Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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9. Verlust und Versuchung.

Doch auch jenes künstlerische Stillleben sollte ein Ende nehmen. Hier zuerst hatte sich den Freunden eine Welt erschlossen, in welcher sie sich dem Alltäglichen entrückt fühlten. Innig verbunden durch Talent und Freundschaft, im Bewußtsein der ersten frischen Kraft, getragen von überschwellender Begeisterung für Dichtung und Kunst, hatten sie Augenblicke 96 reinen Glücks und jugendlicher Seligkeit genossen. Aber es war nur ein Augenblick, in dem die Strahlen zum vollen Farbenspiele sich verbanden, und dieser Augenblick war entflohen, als man ihn am sehnlichsten zu halten gewünscht hätte. Langsam und allmälig hatte dieser Freundeskreis sich zusammengefunden, rasch löste er sich wieder. Schon hatte der Tod seine Hand über ihn ausgestreckt, und schmerzliche Erfahrungen kamen an die Reihe.

Viering, der Freund, dessen Witz und Laune die Gefährten so oft erheitert hatten, schied zuerst aus. Er wurde das Opfer eines knabenhaften Vorwitzes, dessen Versuchungen er mitten im künstlerischen Aufschwunge nicht widerstehen konnte. An einem Winternachmittage hatte Ludwig seine Freunde Viering und Hensler auf einem Spaziergange vor das Kottbuser Thor begleitet. Scherzend und lachend kam man an einen Graben, den bereits eine leichte Eisrinde deckte. Voll Uebermuth rief Viering, ob man sich wol entschließen würde, in das eisige Wasser zu springen. Hensler antwortete zweifelnd; man ereiferte sich, und sobald Ehrgeiz und Eitelkeit sich einmal verletzt fühlten, überboten sich Beide in knabenhafter Weise. Jeder wollte den Andern überführen, er besitze männliche Entschlossenheit genug, um dieses Probestück des Muthes und der Abhärtung auf der Stelle zu wagen. Ludwig stellte ihnen das Kindische, das Lächerliche eines solchen Ehrgeizes vor, er bat, ermahnte, schalt. Ohne daß er es hindern konnte, warfen sich Beide in das Wasser. Durchnäßt, erstarrt eilten sie dann nach Hause. Viering erkrankte gleich darauf heftig; er verfiel in ein hitziges Fieber, in acht Tagen war er todt. Hensler kam ohne erheblichen Nachtheil für seine Gesundheit davon.

Aber auch andere Lücken traten ein. Schon früher war Piesker nach Wittenberg gegangen, um dort die Rechte zu 97 studiren. Zu gleichem Zwecke hatte sich Toll Ostern 1790 nach Frankfurt begeben.

Mit angestrengtem Fleiße hatte er auf der Schule gearbeitet, und da er auch an den künstlerischen Spielen lebhaften Antheil nahm, manche Nacht geopfert. Durch starke körperliche Uebungen suchte er dann das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen. Schon damals war sein Gesicht von einer unheilkündenden Blässe überzogen. Als Student setzte er diese Lebensart fort. Aber noch etwas Anderes zehrte an ihm. Er hatte eine heftige Neigung zu Reichardt's älterer Schwägerin, Marie Alberti, gefaßt. Zwar blieb sie nicht unerwidert, aber für jetzt hatte sie wenig Aussicht auf Erfüllung. Die Trennung steigerte seine Leidenschaft, die Sehnsucht trieb ihn nach Berlin zurück. Seine Gesundheit wankte. Darauf wurde er in Frankfurt von einem Nervenfieber ergriffen und erkrankte tödtlich. Seine Freunde eilten Ludwig von dem drohenden Verluste zu benachrichtigen; zugleich baten sie ihn, bei Reichardt zu vermitteln, daß er seiner Schwägerin nach Frankfurt zu reisen erlauben möge. Von ihrem Erscheinen hoffte man eine günstige Wendung für den Kranken.

Ludwig that, was man gewünscht hatte. Für ihn selbst war diese Nachricht ein Donnerschlag. Wie hatte er gerade diesen Freund geliebt, sich an ihn gelehnt, in dem sich Geist und Anmuth der Form mit einem festen, männlichen Charakter verband! Mit jeder Stunde stieg die bange quälende Erwartung. Er trug es nicht länger. Wie er ging und stand, zu Fuß, machte er sich auf den Weg nach Frankfurt. Er dachte nicht an die Folgen dieses eigenmächtigen Entschlusses, nicht an die Anstrengung des Weges. Er wollte Gewißheit haben, womöglich den Freund noch einmal sehen.

Es war im Herbst des Jahres 1790. Trübe und kalte Wolken bedeckten den Himmel, es regnete. In athemloser Eile 98 trieb ihn der Gedanke an den sterbenden Freund unaufhaltsam vorwärts. Nicht genug konnte er seine Schritte beschleunigen; zuweilen brach er in lautes Weinen aus. Erst spät in der Nacht gönnte er sich Ruhe in einer gewöhnlichen Herberge. Kaum graute der Tag, so eilte er weiter. Es gab für ihn keinen Schlaf, er fühlte keine Ermattung, keinen Durst oder Hunger. Bei Madlitz, dem Schlosse des Grafen Finkenstein, kam er vorüber. Er warf einen halben Blick auf den Park, der in Nebelregen gehüllt, trüb und entblättert vor ihm lag. Ahnte er, daß ihm dieses Haus einst eine heimatliche Stätte sein werde? Abgemattet von Anstrengung und innerer Angst, durchnäßt von dem strömenden Regen, mit beschmuzten Kleidern kam er endlich in Frankfurt an. Er eilte nach Toll's Wohnung. Da fand er den Freund bereits auf der Bahre. Man hatte die Leiche ausgestellt, eine feierliche Bestattung ward vorbereitet. Marschälle mit Stäben umgaben den Sarg. Ludwig trat hinzu, sie wehrten ihn ab. Wild und wüst, wie er aussah, hielt man ihn für einen unbefugten Eindringling. Voll Schmerz zog er sich zurück. Verwandte seines verstorbenen Freundes nahmen ihn für die nächsten Tage auf.

Das Begräbniß erfolgte mit allem studentischen Prunke. Ludwig wohnte ihm als Leidtragender bei. Am Grabe sprach ein Student einige Worte der Erinnerung, Heinrich Zschokke aus Magdeburg.Dieser Rede, die er am Grabe Toll's gehalten, gedenkt auch Zschokke in seiner »Selbstschau«, I, 40. Früher Theaterdichter bei der Schauspielertruppe in Landsberg, hatte dieser sich erst spät entschlossen, zu studiren. Seine mannichfachen Erfahrungen, sein männlich ausgebildetes Wesen und Derbheit hatten ihm unter den Studenten bedeutendes Ansehen erworben. Ludwig machte seine persönliche Bekanntschaft, doch weder die Stimmung noch der Augenblick waren zu weiterer Annäherung geeignet. In trauriger Leere des Herzens kehrte er nach Berlin zurück. 99 Es war der schwerste Verlust, welchen er noch erlitten hatte, und lange Zeit dauerte es, ehe diese Wunde sich schloß.

Die Erfahrungen der letzten Zeit hatten überhaupt einen erschütternden Eindruck auf ihn gemacht; sie gewannen einen tiefen, bleibenden Einfluß, der sein Wesen umzugestalten schien. Oder vielmehr eine andere dunklere Seite desselben, die bisher von manchen glücklichen Erfolgen bedeckt worden war, fing an hervorzutreten. In der Stille war mit der Lust auch der Schmerz, mit dem Uebermuthe auch die Schwermuth gewachsen. Mit immer düsterern Blicken begann er das Leben zu betrachten. Seit jene ernste, heftig freundschaftliche Neigung abgewiesen worden, waren trübe Stimmungen und rascher Wechsel von ausgelassener Laune und finsterer Selbstpeinigung bei ihm häufig geworden. Seitdem hatte er jenen unglücklichen Soldaten einer Grausamkeit erliegen sehen, welche in der Gestalt des Rechts auftrat; einen Freund hatte er als Opfer kindischer Thorheit, den andern in der Fülle der Kraft und Hoffnung verloren. Warf er einen Blick auf das, was man Bildung und Aufklärung nannte, auf das Glauben und Wissen der Zeit, wie armselig erschien ihm beides! Er sah, wie Dünkel und Hochmuth sich blähten, wie die Unwissenheit Orakel ertheilte, welche man gläubig aufnahm, während man die wirklich Einsichtigen verhöhnte; wie man zu wissen wähnte oder vorgab, wo man wie die Menge im Dunkeln tappte. Auch ihn hatte man misverstanden, verkannt, seine tiefsten Ueberzeugungen gebieterisch abgewiesen. Und was wußte er am Ende von diesen selbst zu sagen? Wie oft trat nicht der Zweifel an die Stelle der Zuversicht! Wenn in einem Augenblicke die Welt zu seinen Füßen zu liegen schien, wie schwach, ohnmächtig, vernichtet fühlte er sich oft nicht im nächsten! Ueberall, wohin er blickte, ein Jagen und Rennen, ein Kämpfen und Ringen, ein Jauchzen und Klagen, 100 unaufhörlich, immer wieder von neuem beginnend! Was wollte das Alles? Wo war der Mittelpunkt, um welchen dieser dunkle und wirre Knäuel von Arbeit und Mühsal, Kampf und Schmerz, Wahn und Thorheit sich drehte?

Es gab Zeiten, wo das Gefühl alles Jammers und Elends seine Seele mit furchtbarer Gewalt ergriff, wo ein dumpfer Schmerz sich seiner bemächtigte, durch welchen immer wieder die Frage hindurchhallte, auf die er keine Antwort hatte, Wozu? Warum? Ist es ein ewig in sich wiederkehrender Kreislauf, oder gibt es ein Ziel für diese verschlungenen Wege? Und wenn das, wo liegt es? Wo gibt es Aufschluß und Gewißheit? So stand er vor den Grundfragen des Daseins, und mühte sich vergebens sie auszudenken.

Aber Gott, Gott lebte doch! Zeugte nicht sein eigenes Herz von ihm? In sich fühlte er eine tiefe Bewegung, das Bedürfniß, den Gedanken Gottes sich näher zu bringen, ihn zu fassen, festzuhalten. Aber wie sollte er ihn bewältigen? Mir niederschmetternder Gewalt, mit unendlicher Furchtbarkeit stand er vor ihm; das Gefühl der tiefsten Schwäche, der vollständigsten Unzulänglichkeit warf ihn zu Boden. Je mehr er sich in den Gedanken des einen, ewigen, unendlichen Gottes zu versenken strebte, desto unergründlicher zeigte er sich; je mehr er ihn mit tödtlicher Angst suchte, desto tiefer schien er in eine ungewisse und nebelhafte Ferne zu entweichen. Es war ihm, als stehe er am Rande eines unabsehbaren, schwarzen Abgrundes, in den er hineinstürzen müsse. Dann wieder, als blicke er zu der schwindelnden Höhe eines unerreichbar steilen Gipfels empor, bis er selbst von jähem Schwindel ergriffen niederfalle. Diese Angst steigerte sich bis zum wirklichen Schwindel, zum körperlichen Schmerz. Wenn seine Seele, Zeit und Raum vergessend, lange über diesen Abgründen geschwebt hatte, fühlte er es plötzlich wie einen 101 nervenzerreißenden Stoß durch das Gehirn dröhnen. Unter den Schauern tiefsten Grausens fuhr er aus seinen Träumereien empor; er war erschöpft, ohnmächtig. Auf diesem Wege lag der Wahnsinn!

Konnte denn der Mensch die Fülle und Tiefe der göttlichen Gedanken überhaupt in sich aufnehmen? Mußte der unfaßbare Inhalt nicht das schwache Gefäß zersprengen? Die Kluft war so unermeßlich tief, so unausfüllbar; es schien so unmöglich, von der menschlichen Seite nach der Gottes hinüberzureichen, daß schon darum die göttliche Liebe eine Vermittelung geben mußte, um ihr Geschöpf nicht der vernichtenden Verzweiflung zum Raube werden zu lassen. Aber nur selten gelang es ihm, diese tröstliche Ueberzeugung festzuhalten, und immer wieder von neuem fühlte er sich in jene tödtliche Angst hineingeschreckt.

So ergriff ihn denn zu Zeiten die vollste Trostlosigkeit, ja Verzweiflung. Er wurde sich selbst ein unlösbares Räthsel, ein Gegenstand des Schreckens, des Entsetzens. Fremd, unkenntlich, als ein Anderer stand er sich selbst gegenüber. Mit diesen schwindelnden Gedanken verbanden sich die entsetzlichen Bilder seiner Phantasie. Sie warf ihre finstern, grauenhaften Schatten vor ihm her. Gespenstisch sah er von außen die Gestalten auf sich zuschreiten, welche aus der Tiefe seines Innern aufstiegen. Dann packte es ihn mit der Fiebergewalt des Wahnsinns, gleichviel wo er war, ob allein oder unter Menschen. Die Balken schienen über ihm zusammenzubrechen, es jagte ihn hinaus auf die Straßen, ins Freie. Da erst schöpfte er Athem.

Als er einmal im Begriff war, in das Theater zu gehen, um den »Macbeth« zu sehen, überfiel ihn plötzlich jenes Grauen. Er konnte es nicht über sich gewinnen, einen Schritt weiterzugehen; er kehrte um. Athemlos lief er belebtern 102 Straßen zu, um sich selbst zu entfliehen. Auch das helle, nüchterne Schulzimmer war keine Freistatt, die ihn vor seinen Furien schützte. Freunde und Mitschüler erschienen ihm plötzlich fremd und verwandelt, ihre Gesichter verzerrten sich zu grinsenden Larven. Mit jedem Augenblicke stieg seine Angst; sie umringten ihn, sie schienen sich seiner zu bemächtigen. Er stürzte hinaus; in gewaltsam hervorbrechenden, unaufhaltsamen Thränen machte er seinem, von starrem Entsetzen zusammengepreßten Herzen Luft. Erst nach einer halben Stunde oder später vermochte er zu seinen Mitschülern zurückzukehren.

Nach solchen Anfällen versank er stets in tiefere Hoffnungslosigkeit. Er verzweifelte an seinem Leben, am Dasein, an jeder höhern ordnenden und leitenden Macht. Alles schien ihm gleich nichtig, gleich widersinnig, der Mensch gehetzt wie ein scheues Wild, eine Beute qualvoller Widersprüche, endloser Plagen, geistigen und körperlichen Elends. Nur der Tod war ein sicheres Heilmittel. Die Versuchung des Selbstmords stieg in ihm auf.

Oder andere verzweiflungsvolle Gedanken umdrängten ihn. Nicht das Gute, das Böse beherrscht die Welt! Ein Ausfluß dieser herrschenden Macht sind die Qualen, denen der Mensch unterworfen ist. Wie, wenn es möglich wäre, sich mit dieser Macht in irgendeine unmittelbare Verbindung zu setzen? Sollte es ihr nicht möglich sein, sich in sinnlicher Erscheinung zu zeigen? Gibt es einen bösen Dämon, einen Teufel, einen sinnlich wahrnehmbaren Vertreter des Bösen, sollte es dann kein Mittel geben, welches ihn zwänge, aus seiner Verborgenheit hervorzutreten? Mit seinen gräßlichen Phantasien verband sich nun das zur fixen Idee steigende Verlangen, den Teufel mit eigenen Augen zu sehen. Eine wahnwitzige Tollkühnheit ergriff ihn.

103 Schon früher hatte er angefangen, auf einsamen, nächtlichen Spaziergängen umherzuirren. In den entlegenen Theilen der Stadt, vor den Thoren suchte er die Kirchhöfe auf. Bis in die Nacht hinein saß er dumpf brütend auf den Gräbern, bis ihm die Glieder erstarrten. Gibt es einen bösen Dämon, dachte er, so muß er dem Rufe einer Seele folgen, die mit voller, innerster Willenskraft seine Erscheinung fordert. In steigendem Wahnwitze rief er dann durch die Nacht, der Teufel solle ihm erscheinen. Aber Alles blieb still, nur sein eigener Ruf hallte gespenstisch zu ihm zurück. Er erwachte voll Entsetzen und eilte nach Hause. So führte er Tage und Nächte lang ein angstvolles Traumleben, und nachtwandlerisch streifte er hin am Abgrunde des Wahnsinns.

Aus diesen wiederkehrenden Anfällen entwickelte sich endlich ein Zustand innerer Versunkenheit, dauernder Schwermuth, welche auch die freien Augenblicke mit einer ihm wohlthuenden Dumpfheit umspann, aus der er gewaltsam aufgerüttelt werden mußte. Sein Wesen war verändert. Er war zerstreut, vergeßlich, er sah und hörte nicht, von einem Gedanken war alles Andere verschlungen. Seinen Gefährten erschien er sonderbar, unerklärlich. Zuweilen nahmen sie zu komischen Mitteln ihre Zuflucht, um ihn ins Leben zurückzurufen. Wenn er in ihrem Kreise in sich versank, seine Umgebung, Zeit und Ort vergaß, dann ließen sie eine Weckeruhr schlagen, deren unaufhörlich gellendes Hämmern ihn endlich wieder zu sich brachte.

Solche Augenblicke der Bewußtlosigkeit bereiteten ihm auch nicht selten halb lächerliche, halb grauenhafte Verlegenheiten. Als ihn einst sein Weg durch die Markgrafenstraße führte, fiel es wieder wie ein Schleier auf ihn. Er wußte nicht, wo er war. Mit voller Deutlichkeit sah er die Menschen an sich vorübergehen, er wußte, daß ihm diese Häuser, diese 104 Straßenecken bekannt seien, dennoch konnte er sich nicht sagen, wo er eigentlich sei. War er in Frankfurt, in Brandenburg oder in Potsdam? Dies waren die bedeutendsten Städte, die er außer Berlin gesehen hatte. In welcher von diesen war er? Dieses Gefühl der Unsicherheit, der Bewußtlosigkeit steigerte sich bis zur quälenden Angst. Er mußte ihr ein Ende machen. Es durchzuckte ihn der Gedanke, daß er sich dem Verdachte des Irrseins aussetze, dennoch beschloß er, irgendeinen der Vorübergehenden anzureden, um sich aus diesem Zustande zu retten. Aber nicht Jedem durfte er mit seiner Frage kommen. Schüchtern trat er auf einen ältlichen Mann zu, dessen Mienen ihm Zutrauen einflößten. »Sie sind in der Markgrafenstraße« lautete die Antwort. Seine Verlegenheit stieg; das hatte er auch gewußt. Stammelnd, unter manchen Entschuldigungen brachte er endlich heraus, er wisse nicht, in welcher Stadt er sei. Der Angeredete maß ihn mit großen Augen und rief dann unwillig: »Das geht zu weit, sich solchen Spaß zu erlauben!« Ludwig wollte reden; jener ließ ihn nicht zu Worte kommen. »An Ihrer Sprache höre ich, Sie sind ein berliner Kind, und Sie sind dreist genug, mir einbilden zu wollen, Sie wüßten nicht, daß Sie in Berlin selbst sind?« Als Ludwig zu betheuern fortfuhr, nichts habe ihm ferner gelegen, als ein schaler Spaß dieser Art; in einer augenblicklichen Zerstreutheit habe er sich in der That nicht zurechtfinden können, sagte der Andere: »Schämen Sie sich, junger Mann! Wie kommen Sie in Ihrem Alter zu einer so unleidlichen Affectation? Versuchen Sie dergleichen nicht wieder, Sie könnten zum zweiten Male schlimmer ankommen!«

Tief beschämt blieb er stehen. Er kam sich in diesem Augenblicke unendlich abgeschmackt vor. Jener hielt ihn für einen muthwilligen Possenreißer oder einen eiteln Thoren. 105 Das Bedenkliche seines Gemüthszustandes trat ihm klar entgegen; er erkannte, wohin solche Abirrungen führen müßten. Er legte sich das Gelübde ab, ihnen, wie den Stimmungen, aus welchen sie hervorgingen, mit aller Kraft entgegenzuarbeiten. Freilich durch einen einfachen Act des Willens allein ließ sich seine schwere Seelenkrankheit nicht heben.

Aber öffnete sich denn aus diesen grauenhaften Irrgängen kein Weg der Rettung? Gab es kein Heilmittel, welches ihn seinen Leiden entrissen hätte? Wie tief sehnte er sich nicht in freien Augenblicken nach Ruhe, nach der Stille innern Friedens! Was konnten ihm in solchen Zuständen die gewöhnlichen sogenannten Zerstreuungen sein, oder auch das oberflächliche Zureden der meisten seiner Gefährten, die seine Stimmung nicht begriffen, und kaum eine Ahnung davon hatten, worum es sich hier handle! Die Fesseln der geregelten Thätigkeit hatte er abgeworfen. Der Vater, so streng er früher gewesen, ließ ihn jetzt seines Weges gehen. Bei einem so seltsamen, unberechenbaren Wesen mochte er oft rathlos sein.

Unter seinen Lehrern hatte vor andern der Conrector Weißer sein Vertrauen erweckt. Dieser versuchte es, in seine Stimmungen einzugehen und sie zu leiten. So waren Beide miteinander bekannter geworden, und Ludwig sprach bisweilen dem ältern Manne gegenüber seine Gefühle rücksichtlos aus.

»Seit einiger Zeit«, klagte er einmal zu Weißer, »fühle ich mich tief in innerster Seele bewegt. Tausend verschiedenartige Gedanken erfüllen mich. Wechselnde Gefühle und Leidenschaften stürmen auf mich ein, neue bedeutende Eindrücke machen sich geltend, deren ich vergeblich Herr zu werden suche. Von alle dem fühle ich mich so betäubt, ich bin so unruhevoll, so friedlos! Es war doch eine schöne Einrichtung des Mittelalters, daß man dem verwirrenden Lärm der Welt 106 entfliehen konnte! Man ging in ein Kloster und war von allen Sorgen der Welt befreit. Welche tiefe Ruhe muß es geben, einem großen Gedanken das ganze Leben zu widmen, in ihn alle andern, die uns tausendfach quälen, versenken zu können! Ich wünschte, auch wir hätten unsere Klöster!« So schloß er seine Rede voll tiefer Bewegung. Mit stummem Erstaunen hatte ihn Weißer angehört. Endlich platzte er heraus: »Tieck, für dieses eine Wort verdienten Sie gehängt zu werden!« Soweit er sich auch mit der Empfindungsweise seines Schülers vertraut gemacht hatte, diese katholisirende Versündigung am gesunden Menschenverstande war ihm doch zu stark. Sein ganzer Aufklärungseifer erhob sich dagegen; nicht entschieden genug glaubte er dergleichen Grillen abweisen zu können.

Abermals war Ludwig wie vernichtet. Das Wort erstarb ihm auf der Zunge. Im überwallenden Gefühle hatte er sich geäußert, und so roh und verletzend konnte ihm der Mann entgegentreten, der ihn sonst noch am meisten zu verstehen pflegte. Solche Erfahrungen scheuchten ihn immer mehr in sich selbst zurück, und allmälig bildete sich in jener finstern Versunkenheit eine gewisse überlegene Ironie gegen seine Umgebung aus, welche sich mit so großer Sicherheit und Behaglichkeit in ihren Grenzen bewegte.

Natürlich wäre es gewesen, eine so in Verzweiflung ringende und kämpfende Seele auf Religion und Glauben zu verweisen, und gerade jetzt in dieser Zeit, wo Ludwig als selbständiges Mitglied in die Gemeinde eintreten sollte. Aber was er hier zu erwarten hatte, sah er an seinem Lehrer, der selbst ein Theolog war, und in das Predigtamt überzugehen gedachte. Was hatte dieser auf jenen Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Frieden zu erwidern gewußt? Er hatte ihm statt des Brotes einen Stein gereicht!

107 Der Unterricht des Geistlichen, der ihn auf die Einsegnung vorbereiten sollte, des Predigers Lüdecke an der Petrikirche, ging spurlos an ihm vorüber. Dieser, ein wohlwollender, freundlicher, aufgeklärter Mann, hatte von den Seelenzuständen seines Schülers keine Ahnung. Er trug die Glaubenslehre nach seinen Grundsätzen vor und ließ es damit genug sein. Ludwig sah in dem ganzen Verfahren nur eine herkömmliche Form, die einmal innegehalten werden mußte. Im Unterrichte selbst half ihm seine leichte Auffassung und die Bibelfestigkeit, welche er sich als Kind erworben hatte. Niemand wußte besser Bescheid in der Bibel als er, und konnte die verlangten Sprüche geläufiger hersagen. Wurde er nicht in dieser Weise in Thätigkeit gesetzt, so hing er seinen Gedanken nach.

Aber in dieser Verzweiflung ward ihm doch ein Trost zu Theil, der gerade in den schmerzlichsten Augenblicken wie ein milder Thau auf die Glut niederfiel, die ihn verzehrte. Er fand ihn in der Natur. Es war ein nicht minder tiefer Zug seiner Seele, der ihn zur Natur, in die geheimnißvolle Stille ihres Lebens führte. Auch hier fühlte er sich einem mächtigen und dunkeln Zauber hingegeben, der alle seine Sinne bewältigte, und ihn mit unwiderstehlicher Kraft in Busch und Wald und in die Mondnacht hinaustrieb. Wie hätte er widerstreben können, da hier eine geheime Gewalt den Bann, welcher auf ihm lastete, zu lösen schien!

Stunden lang konnte er auf einsamen Wegen in den wildern Gegenden des Thiergartens umherirren. So einfach dieses Naturleben auch war, dennoch konnte er bis zur Selbstvergessenheit darin versinken. Hier, in der Abgeschiedenheit des Waldes, unter rauschenden Bäumen, wenn im dämmernden Zwielichte zerrissene Wolkengestalten durch die Wipfel herniederblickten, wo nur der Ruf eines einsamen Vogels die 108 tiefe Stille unterbrach, hier war er freier, er lauschte auf den Athemzug der Natur, er fühlte in ihr ein verwandtes Herz schlagen. Allein mit den ersten reinsten Kräften des Lebens vergaß er sich selbst und der Larven, welche ihn ängstigten. Träumerisch lag er im Grase, die Sonne ging hinter den Bäumen unter, und er konnte unter dem Nachthimmel den Morgen heranwachen, bis der feuchte Thau seine Kleider überzog, ihm erstarrend in die Glieder drang und kalte Schauer ihn erweckten. Diese einsamen Spaziergänge wurden allmälig zu kleinen Fußreisen. Allein durchstrich er die Flächen, in denen Berlin liegt. Die Einförmigkeit, welche die Natur hier zeigt, störte ihn nicht; er lebte doch in ihr. Er wanderte nach den benachbarten Dörfern, er rastete in den ungastlichen märkischen Krügen, er fühlte keine Entbehrungen. Tage lang streifte er allein, in Wind und Regen, in den öden Kiefernhaiden umher.

Tröstend gesellte sich zur Natur die Poesie. Abermals griff Goethe in Ludwig's Leben ein. Diesmal war es der »Faust«. In Reichardt's Bibliothek hatte er das 1790 erschienene Fragment des »Faust« gefunden. Er wohnte damals auf einige Zeit bei Reichardt. Es war spät Abends, als er im Bette liegend zu lesen begann. Mit Jubel rief er seinem Freunde Hensler zu, er müsse ihm eine Dichtung Goethe's vorlesen, welche in aller Literatur ihres Gleichen nicht habe. Er begann, doch bald hörte er den Freund laut schnarchen. Mit gespanntester Erwartung, mit stockendem Athem las er weiter. Die ersten Monologe, die Erscheinung des Erdgeistes, wie groß, wie übermächtig war das Alles! Und doch wieder wie rein menschlich! Waren nicht ähnliche Gedanken und Zweifel auch durch seine Seele gegangen? Es zuckte ihm durch alle Fibern und Nerven. Ein voller Mondstrahl fiel durch das Fenster. Sah er nicht auch 109 auf seine Pein? Eine unendliche Sehnsucht ergriff ihn, das Zimmer wurde ihm zu eng. Er sprang aus dem Bette, er stürzte hinaus in den Garten. Im hellen Mondenlichte streifte er ruhelos zwischen Bäumen und Hecken umher. Vergeblich rang er danach, dieser Eindrücke Herr zu werden. Da graute der Morgen. Ermattet, in traumhaftem Zustande kehrte er zu dem schlafenden Freunde zurück.

Auch schien der böse Geist vor den Klängen der Dichtung zurückzuweichen. Wenn er zu irgendeinem Gedichte griff, welches sonst Eindruck auf ihn gemacht hatte, so fühlte er, wie die dumpfe Bewegung in seinem Innern sich legte, und Ruhe und Gleichgewicht der Kräfte kehrten ihm auf einige Zeit wieder. Nicht anders, wenn er Selbstbeherrschung genug gewann, um sich selbst dichterisch auszusprechen. Dann war er wieder mit sich eins. Hier war es, wo die Wurzeln seines Lebens lagen.

Wie ein mildes, versöhnendes Licht war auch der Strahl der ersten Liebe in sein Herz gefallen. Sie zog ihn in das Leben zurück. Schon früher hatte er sich mit der vollen Leidenschaft eines jugendlichen Dichters Reichardt's jüngerer Schwägerin, Amalie, zugewendet. Bald war die aufkeimende Neigung kein Geheimniß mehr. Reichardt sah und billigte sie, und der Bund der Herzen wurde geschlossen.



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