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Seppun, Der Kuß

Im Volksmund nennt man den Kuß »Shirushi«, das Zeichen, Anzeichen, Abbild, Beweis, worin sich doch offenbar eine geistige Auffassung bemerkbar macht, denn als Ergänzung kann man zu den angeführten deutschen Wörtern sich nur »Liebes-« denken. Daß eine solche Auffassung wirklich vorhanden ist, beweist ein Volksliedchen aus Kibigun (Bezirk Kibi) in der Provinz Bitchū:

»Sama ga Kuchi su ya
         Kanzo ka sato ka
Ichiya zukuri no
         Shirozake ka.«

»Wenn du mich küssest, so habe ich ein Gefühl (Geschmack) wie von Süßholzwurzel oder von Zuckerrohr oder wie weißer Reiswein, der in einer Nacht hergestellt ist.« Diese Verherrlichung des Kusses einer ländlichen Schönen durch ihren Verehrer ist sicherlich überzeugend für die Bedeutung, die der Kuß wenigstens im Liebesleben hat. Aber in dem Senryū liegt noch viel mehr. Die Anrede »Sama«, die wir im Deutschen mit »Du« wiedergegeben haben, ist die höflich-ehrerbietige Anrede in der Umgangssprache und ein Beweis dafür, daß man auch auf dem Lande in Japan Wert auf gute Formen legt. Der für Küssen gebrauchte Ausdruck Kuchi su ist »Kuchi-sū« zu schreiben, wofür man auch »Kuchi wo sū« oder »suu« sagt, wörtlich »den Mund saugen«. Es mag hier die alte Anschauung durchschimmern, daß man mit dem Kuß etwas von der Seele des andern in sich einzieht. Shirozake ist das weiße Sake, ein süßes berauschendes Getränk, das eher als Reisschnaps, denn als Reiswein zu bezeichnen ist. Shirozake wird dadurch gewonnen, daß man den gewöhnlichen Sake mit gemahlenem Reis versetzt und die Mischung längere Zeit gären läßt. Wenn der Kuß also mit Shirozake verglichen wird, der in einer Nacht hergestellt ist, so will der Volksdichter dadurch zum Ausdruck bringen, daß die ganze Süße und berauschende Stärke gewissermaßen im Kuß zusammengefaßt ist. Leider läßt sich dieses Bild in der Übersetzung nicht kurz zum Ausdruck bringen.

Das untenstehende Bild ist dem Buch »Komon Gawa« (Buch mit bunten Mustern) von Santo Kyōden entnommen, wo es als »Kuchi Kuchi Komon«, Mund-an-Mund-Muster, bezeichnet ist. Es ist offenbar zum Bedrucken von Tapeten und Kleiderstoffen gedacht, und bietet in seiner realistischen Darstellung des »Mundsaugens« einen Beweis dafür, daß der Kuß in Japan nicht so unbekannt ist, wie es Lafcadio Hearn darstellen wollte.

Seit alter Zeit wird in der Mundart der Provinz Kansai (Ôsaka, Kyōto, Nagoya usw.) der Kuß mit dem Wort »Kitayama«, der nördliche Hügel, bezeichnet. Recht sonderbar ist der Ursprung dieser Bezeichnung:

siehe Bildunterschrift

Majimeva-Souja.

Eine Kuchiyose-no-Miko, eine Geisterbeschwörerin, eine Zauberin, die vom Kitayama, Kyōto, kam, hat dem Kuß den Namen »Kitayama« gegeben, weil Kuchiose auch als »Annäherung der Lippen« erklärt werden kann. Es handelt sich anscheinend um einen Volkswitz, wir würden Kalauer sagen, der durch irgendeinen glücklichen Umstand allgemeinen Anklang gefunden und sich bis heute erhalten hat. Wichtig für uns ist, daß das Wort aus alten Zeiten stammt und das Vorhandensein des Kusses nachweist.

siehe Bildunterschrift

Kuchi-sū.

Der Sonderbarkeit halber wollen wir noch erwähnen, daß man in der Gelehrtensprache den Kuß als »Jūichiban«, Nummer elf, bezeichnet, weil das K in dem englischen Wort kiss, der Kuß, der elfte Buchstabe im Abc ist.


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