Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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6. Gegenwart und Vergangenheit.

Mit Unrecht beschränkt man den sogenannten Instinct allein auf die Thierwelt, wo wir auch nur etwas damit bezeichnen, was uns durchaus dunkel ist. Auch der Mensch hat Instinct. Ich möchte Alles so nennen, was sein tiefstes Wesen, seine innersten Beziehungen zu Gott ausdrückt, mit einem Worte jene ganze Welt, welche er nur ahnt, die er mit seiner gewöhnlichen Logik nicht zu bezwingen vermag, in der er eine höhere Macht anerkennen muß, die er nur fühlt, ohne über sie zum klaren Bewußtsein kommen zu können. Dies Unmittelbarste macht das innerste Wesen des Menschen aus. Hier sprechen sich Sympathie und Antipathie aus, hier lebt das Gewissen, dessen Natur auch noch Niemand definirt hat. Was sind dagegen alle sogenannten Grundsätze, die doch meistens nur conventionelle Sätze sind! Ich habe es nie lange damit ausgehalten, und habe mich immer besser dabei befunden, wenn ich mich jenem sympathetischen Zuge überließ.


Schicksal und Individualität sind nah miteinander verbunden. Jenes ergibt sich aus dieser. Den Werth und die Bedeutung der Individualität erkennen die Menschen nicht, wenn sie auch das Wort oft genug brauchen. Man faßt sie zu allgemein auf, und kommt darum nie zu einer wahren Durchbildung. Ohne Zweifel würde ein Zustand höchster menschlicher Entwickelung erreicht werden, wenn ein jeder seine Eigenthümlichkeit kräftig und vollständig darstellen könnte; dies würde zu den reinsten und wahrsten 242 Erscheinungen führen. Nur von solchen kann man wirklich lernen, hier offenbart sich der Geist. Oft findet man dergleichen in den sogenannten ungebildeten Ständen, und im Verkehre mit solchen Menschen habe ich nicht selten meine Studien gemacht. Sie haben die Dinge wirklich in sich erlebt. Aber unsere ganze moderne Bildung geht auf die Vernichtung dieser Eigenthümlichkeit aus, sie sucht ein allgemeines, verflachendes Schema aufzustellen.


Vor der wahren, echten Bildung habe auch ich natürlich den tiefsten Respect, aber nicht vor jener gemachten, falschen, vor der Patent- und Scheinbildung, die an dem ganzen Unheil unserer Zeit schuld ist. Daß der Einzelne sich nicht nach seinen Anlagen ausbildet, sondern nur nachsprechen lernt, was andere ihm vorgesagt haben, darin liegt unser Elend. Auch sonst gescheidte Leute wollen darin Bildung und Erziehung finden, daß man die Kinder vom ersten Augenblicke anleite nachzubeten. So bleiben sie zeitlebens auf dieser Stufe stehen, ohne jemals Eigenes zu erfahren. Dieses mechanische Treiben muß alle Originalität ertödten. Wie viel Originale gab es nicht noch vor funfzig Jahren; heute begegnet man keinem einzigen mehr! Einer sieht dem anderen gleich; es ist alles Dressur, lauter Patentmenschen, lauter Patentredensarten, alles soll gemacht werden! Nichts ist lächerlicher als die Dünkelhaftigkeit der Pädagogen, die nur solche Puppen erziehen, und wähnen große Menschen zu bilden! Dabei überall Einbildung und Oberflächlichkeit! Und worauf läuft das Alles hinaus? Man wendet sich von der Natur und Wirklichkeit ab, um vor einem leeren und falschen Götzenbilde zu knien, das man Bildung nennt! Von diesem Misverständnisse kann ich auch Goethe in seinem Alter nicht freisprechen. 243


Die heutige Kindererziehung ist eine sentimentale. Es gibt keine Zucht, keinen Gehorsam! Man läßt den Kindern allen Willen statt ihn zu brechen, wie es mein Vater that, der in meiner frühern Jugend strenger gegen mich als gegen meine Geschwister war, weil ich sein Liebling war, was ich freilich erst viel später merkte. Heute schreien die Aeltern ihre Kinder als Genies aus, und sprechen mit ihnen im despectirlichen Tone von ihren Lehrern; sie schreiten gegen jede Bestrafung ein, und steigern dadurch den Trotz der Schüler. Zu meiner Zeit wurde es mehr als die Classenstrafen gefürchtet, wenn den Aeltern Anzeige von einem Schulvergehen gemacht wurde, denn sie straften noch härter als die Lehrer. Der Besuch von Kneipen durch Schüler kam fast gar nicht vor; die wirklich Schlechten kannte und verachtete man. Die meisten Verirrungen unserer Zeit, alle wurmstichigen Redensarten haben zuletzt in der schlechten Erziehung ihren Grund, und die schlecht erzogene Generation wird natürlich ihre eigenen Kinder noch schlechter erziehen. Wie das zu ändern sei bei den heutigen Lebensbedingungen ist freilich schwer zu sagen.

Auch in früherer Zeit hat es nicht an Lehrern einer solchen falschen Erziehung gefehlt, zu ihnen gehörte namentlich der steife und pedantische Campe, der ja gar Kinderbibliotheken herausgegeben hat, die mir wegen ihrer Altklugheit, Nüchternheit und Eitelkeit stets verhaßt gewesen sind. Mit welcher Wichtigkeit werden hier nicht die Kinder behandelt, welche Muster werden ihnen aufgestellt, und welche Tugenden angepriesen! Besonders die verwünschte Wohlthätigkeit! Wenn einmal ein Kind sein Butterbrot einem Armen gegeben hat, welch ein Aufheben wird nicht von einer solchen Wohlthat gemacht, und welch eine Meinung wird dadurch nicht dem Kinde von sich und seiner Tugend beigebracht! Als ich 244 einmal in Braunschweig Campe's Tochter Lotte sprach, zeigte sie mir die A-b-c-bücher ihres Vaters, und pries die Kinder glücklich, welche daraus lesen lernten und danach erzogen würden, welche herrliche und ausgezeichnete Menschen sie werden müßten!


Die falsche Humanität ist ein Zeichen unserer Zeit. Man hat die zärtlichste Sorgfalt für Verbrecher, die es in ihrem Gefängniß viel besser haben als der redliche Arme. Man zieht sie der Gesellschaft groß, statt diese durch einen raschen Proceß davon zu befreien. Das Hängen in England ist so übel nicht. Die freigelassenen Verbrecher beginnen ihr Treiben nur mit um so größerer Schlauheit. Eigenthümlich ist es, daß sich die Gesellschaft dabei immer auf ihre Seite stellt, aber die Selbstvertheidigung des ehrlichen Mannes, der durch einen Dieb angegriffen wird, wird hart bestraft.


Auch die Gewerbefreiheit, die man so gepriesen hat, gehört zu diesen modernen Erfindungen. Nicht die Zünfte hätte man aufheben sollen, aber den verkehrten Zwang, der in ihnen herrschte. Sie waren eine sehr gute Einrichtung, und konnten reformirt werden. Durch das heutige Verfahren werden Pfuscher und Stümper begünstigt und das frühe Heirathen befördert. Unreife Gesellen und Burschen, die ungeschickt und unwissend sind, fangen ihren eigenen Kram an, heirathen Köchinnen auf 30 Thaler, setzen eine Menge Kinder in die Welt, und fallen nachher dem Staate zur Last. Wo soll das hin? 245


Wie man die Emancipation der Juden fordern kann, ist mir unbegreiflich. Durch ihr Gesetz sind und bleiben sie mitten unter uns fremd; sie können sich nicht nationalisiren. Unmöglich kann man einem ganz fremden Volksstamme dieselben Rechte einräumen wie dem eigenen! Würde man es denn z. B. mit einer Negercolonie thun, wenn eine solche unter uns wäre? Was die Juden von moderner Bildung angenommen haben, ist nur äußerlich; und die meisten von ihnen, wenn sie aufrichtig sein wollten, würden bekennen müssen, daß sie sich für viel besser halten als die Christen. Ueberall drängen sie sich heute ein, überall führen sie das große Wort. Wenn das so weiter geht, werden wir am Ende nur noch eine geduldete Sekte sein.


Fortschritt ist auch eins von den vielen unverstandenen Stichwörtern. Was ist denn Fortschritt? Vieles, was als solcher gepriesen wird, ist Rückschritt. Geht die Menschheit auch nicht absolut zurück, so kann es doch scheinen als drehe man sich im Kreise herum. Gewiß ist es in vieler Hinsicht besser geworden. Man hat unendlich viel Entdeckungen gemacht in Technik, Mechanik, Chemie u. s. w., aber sind die Menschen im Allgemeinen darum besser oder auch nur klüger geworden? Vielmehr entschwindet der Geist auf der andern Seite. Diese Art des Fortschritts ist am Ende nur ein mechanischer, und ich hoffe er soll noch so weit gehen, daß ein jeder seine Miniaturlocomotive in der Westentasche bei sich tragen kann, die ihn ins Unendliche führt. Es scheint einen tiefen Grund zu haben, daß eine Entwickelung nach dieser mechanischen Seite hin jene andere tiefsinnige und productive auf dem Gebiete des reinen Geistes und Charakters ausschließt. Was man auf der einen Seite gewinnt, 246 verliert man auf der andern, und es ist die Frage, ob es bei der Eigenthümlichkeit des Menschen anders sein kann.

Sieht man auf die Weltgeschichte, welche blühende Länder waren einst Persien und Griechenland, und sie sind der Barbarei verfallen. Wie die griechischen Staaten war Rom im Besitze der höchsten Cultur, und sie ist untergegangen. Uns kann es mit unserer gepriesenen Bildung ebenso ergehen! Wie oft hat sich nicht der Zustand der neuern Völker geändert! Wo ist da der Fortschritt? Wie erhaben, groß und göttlich ist nicht das Christenthum zuerst, und mit welchem Wust von Tradition haben es Katholicismus und Priester belastet! Und machen es manche protestantische Geistliche anders? Auch unter ihnen gibt es Pfaffen; immer noch will man herrschen und bevormunden! Wenn man dagegen behauptet, die Entwickelung der Menschen sei eine Spirale, auch der Rückschritt könne ein Fortschritt sein, so kommt das einer Sophisterei doch sehr nahe! Wenn nun am Ende ein schließlicher, vollendeter Zustand als Ziel aller Entwickelung angenommen wird, wie soll man sich diesen denken?

Ist etwa unser politischer Zustand so sehr viel besser geworden als früher? Etwa seit das Reden, Deliberiren und Parlamentiren in den Kammern nicht abreißen will, was dem Lande ein ungeheures Geld kostet? Und nun gar die sogenannten Demokraten! Ich habe in meiner Jugend auch Demokraten gekannt, aber das waren doch ganz andere Leute! Was für einen moralischen Kern hatten die nicht! Aber diese Burschen von heute! Sie bilden sich ein, Alles würde besser werden, wenn man sie nur gewähren ließe! Sie sind beleidigt, wenn man sie nicht gleich als einen neuen Moses oder Solon ansehen will! Und was hört man von ihnen? Aus aller Mund stets dieselbe triviale Weisheit! 247


In meiner Jugend waren die kosmopolitischen Ideen vielleicht noch allgemeiner herrschend als heute. Wie oft habe ich nicht mit A. W. Schlegel darüber gestritten, der ihnen ganz ergeben war! Er meinte wol, es sei ganz gleichgültig, wer regiere und wie es geschehe, und am Ende je schlechter, desto besser sei es, dann werde die Wissenschaft um so freier und unabhängiger sein. In dieser Allgemeinheit habe ich solche Gedanken nie begreifen können. Immerdar habe ich das wirkliche Vaterland für das Erste und Nächste gehalten, auf das der Mensch angewiesen sei, und an das er sich halten müsse. Die kosmopolitischen Ideen haben die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts beherrscht; es hängt dies wieder mit dem Gedanken der Bildung zusammen. Auch unsere großen Dichter haben ihnen gehuldigt; Goethe, als er sich von seinen Jugenddichtungen abgewendet hatte, und ebenso Schiller.


Im Leben wie in der Geschichte kommt auf das Persönliche und Individuelle zuletzt Alles an, und keine Geschichte ist daran reicher als die deutsche. Seit Tacitus haben die Deutschen eigentlich immer denselben Charakter behauptet, und dieser ist eben das Individuelle. Sie haben einen starken Sinn für Freiheit und Unabhängigkeit, sie isoliren sich, und wollen sich in ihrer Eigenthümlichkeit entwickeln. Dies hat mit der Gleichmacherei der modernen Demokratie nichts zu thun, es ist vielmehr der gerade Gegensatz derselben. Es liegt in diesem Zuge etwas viel Tieferes, Heiligeres, was sich in einer fertigen Formel gar nicht ausdrücken läßt. Jeder will sein innerstes Wesen festhalten und darstellen. Voll Treue hängt man an den Fürsten, so lange man in diesem Punkte nicht angegriffen wird, dann aber kommen 248 Widerspruch, Trotz und Hartnäckigkeit zum Vorschein. Im Mittelalter kämpfen mit dieser Richtung auch die besten und kräftigsten Kaiser umsonst. Kaum sind sie nach Italien gegangen, so geht es in ihrem Rücken los.

Wie groß ist nicht die Zeit von Karl dem Großen bis zum Untergange der Hohenstaufen. Großartig sind die Erfolge der Regierung Karl's, wenn auch seine Politik mitunter hart, ja grausam erscheint, so gegen die Sachsen, deren Bekämpfung aber geboten war. Es war ebenso sehr ein politischer als ein Religionskrieg, beides ist in jenen Zeiten untrennbar miteinander verbunden. Da alle Zustände noch etwas Schwankendes haben, und die Existenz der Kirche selbst noch in Frage gestellt ist, wird es für die Fürsten zur Pflicht, das Leben durch kräftige Maßregeln zu schützen. Eine anziehende Erscheinung ist Wittekind, der sich nach hartem Kampfe der höhern Macht unterwirft. Es ist schade, daß wir nur das Resultat seiner Geschichte, nicht aber ihre Einzelheiten kennen. Eine große Persönlichkeit ist Heinrich I. Es liegt in seinem Charakter etwas Bescheidenes, Einfaches, ja Heiteres; und doch wie stark ist er nicht! Er rettet Deutschland vom Untergange durch seine individuelle Kraft. Gewaltig tritt Otto I. auf, und fromm, demüthig, liebenswürdig erscheint neben ihm Adelheid. Endlich die Hohenstaufen! Welche herrliche Gestalt ist nicht Friedrich I. in der reichsten Zeit des Mittelalters? Die kühnsten Pläne hatte Heinrich VI. und voll Schwung war Friedrich II., der den großen Versuch macht, seine Zeit umgestalten zu wollen. In diese Reihe der großen und glänzenden Kaiser gehört schon Rudolf von Habsburg nicht mehr hinein. Da fängt schon die schlechte Hauspolitik an; er ist klug, bürgerlich nüchtern, und doch nicht ohne harte Seiten des Charakters. Eine viel genialere Persönlichkeit ist offenbar sein Gegner Ottokar; sein Wesen 249 ist gewaltsam, aber es bewahrt den ritterlichen Glanz früherer Zeiten, denen er noch angehört.

Mit den besten Seiten des deutschen Lebens hängen auch seine Schwächen zusammen. Die individuelle Entwickelung führt zu Absonderungen, und diese zu Spaltungen, an denen unsere Geschichte nur allzu reich ist. Dies zeigt sich heute namentlich in der Politik der kleinen Fürsten und Staaten, wodurch freilich auch dem fremden Einflusse die Thür geöffnet wird. Dennoch geht durch alle diese Spaltungen ein gewisser allgemeiner Geist hindurch, eine innere Einheit und Uebereinstimmung, die bisjetzt noch nicht auszurotten gewesen ist, und ihr verdanken wir es, wenn Deutschland noch nicht Polens Schicksal gehabt hat. Diese individuelle Richtung kann im glücklichen Augenblicke noch einmal seine Größe werden. In England waren früher ähnliche Verhältnisse, aber hier siegte die Einheit. Dort nimmt Alles gleich die Richtung auf die Verfassung, und so kommt ein Gleichgewicht zu Stande, während in Frankreich die Einheit überwiegt.

Eine schöne Aufgabe wäre es, einmal die tiefen Charakterzüge des deutschen Lebens, die man das Urgermanische nennen kann, durch alle Gebiete, Staat, Kirche, Poesie und Literatur zu verfolgen und zusammenzustellen. Es würde ein echtes Bild deutschen Wesens geben.



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