Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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9. Auflösung.

Eine trübe Stimmung beherrschte ihn, als er sich im Sommer 1836 zur Reise nach Baden-Baden anschickte, das er schon 1830 und 1834 besucht hatte. Bei seiner stets regen Reiselust, war es ihm nie widerfahren, daß er unter so ängstigender Beklemmung gegangen wäre, als damals. In bedenklichem Krankheitszustande ließ er seine Frau zurück. Er glaubte sie nicht wiederzusehen, denn er schied fast mit der stillen Ueberzeugung, daß er selbst von dieser Reise nicht zurückkehren werde.

Wenig fehlte, so hätte diese Ahnung Recht gehabt. Bei Wiesloch hinter Heidelberg auf dem abschüssigen Straßendamme gingen die Pferde durch, der Wagen wurde gegen eine Mauer geschleudert, und bewußtlos zog man ihn unter den Trümmern desselben hervor. An der rechten Seite der Stirn und im Nacken war er lebensgefährlich verwundet. Man schaffte ihn zunächst nach dem Wirthshause in Wiesloch, wo mit Hülfe des dortigen Arztes der erste Verband angelegt wurde, einen zweiten Arzt holte man aus Heidelberg herbei. Sobald es sein Zustand verstattete, setzte man in Begleitung eines Arztes die Reise fort. In Baden-Baden konnte für alle erforderlichen Hülfsmittel gesorgt werden. Sechs Tage wurden unter Fieber und Schmerzen die Eisumschläge fortgesetzt, denn bei der Stärke des Falles fürchtete man eine Gehirnerschütterung. Auch dieses Mal kämpfte sich seine gute Natur durch, und der Gebrauch der Bäder förderte die Genesung. Doch behielt er ein Wahrzeichen dieses Unglücks. Den Halswirbeln blieb eine Steifigkeit zurück, die eine etwas schräge Stellung des Kopfes verursachte, und 92 zugleich an der Stirn eine Narbe. Es war ein trauriges Wiedersehen, als er im Herbst schwächer, leidender und mit vermehrten Schmerzen zu den Seinen zurückkehrte.

Auch hier fand er Krankheit. Schon seit Jahren hatte sich bei seiner sonst so kräftigen Frau ein Krankheitszustand entwickelt, der mit Wassersucht endete. Mit günstigem Erfolge überstand sie mehrere Operationen, man glaubte auf Besserung hoffen zu dürfen, doch Schwäche und Entkräftung wuchsen, ihr Leben neigte dem Ende zu.

Die langwierige Krankheit der Mutter, das gesteigerte Siechthum des Vaters, der Verlust mancher Freunde, und die wachsenden geistigen Wirren gaben auch dem Ernste, welcher in Dorothea's Charakter lag, reichen Stoff. Eine dunkle Schwermuth legte sich um ihre Seele. Sie sah in dem Leben eine Schule fortgesetzter Entsagung, und in dem vernichtenden Wechsel alles Irdischen und dem Verluste dessen, was dem Herzen am theuersten ist, fand sie nur einen Trost, der Stand halte, und nur Eines, was noth sei. Denn welche Sicherheit vermochte dieses glänzende, eine Zeit lang blendende Leben zu gewähren? Jugend und Gesundheit, mit ihren reichen Hoffnungen waren dahingeschwunden. Hatten Poesie und Kunst den innern Zwiespalt heben, die Wunden heilen können? Ein herbstlicher Reif war auf den Frühling der Poesie gefallen, und öde, kalt und traurig lagen die einst reichen Blumengefilde da. Und gab es denn überhaupt eine Zukunft auf Erden? Jede Zukunft wird einst Vergangenheit. Nur in Einem heben sich alle Gegensätze auf, nur in Einem hört Freude und Leid auf ein schmerzlicher Wechsel zu sein, im Glauben.

Unermüdlich pflegte sie ihre Mutter; sie stand ihr zur Seite während der schmerzhaften Operationen, sie saß an ihrem Bette, sie umgab sie Tag und Nacht, und freute sich jedes 93 freiern und erträglichern Augenblicks. Er ward ihr stets ein neues göttliches Geschenk, und darum schien es ihr eine Wohlthat, daß es auf Erden keinen dauernden Besitz gebe. Sie sah in den Leiden eine fortwährende Erlösung, und in jedem Schmerze eine tiefere Einführung in die göttlichen Geheimnisse.

Endlich fiel der lange gefürchtete Schlag. Am 11. Februar 1837 erlag Tieck's Frau ihrer Krankheit. Für alle war es ein schwerer Verlust. Dorothea fühlte, eine Hälfte des Lebens sei von ihr losgerissen. Sie wußte, was sie ihrem kranken, tiefgebeugten Vater sei, daß sie für ihn leben müsse, daß er sie nicht entbehren könne, dennoch ward es bei ihr zur Ueberzeugung, daß auch ihr Tod nicht mehr fern sei. Ihr Leben war eine fortgesetzte Vorbereitung darauf.

Nicht, daß sie jede Thätigkeit aufgegeben hätte, vielmehr eifriger ward sie als je, jede Minute Zeit kaufte sie aus, aber alle Thätigkeit hatte nur einen Zweck, nur ein Ziel. Ihre literarischen Arbeiten und Studien sah sie als eine ihr auferlegte Pflicht an. Nicht lange vor dem Tode der Mutter hatte sie die Uebersetzung der »Leiden des Persiles und der Sigesmunde« beendet. Jetzt übernahm sie auf Raumer's Rath, und unter seiner Leitung, die Bearbeitung von Spark's »Leben und Briefen Washington's«. Auch die Beschäftigung mit den alten Sprachen setzte sie fort, aber immer mehr gewann dieses Studium einen religiösen, kirchlichen Charakter. Sie las die Schriften des heiligen Bernhard, der heiligen Therese, dann das neue Testament im Urtexte, endlich lernte sie Hebräisch. Auch ihre Theilnahme an den Künsten, besonders der Musik, hatte diese Richtung. Sie studirte Generalbaß, um die alten kirchlichen Meister zu verstehen. Mit tiefster Erschütterung hörte sie Bach's Passion; dann glaubte sie, wie sie sagte, am Kreuze Christi selbst zu 94 stehen. Denn was war alles Wissen? Ihr Wahlspruch ward: »Christum lieb haben ist besser denn alles Wissen.«

Eine kirchlich praktische Thätigkeit wollte sie sich schaffen. Mit der Frühmesse begann sie ihren Tag. Die erste im Hause erhob sie sich, und eilte jeden Morgen um sechs Uhr zur katholischen Kirche. Mit der Laterne ging sie im Winter über die dunkeln Plätze und Straßen; die Jahreszeit machte keinen Unterschied, nicht Wind, nicht Wetter scheute sie. Dann erst fing ihr weltlicher Tag an. Sie ward Mitglied eines katholischen Frauenvereins, und übernahm in einer Armenschule den Unterricht in weiblichen Handarbeiten. Hier saß sie oft des Nachmittags in der Mitte verwildeter Mädchen, und suchte sie in den ersten Handgriffen zu unterrichten. Für die Aermsten unter ihnen fertigte sie zu Hause die nothwendigsten Kleidungsstücke an. Sie that abermals einen tiefen Blick in das menschliche Leben. Wie viel leibliches Elend, wie viel geistige Noth und Versunkenheit gab es in diesen dunkeln Regionen. Den Lehren und Heilsmitteln ihrer Kirche gab sie sich ganz hin, Symbole und Cultus umfaßte sie mit vollem Glauben, die Kirche war das Heil und der Trost, sie der Fels, der Rettung verhieß, wenn die Welt um sie her versank.

Während sie so auf den Tod bedacht war, riß er ein anderes volles, blühendes Leben von ihrer Seite. Unerwartet starb am 14. Februar 1839 Adelheid Reinbold. Auch sie trug manchen Kummer im Herzen, aber sie stellte der Noth des Lebens den Kampf entgegen, und suchte die Welt in der Welt zu bezwingen. Obgleich niedergedrückt durch die geringe Anerkennung, welche ihre Dichtungen im Allgemeinen fanden, hoffte sie dennoch, und jetzt mehr als früher. Ihre letzte Novelle in der »Urania« war beifällig aufgenommen, und die ersten Bogen ihres »König Sebastian« ihr soeben zugesandt worden. Da nahm ein leichtes und wenig 95 beachtetes Halsübel plötzlich eine lebensgefährliche Wendung. Es ward zur brandigen Bräune; in acht Tagen war sie todt.

Ein jäher Schreck traf alle Freunde. Mitten aus einer vollen, wenn auch oft angestrengten Thätigkeit, in der Blüte der Jahre war sie hingerafft worden. Durch ihre Heiterkeit, ihre lebhafte und geistvolle Unterhaltung, ihre hülfreiche und entgegenkommende Theilnahme bei allen Vorfällen des Lebens hatte sie sich ihren Freunden unentbehrlich gemacht. Eine zweite nicht zu füllende Lücke war entstanden. In Tieck's geselligen Kreisen begann es stiller zu werden. Ihre Grenzen zogen sich enger zusammen, mehr auf die ältesten und vertrautesten Freunde beschränkte man sich. Das sonst an Abwechselungen reiche Leben nahm eine eintönige und dunkle Farbe an. Todesfälle, steigende Kränklichkeit, das Unbefriedigende der literarischen Verhältnisse vereinten sich, um die trübe Stimmung zur herrschenden zu machen.

Auch das Theater gewährte keine Zerstreuung mehr. Einen Kunstgenuß, selbst ein augenblickliches Vergnügen hatte Tieck seit vielen Jahren dort nicht mehr gesucht, aber immer noch hatte er ihm seine Theilnahme erhalten. Er suchte zu fördern, zu helfen, er wünschte das Gute zu entwickeln, wo es sich noch zeigte, er warnte vor Uebelständen, die der Verderb der Bühne werden mußten. Die glänzenden Gestalten, welche seine Jugenderinnerung bewahrte, waren freilich nicht herzustellen, aber er ward doch nicht müde, darauf hinzuweisen und eine Annäherung zu versuchen. Immer noch sah er in dem Theater eine wichtige, und für das Volk bedeutsame Anstalt, welcher er durch seine Erfahrung und Kenntniß zu nützen dachte. Aber auch dies Interesse erlosch. Er begann sich von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen zu überzeugen, er ward gleichgültig und theilnahmlos.

96 Sonderbares Geschick der größten deutschen Dichter, die in glaubensvoller Begeisterung einen Theil ihres Lebens an dieses Institut setzten, um es zu einer künstlerischen und sittlichen Schule zu machen, und sich dann enttäuscht, verstimmt, voll Entrüstung, ja Verachtung von demselben abwandten! Voll Bitterkeit hatte Lessing über den gutherzigen Einfall gelacht, ein nationales Theater haben zu wollen, da wir Deutsche ja noch keine Nation seien; umsonst hatte Schiller sich gemüht, Goethe hatte die Breter vor einem Hunde räumen müssen, und Immermann gab seine mit jugendlichem Muthe unternommenen Versuche bald wieder auf. Keiner von ihnen hatte an der ausübenden Kunst des Theaters selbst mehr Antheil, Keiner hatte einen größern Glauben gehabt als Tieck, und wie er das Theater ein ganzes Leben hindurch verfolgt; und auch er nahm die Ueberzeugung von der vollständigen Versunkenheit der Bühne mit sich fort. Siebzig Jahre nach Lessing, nach Schiller, nach Goethe und seiner eigenen langen Thätigkeit kam er auf die Grundfrage zurück, ob die Deutschen überhaupt eine dramatische Nation seien. Er war geneigt, diese Frage mit Nein zu beantworten!

Dichter und Schauspieler, Publicum und Kritiker sah er einer gleichen Verwilderung entgegengehen. Wie viel schlimmer war es nicht in den letzten dreißig Jahren seit Müllner geworden! In Müllner erkannte Tieck ein starkes, fast massives und handfestes Talent; um so übler war es, wenn es sich verirrte und das Publicum mit allen Schreckmitteln bearbeitete. Die Flut der Schicksalstragödien brach ein. Auf Müllner folgten Grillparzer und Houwald und andere Nachahmer. In diesen Dramen, wo die sittliche Freiheit aufhörte, sollte das Verbrechen als solches interessiren, es sollte Tragik, Poesie sein! Das Rohe, das Gräßliche verband sich mit dem Abgeschmackten, und sich selbst überschlagend, machte 97 es beinahe eine komische Wirkung. Sonderbar ging die antike Schicksalsidee mit Calderon's Wunderglauben zusammen, und beides wurde in das alte pedantische Schema der drei Einheiten hineingezwängt.

In grellerm Contraste stand damit die leichte Fabrik- und Dutzendarbeit der französischen Vaudevilles, mit denen der deutsche Markt nicht minder überschwemmt wurde, und die trocken docirenden historischen Trauerspiele der folgenden Jahre. Der Prunk in Oper und Ballet, die Pedanterie des sogenannten historischen Costüms trugen dazu bei, die Phantasie des Zuschauers träger zu machen. Und was sollte Tieck von einem Publicum denken, das Stücke von Calderon und Shakspeare, die er einstudirt hatte, auspochte? Eine armselige Rolle spielte die Kritik. Ueberall Oberflächlichkeit, Halbwisserei, oft Unkenntniß des Ersten und Unerläßlichsten. Um eine Theaterkritik zu schreiben, brachte, wer soeben der Schule entlaufen war, immer noch genug mit. Nirgend galt es der Sache. Schmähungen, durch irgendein Parteiinteresse eingegeben, wechselten mit abgeschmackten Liebeserklärungen, und Klatschgeschichten wurden in den Correspondenzen gelesener Journale und obscurer Winkelblätter breitgetreten. Mit Ueberdruß wandte sich Tieck von diesem Treiben ab.

Auch seine persönliche Wirksamkeit am dresdener Theater erfuhr manche Hemmung. Vieles davon kam auf Rechnung der allgemeinen Stimmung und des Zeitgeschmacks, Anderes lag in Verhältnissen, die sich mit dem besten Willen nicht ändern ließen. Er selbst war nicht immer im Stande, mit gleichmäßiger Kraft einzugreifen. Der Vorwurf ward laut, er erfülle die Erwartungen nicht. Dann stieß er bei Schauspielern und Kritikern auf entschiedenen Widerspruch. Einige schlossen sich ihm freundschaftlich an, Andere zeigten sich reizbar, rechthaberisch und eitel; sie glaubten einer 98 Leitung nicht zu bedürfen, und die Sache mindestens ebenso gut zu verstehen. Sprach er einmal ein entschiedenes Wort, so erhob sich der Ruf, daß er tyrannisch verfolge und unterdrücke, und durch alle Instanzen hindurch, bis hinauf zu den höchsten, verklagte man ihn. So fanden seine Ansichten, sein Vorlesen, sein Einstudiren der Rollen bei denen, auf die er zunächst wirken sollte, vielleicht die geringste Anerkennung. Der Gedanke, sich aus allen diesen Verwickelungen zu befreien, und ein undankbares Geschäft aufzugeben, kam zur Reife.

Unter diesen Verlusten und Widerwärtigkeiten sammelte er dennoch Kräfte zu einem größern Werke. Im Juli 1840 vollendete er die 1836 begonnene »Vittoria Accorombona«. Es war seine letzte Dichtung. Er nannte es nicht Novelle, sondern Roman; es war ein ausgeführtes Zeitbild, das dem historischen Roman nach Walter Scott eine neue Richtung gab. Die volle schöpferische Phantasie trat noch einmal hervor und führte in die Welt verzehrender Leidenschaft und schwarzen Verbrechens ein. Dies Bild Italiens am Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts war ein furchtbares Nachtstück, das an manche seiner Jugenddichtungen erinnerte. Auch in dieser letzten seines Alters lag etwas Herbes, Gewaltsames, Dämonisches. Er schilderte einen hohen, starken Charakter, der inmitten einer verderbten und ruchlosen Zeit sich im Bewußtsein der Kraft überhebt, und in den allgemeinen Sturz hinabgezogen wird. Auch hatte dieser Stoff zuerst in der Jugend, vor fast funfzig Jahren, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein altenglisches Drama in Dodsley's Sammlung hatte ihn 1792 in Göttingen darauf hingeleitet.

Der Eindruck war ein getheilter. Indem man die frische Kraft des Dichters anerkannte, wurde Einzelnes sittlich anstößig, das Ganze im Geschmacke der sogenannten 99 französischen Romantik gefunden. Die strengsten Kritiker sahen ihn auf dem Wege, zu den Feinden überzugehen, zu den Schriftstellern der Emancipation und des gesellschaftlichen Radicalismus. Von Allem, was die Anklage so zuversichtlich gegen ihn aussprach, wußte er sich frei, nichts davon hatte er gewollt oder beabsichtigt.

Auch das Jahr 1840 war durch einen Todesfall bezeichnet. Immermann, der fast dreißig Jahre jüngere Freund, starb in einem Augenblicke, wo er zum ersten Male allgemeine Anerkennung fand. In seinem letzten Briefe hatte er Tieck mitgetheilt, daß er mit der Erneuerung von »Tristan und Isolde« beschäftigt sei. Es war ihm nicht vergönnt, dieses Werk zu vollenden.

Endlich erfüllte sich auch die Todesahnung, welche sich bei Dorothea Tieck zur festen Ueberzeugung gesteigert hatte. Die Studien, die häuslichen Beschäftigungen, ihre Wohlthätigkeit hatte sie ununterbrochen fortgesetzt. Weder innere Bewegungen noch wankende Gesundheit konnte sie bestimmen, von dem streng geregelten Gange ihrer Zeiteintheilung abzuweichen. Im Anfange des Februar 1841 erkrankte sie an den Masern. Als dies überwunden schien, trat plötzlich ein Nervenfieber hinzu. Sie starb am 21. Februar, vierzehn Tage nach der Erkrankung. Es waren dieselben Wochen, in denen vor zwei Jahren Adelheid Reinbold, vor vier Jahren die Mutter gestorben war.

Vom ersten Augenblicke hatte Tieck das Schlimmste gefürchtet. Eine tödtliche Angst und Unruhe quälte ihn. Mit diesem Leben wurde Vieles von ihm losgerissen, sein eigenes wankte. Wie nimmer war seine Natur in ihren Grundlagen angegriffen worden, es faßte ihn ein krampfhaftes, zusammenpressendes Schmerzgefühl, das vergebens nach einem Ausdrucke rang. Kalt, starr, thränenlos, ohne ein Wort oder irgendeinen Laut zu finden, verbarg er sich in dem entlegensten Zimmer. Keinen Menschen wollte er sehen, keinen Zuspruch hören; die Stunden, Tag und 100 Nacht gingen gleichgültig und unbemerkt an ihm vorüber. Für seine Umgebung hatte dieses stumpfe Hinstarren etwas Schreckenerregendes. Am Tage der Beerdigung übersandte die Königin einen reichen Blumenkranz. Als man ihm davon Nachricht gab, fand er die ersten Thränen.

Tief bewegt waren seine zahlreichen Freunde, und die wenigen, welche die schweren Kämpfe der Hingeschiedenen gekannt hatten. Wer wußte, was sie dem Vater gewesen war, konnte zweifeln, ob er diesen Schlag verschmerzen, und im Stande sein werde, das Leben noch fernerhin zu tragen. Wie ihre Gesichtszüge ein Abbild der seinen waren, so besaß sie einen Theil seines reichen Geistes; seine Liebe für Dichtung, Sprachen und Literatur, die Beweglichkeit des Talents, die tiefe Empfindung, den sinnenden Ernst und die dunkle Schwermuth, die ihm so oft das Leben verhüllte. Sie hatte ihm zur Seite gestanden, sie theilte seine Arbeiten und Studien und den dichterischen Ruhm. Konnte er auch die Abgeschlossenheit ihres kirchlichen Glaubens weder annehmen noch überall billigen, so war dieser Gegensatz doch nur selten hervorgetreten, da sie bei aller Stärke der Ueberzeugung von Unduldsamkeit fern war.

Seine Kränklichkeit nahm zu, das Alter war da, die besten Kräfte dahingeschwunden; seine Arbeiten widerstanden ihm, das Leben ward ihm zur Last. War es möglich, es noch lange in dieser Weise zu tragen?

Aber noch war das Ende nicht da. Noch ein letzter Act sollte beginnen. Wenige Tage nach dem Tode der Tochter traf ein Brief aus Berlin ein. Er brachte eine königliche Einladung, den Sommer in Potsdam zu wohnen. Tieck's Entschluß war gefaßt; er folgte diesem Rufe. Er wurde Berlin, seiner Vaterstadt, wiedergegeben. 101

 


 


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