich so bitteres Leid?«

»O unendliche bitteres!«

»Du bist kein Trientiner Kind?«

»O nein! Meine Heimat ist gar weit, gar weit von hier! Ich bin eine Deutsche!«

»Wie? Ei, da musst Du Dich mir anvertrauen, auch ich bin eine Deutsche! Komm, ich geleite Dich nach Hause, der Küster kommt zu schließen. Wo wohnst Du denn?«

»In der Contrada pietra!« antwortete Chiarina, während sie an der Seite der Frau die Kirche verließ. –

Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander hin, plötzlich fragte die Frau: »Möchtest Du nicht in meinem Hause bleiben?«

Chiarina fühlte bei diesem Antrage plötzlich das Blut ihr in die Wangen schießen und ihren bebenden Lippen entsprang ein rasches, unwilliges: »Was?« Aber in demselben Augenblicke fiel ihr Blick auf ihre Kleidung, und jetzt erst erkannte sie die Ursache des Dienstantrages der freundlichen Frau.

Als sie nämlich am Morgen nach ihrer Flucht teils aus Furcht, ihrem Vater wieder in die Hände zu fallen, teils aus Scheu, allein in der fremden, von Soldaten wimmelnden Stadt zu weilen, sich entschloss, den freundlichen Antrag ihres Retters, des Leithenbauers, anzunehmen und vor der Hand in seinem Pachthofe zu Trient zu bleiben, hatte sie die Männerkleider, die sie so treulos verrieten, aus- und in Ermangelung anderer die des Dienstmädchens angezogen. Die Bäuerin fand sie hübsch darin, und ihr Herz hätte sich wohl Chiarina nie so freundlich und liebend aufgetan, wenn sie sich mit jenen Paruren umgeben hätte, die der gute Bauer aus der Stadt herbeischleppte, um seine »schöne, junge Dame« standesgemäß auszustatten. »Nun muss ich Euch Signora nennen – lebt wohl Chiarina!« sagte die Frau wehmütig, als sie jene umgekleidet sah. Da warf Chiarina den Tand von sich, und sich an das Herz der Bäuerin mit dem Versprechen, solange sie unter diesem Dache weile, immer »nur« Chiarina sein zu wollen. Und heute –

Die Frau hatte das empörte »Was?«, das Chiarina entschlüpfte, nicht missverstanden; denn sie antwortete schnell darauf: »Nicht als Magd, mein Kind! Nein, als die Freundin meiner Töchterchen und – wenn das – als meine Schwester!« und abermals streckte sie Chiarina die weiche, weiße Hand entgegen.

Chiarina stand einen Augenblick schweigend und sinnend stille, dann ergriff sie plötzlich die Hand der Frau, drückte sie an ihre heißen Lippen und rief: »Ja, ich will!« –

Sie standen vor dem Hause.

Chiarina hüpfte fröhlich hinein und erzählte ihrer standenden Freundin, was sie sich erbetet habe bei der Madonna – versprach feierlich, täglich heraus zu kommen »mit den Kindern«, und als sie ihr dankte für all' die Liebe, die sie ihr, der Fremden, Verwaisten erwiesen – weinte sie; Addio, Addio! –

»Vor allem sage mir, wie Du heißt, mein Kind!« sagte die Frau, als sie mit Chiarina in ihrer Wohnung, einem weitläufigen, großen Gebäude in der Nähe des Domes anlangte; »ich halte viel auf Namen!«

»Ich heiße – Klara!«

Die Frau fiel ihr auf diese Antwort mit fröhlichem Lächeln um den Hals: »Gott sei Dank, dass Du nicht Ursula oder Barbara heißest, Klara ist ein schöner Name! Und ich heiße Maria! – Doch komm, ich muss Dir ja die Kinder zeigen, sie schlafen aber schon; schade, dass Du ihre schönen Äuglein nicht siehst – die haben sie vom Vater!«

»Und wo ist der Herr Gemahl?« fragte Chiarina scheu, während sie das Schlafgemach der Kinder aufsuchten.

»Ach im Kriege! Gegen die Welschen ist er gezogen, der böse Mann! Doch nein, er ist ja Ursache daran, dass ich Dich fand; denn für ihn betete ich, als ich – doch da sind wir!« und die Mutter schlug stolz die Vorhänge des Bettes zurück, in dem zwei rosig blühende Kindlein schliefen. Sie lächelten im Traume.

»Siehst Du, sie lächeln; da spielen die lieben Engelein mit ihnen im Schlafe! Gute Nacht, meine Kinder!«

Tief ergriffen beugte sich Chiarina nieder über die schlummernden Kinder und flüsterte mit innigem Tone: »Gottes reichster Segen über Euch!«

Die Mutter ließ zufrieden lächelnd die Vorhänge wieder fallen und sprach: »Nun musst Du auch das Kämmerlein besehen, das ich Dir bestimmt – doch was ist Dir, Du zitterst, Klara!«

Die Frau sprang Chiarina zu Hilfe, die totenbleich und bebend an dem Tische lehnte, die großen Augen starr auf das ober dem Bette hängende Bild geheftet; es war das Portrait eines jungen Offiziers.

»Was ist Dir, Klara? Sprich!« drängte die erschrockenen Frau.

Chiarina erhob langsam die Hand nach dem Bilde.

»Wie, das Portrait? Kennst Du ihn vielleicht? Es ist mein Bruder Bernard!«

Chiarina stieß einen dumpfen Schrei aus und sank ohnmächtig in die Arme Mariens. –

Endlich schlug sie die Augen wieder auf.

»Nun, Gottlob! Du böses Kind, was hast du mir für Angst gemacht!« sagte Marie mit liebevollem Tone und strich Chiarina die wirren Locken aus der Stirne.

»Ach was war das? Wo bin ich?« fragte Chiarina mit matter Stimme.

»Bei Deiner Schwester!« –

Chiarina lächelte selig und lispelte: »Bei seiner Schwester« – dann schloss sie die Augen wieder und sprach nichts mehr. Sie schien einschlummern zu wollen.

Marie stand noch lange an dem Lager des rätselhaften Mädchens; erst als sie die schöne, volle Brust desselben im regelmäßigen Atemzuge auf- und niederwogen sah, verließ sie die Schläferin.

Stunde um Stunde verfloss, Chiarina erwachte nicht, aber sie lächelte im Traume wie die Kinder, mit denen die Englein spielen, und ihre Lippen flüsterten leise immer wieder:

»Bei seiner Schwester!«

 

Ende des zweiten Bandes.

 


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