Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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Erstes Buch.

Jugendbilder.

1773–1792.

 

1. Das Vaterhaus.

Am Eingange der Roßstraße zu Berlin, unfern des Kölnischen Rathhauses, in einem engen, betriebsamen und geräuschvollen Theile der Stadt, wo in niedrigen Kramläden Gewerbe und Kleinhandel ihren Sitz haben, liegt ein dunkles Haus, das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu den stattlicheren der Nachbarschaft gehören mochte.Tieck's Geburtshaus in der (alten) Roßstraße trägt die Nummer 1. Die Geschäftsräume und die kleine Wohnung zu ebener Erde sind noch heute dieselben wie damals. In diesem Hause wohnte um jene Zeit ein Bürger und Handwerker; das war Meister Johann Ludwig Tieck, der Seiler. Es war ein einfacher, aber auch frischer und kräftiger Mann, der mit geradem Sinne und hellem Auge seines Weges zu gehen pflegte. Ein Leben voll Arbeit und Erfahrung war seine Schule gewesen, und hatte in ihm jene ehrenfeste, altbürgerliche Verständigkeit und Tüchtigkeit ausgebildet, die ohne viel Worte den Nagel auf den Kopf trifft, und in den Zeiten Friedrich's des Großen bei den Genossen des kleinen Handwerks nicht selten war. Auch sein Vater mochte ein Handwerker gewesen sein. Das Familiengedächtniß hat es nicht aufbewahrt, woher er stammte, doch rühmte man sich zuweilen nicht unansehnlicher Verwandtschaft, zu der man sogar einen General zählen wollte.

Wie es die Ordnung des Gewerbes vorschrieb, hatte Meister Tieck in seinen jungen Jahren, als er losgesprochen worden, zum Wanderstabe gegriffen, und war als 4 Handwerksgesell in die Fremde gezogen. Er hatte Deutschland durchwandert, war nach Ungarn gekommen und dann weiter bis an die Grenze der Türkei. Dabei fehlte es nicht an Abenteuern. So hatte sich einst in diesen Gegenden ein Reisegefährte zu ihm gesellt, der die Lage einer jener ungarischen Grenzfestungen so anmuthig fand, daß er sich niedersetzte und die Umrisse in seinem Buche nachzuzeichnen begann. Von der Festung aus bemerkte man seine Absicht, glaubte in den beiden Wanderern Spione zu erkennen, und that einige Schüsse auf sie, die zum guten Glück ihr Ziel verfehlten. Nach der Heimkehr setzte sich Tieck als Meister, wie es Brauch war, und begründete einen Hausstand. Seine Frau holte er sich aus Jeserig, einem Dorfe bei Brandenburg. Sie war die Tochter des Schmiedemeisters Schale, doch im Hause des dortigen Predigers, Namens Latzke, erzogen, der sie frühzeitig als eine Waise zu sich genommen hatte. Darauf betrieb der Meister unter seinen Mitbürgern eifrig sein Gewerbe, und nahm Antheil an Allem, was Handwerk und Bürgerwesen anging. Bei den Zunftgenossen war er angesehen als ein strengrechtlicher Mann, der seinem Stande ergeben sei, und nicht allein das Herz, sondern auch die Zunge auf dem rechten Flecke habe, und zur guten Stunde ein gutes Wort ohne Scheu zu sagen wisse. Darum wählten sie ihn auch in mancher wichtigen Sache zum Sprecher und Vertreter.

Unter den Handwerkern selbst gab es schon allerlei Widerspruch gegen die Zünfte und ihre engen Regeln. Manche meinten, es könne mit dem Gewerbe erst besser werden, wenn diese alten Ordnungen aufgehoben würden. Darüber war ein Streit entstanden, und zu den Vertheidigern der Zünfte gehörte auch Meister Tieck, der von der Auflösung des Verbandes nichts als Unordnung erwartete. Doch wollte er darum nach eigener Erfahrung nicht in Abrede stellen, daß 5 Vieles anders und besser sein könne. Nun hatte sich das Gerücht verbreitet, auch der König sei den Zünften nicht geneigt. Darum beschlossen die Freunde derselben, ihn selbst unmittelbar anzurufen, daß er sie bei dem alten Rechte schütze. Eine Anzahl von Meistern sollte ihm eine Bittschrift überreichen und Tieck ihr Sprecher sein. Den kürzesten Weg schlug man ein, das Geschäft auszurichten. Zu einer bestimmten Stunde des Tages pflegte Friedrich an einem Fenster des Schlosses Sanssouci zu stehen, dann stellten sich die Bittenden unter einen Baum im Garten, auf den der Blick des Königs fallen mußte; nicht selten ließ er sie zu sich hereinrufen und hörte ihre Anliegen. So geschah es auch hier. Friedrich erblickte die Meister, und ließ sie zu sich bescheiden. Tieck durfte ihm die Bittschrift überreichen und noch einige Worte zum Schutze der Zünfte sagen. Der König hörte ihn gnädig an, und entließ ihn mit der Versicherung, auch er sei kein Feind derselben und werde sich der Sache annehmen.

Aber solche Erfahrungen und die Thätigkeit des Tages reichten für die Bedürfnisse des begabten und mit mancherlei Kenntnissen ausgestatteten Mannes nicht hin; er führte dabei auch ein nach innen gekehrtes Leben. In kirchlichen wie in politischen Dingen war er gut Friederichisch gesinnt. Er hielt es mit dem moralischen Wandel und einem redlichen und tüchtigen Handeln, im Uebrigen war er ein Freund der Aufklärung, und pflegte sich die Dinge ohne viele Wunder auszulegen.

Doch in diesem Punkte trat auch die eigenthümliche Sinnesart der Hausfrau hervor. Von ganzem Herzen war sie der alten kirchlichen Gläubigkeit zugethan. Hier am ersten kam es zu gereizten Gesprächen, in denen jeder Theil sich zeigte, wie er war. Der Mann verständig, eifrig, auffahrend, oft derb und handfest, im Hause die rauhe Seite herauskehrend; die Frau sanft, schüchtern, in sich gekehrt, dem 6 Manne gegenüber duldend und beschwichtigend, aber beharrlich. Vor allem war ihr durch Gemüthsart und Erziehung der Glaube eine Herzenssache geworden, und sie ließ sich durch den bald rauhen, bald spottenden Widerspruch des Mannes nicht irre machen. Wenn er sie in den Stunden ihrer stillen Sammlung im Porst'schen Gesangbuch lesend fand, so ging das selten ohne eine Gegenbemerkung von seiner Seite ab. Dann zog er mit seiner hausbackenen Moral ganz ernstlich gegen die alten Kirchenlieder zu Felde, warf ihnen Lüge und Unwahrheit vor, und erklärte sie für überflüssig oder gar schädlich. Am meisten ärgerte er sich an den Liedern, in welchen Christus als Bräutigam der Seele dargestellt wird, besonders wenn sie etwa von Frauen gedichtet waren. Oder mit platter Verständigkeit bemerkte er in Paul Gerhard's Liede »Nun ruhen alle Wälder« gegen den Vers: »Es schläft die ganze Welt«: »Wie kann man dergleichen abgeschmacktes Zeug behaupten! Die ganze Welt schläft nicht! In Amerika scheint die Sonne, da wachen die Leute.« Solchen Einwürfen gegenüber schloß die Frau ihre stille Frömmigkeit nur umsomehr in die Tiefen ihres Gemüths ein.

War gleich diese Art der Aufklärung bei dem Meister Tieck in Fleisch und Blut übergegangen, so fehlte es ihm doch keineswegs an Sinn und Verständniß für höhere Dinge, nur wandte er sich der weltlichen Seite zu. Die ersten glücklichen und kühnen Versuche der deutschen Dichtung seit dem Anfange der siebenziger Jahre hatten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht und bald sein Herz gewonnen. Wie eine neue Morgenröthe war Goethe's Poesie über der deutschen Literatur aufgegangen. Die einfachen und offenen Gemüther empfanden es alle, hier quelle der Born einer unverfälschten Dichtung. Es spricht für das natürliche Gefühl des alten Tieck, das sich in der harten Schale des werkthätigen 7 Bürgerstandes lebendig erhalten hatte, wenn der schlichte Handwerker erkannte, Goethe sei doch ein ganz anderer Mann als Gellert, Kleist und Gleim. Als später der Streit über die Anerkennung der neuen Poesie heftiger entbrannte und auch dem alten Meister zu Ohren kam, sagte er voll Verdruß: »Was reden denn die Leute, sie verstehen ja diese Bücher gar nicht!« Oder wenn von »Werther« oder »Götz« die Rede war: »Die Andern mögen sich anstellen, wie sie wollen, so etwas können sie doch nicht machen!«

Bei diesem lebhaften Antheil an den neuen Dichterwerken und dem regen Triebe, sich unausgesetzt zu belehren und zu unterrichten, wurde manches gute und nützliche Buch nicht nur gelesen, sondern auch gekauft, und allmälig sammelte sich ein kleiner Hausschatz an, auf den man mit Recht stolz sein konnte. Da fanden sich neben der Bibel, die auch die Aufklärung des Vaters als Grundbuch des Hauses und Lebens in Ehren hielt, und neben der nützlichen Belehrung, die Guthrie's und Grey's »Weltgeschichte« und einige andere historische Bücher gewährten, die erste Ausgabe des »Götz von Berlichingen«, Goethe's Schriften in dem Himburg'schen Nachdruck, die ersten Abdrücke der verwegenen Dichtungen von Lenz, der »Rheinische Most«, einige Wochenschriften und manches Andere der Art.

Auch an dem deutschen Schauspiele, das eben damals selbständig zu werden suchte, fand er vielen Geschmack. Der Zufall hatte ihn sogar mit den Schauspielern zusammengeführt, die er auf den Bretern in der Behrenstraße des Abends tragiren sah. Die Arbeit forderte Ruhe und Erholung, und so war denn Meister Tieck auch den bürgerlichen Vergnügungen nicht abhold. Nachmittags ging er hinaus in eine jener bescheidenen Anlagen vor den Thoren Berlins, wo man bei einem Glase Kottbuser Bier ein sogenanntes Gartenvergnügen, etwa eine Kegelbahn und einige Gevattern und 8 Stammgäste vorfand. Da wurde geraucht, gekegelt, gelacht, mancher handfeste Spaß lief mit unter, und zufrieden mit seinem Dasein, schlenderte man Abends schwatzend und plaudernd wieder nach Hause. Zu den Stammgästen hatten sich auch einige Schauspieler gesellt, mit denen man auf der Kegelbahn näher bekannt wurde. Meister Tieck war vorurtheilsfrei genug, den Verkehr mit der verrufenen Kaste nicht zu meiden. Machte es ihm Vergnügen, die tragischen Helden einmal als gewöhnliche Menschen zu sehen, oder mochten sie durch ihre Späße die Heiterkeit der Gesellschaft erhöhen, genug er stand auf gutem Fuße mit ihnen. Doch bemerkte er an den lockern Gesellen auch Vieles, was seinen strengen Bürgersinn beleidigte, Leichtsinn, Prahlerei, Lüge, Ausschweifung. So kam er denn oft mit der Bemerkung nach Hause: »Die Komödianten (anders nannte er sie nicht) sind doch schlechte, unmoralische Gesellen. Es ist kein Verlaß auf sie!«

Dagegen standen die Gelehrten bei ihm um so höher im Ansehen. Es war nicht das dumpfe Staunen vor einer Masse fremder und unverständlicher Kenntnisse, was ihn erfüllte, sondern die Ueberzeugung, der gelehrte Stand sei nicht nur der Hüter geistiger Schätze, sondern solle sie auch als Lehrer des Volks verwenden. Darum schien es ihm natürlich, daß der Lehrstand in der öffentlichen Achtung hochstehen und sich in ihr erhalten müsse. Er erkannte den Gelehrten selbst noch im Zerrbilde an.

Eines Abends fand er in seiner Bürgergesellschaft den berüchtigten Magister Kindleben. Dieser Mann, nicht ohne Talent und Kenntnisse, war ursprünglich auf einem Dorfe bei Berlin Prediger gewesen, hatte aber wegen grober Unsittlichkeiten seines Amts entsetzt werden müssen. Seitdem lebte er von gelehrten Lohnarbeiten in Leipzig und Halle, und schrieb schlechte Gedichte und Romane, in denen er zum 9 Theil seine eigenen Abenteuer erzählte; denn bald war er in allen Schenken wie auf den Straßen eine bekannte Erscheinung geworden.Ueber Kindleben's Wandel und Schriften ist zu vergleichen »Almanach der Bellerristen und Bellettristinnen für's Jahr 1782, S. 92. An jenem Abende hatten ihn einige Bürger mitgebracht; er sollte dem spießbürgerlichen Spotte preisgegeben werden. Stets hungeriger und noch mehr durstiger Gelehrter, possenreißender Pedant, literarischer Landstreicher, schien er denselben weit mehr herauszufordern als zu fürchten. Sein unverschämtes Wesen, seine schmuzige Bettelhaftigkeit zeigte den Gelehrten in tiefster Versunkenheit. Der rohe Spaß begann damit, daß man ihn betrunken machte. Voll Entrüstung verließ darauf Meister Tieck seine Ressource. So sollte man mit der Gelehrsamkeit nimmer umgehen, selbst wenn sie in so gemeiner Gestalt auftrat, wie hier.

Inzwischen hatte sich im Hause Vieles verändert. Eine Familie war entstanden und begann heranzuwachsen. Der Raum war enger, die Sorgen größer geworden. Im Laufe von vier Jahren hatte die Mutter drei Kinder geboren.

Es war ein hoffnungsvoller Tag, als am 31. Mai des Jahres 1773 um elf Uhr Morgens das älteste Kind in der schmalen, dunkeln Hinterstube, in die nur ein kärgliches Licht vom Hofe hineinschimmerte, zur Welt kam. Dieses Kind, das dem Meister Johann Ludwig Tieck, dem Seiler, geboren wurde, war Meister Johann Ludwig Tieck, der Dichter. Als ältester Sohn empfing er am 6. Juni in der Taufe, zu der mehrere hochadelige Gönner der Familie als Zeugen eingeladen waren, die Namen des Vaters.Die wenigen von Tieck selbst gegebenen Andeutungen über die Familie seiner Mutter sind erweitert durch Mittheilungen eines noch lebenden mütterlichen Verwandten, und die Ortstraditionen in Jeserig, deren Kennrniß ich Herrn Prediger Hoffmann daselbst verdanke. Die Kirchenbücher von Jeserig aus jener Zeit sind verbrannt. Geburts- und Tauftag Tieck's und seiner Geschwister sind aus dem Taufregister der Petrikirche in Berlin festgestellt. Am 28. Februar 1775 folgte eine Tochter, Anna Sophie, und am 14. August 1776 der jüngere Sohn, Christian Friedrich. So wuchsen denn drei Kinder im Hause heran, zwei Söhne und zwischen ihnen eine Tochter, und mit ihnen manche schwere und gewichtige Sorge. Denn bald mußte der Vater ahnen, mit diesen Kindern habe ein anderer, neuer Geist in seinem engen Hause Wohnung 10 gemacht. Unter den Augen des Vaters und der Mutter verlebten sie die ersten Jahre. Nur dunkel erinnerten sie sich der Großmutter, die im Hause des Sohnes still als Matrone lebte und bald verschwand, ohne an der Erziehung theilgenommen zu haben.

Bei Ludwig, dem Aeltesten, zeigten sich Vorstellungskraft und Empfindungsvermögen ungemein früh. Die Bilder und Eindrücke, welche er empfing, erweckten in ihm bald eine dunkle Ahnung der Leiden und Freuden, denen das menschliche Herz unterworfen ist, solange es schlägt. Diese ersten Erschütterungen der Seele müssen in dem Kinde ein tief schmerzliches Gefühl hervorgerufen haben, denn im hohen Alter erzählte der Greis davon mit der vollen Lebendigkeit eines gegenwärtigen Eindrucks. Ein Hausfreund hatte einst ein eigenthümliches Schaustück mitgebracht. Es war eine Dose, auf deren Deckel man unter einer Krystalleinfassung ein strahlendes Farbenmuster sah. Von diesem bunten Bilde wurde das Kind mit unwiderstehlicher Macht angezogen. War es eine erste Ahnung der Schönheit der Welt, die es erfüllte? Auf den Augenblick kurzer Freude folgte das Gefühl des ersten Verlustes, als man das glänzende Spielzeug aus seinen Händen nahm. Es war untröstlich, und der Greis Tieck versicherte, schon da zuerst den Schmerz des Lebens empfunden zu haben. Ein anderes Mal hatte die Wärterin das Kind auf die Stufen vor der Stechbahn am Schloßplatze niedergesetzt. Vergnüglich sah es über den Platz nach der Brücke und dem Standbilde des großen Kurfürsten hinüber. Alles machte ihm den heitersten Eindruck, als es plötzlich bemerkte, daß die Wärterin verschwunden sei. In schlecht verstandenem Scherze war sie hinter einen Pfeiler getreten. Da wurde das Kind mitten unter diesen Gestalten von dem Gefühle tiefster Einsamkeit ergriffen. Wenig half das 11 Zureden der hervortretende Wärterin, und lange konnte es diese dunkle, schreckliche Empfindung nicht vergessen.

Nicht minder früh wollte das Kind in geregelter Weise beschäftigt sein. Auf dem Schoose der Mutter lernte es die Buchstaben kennen, um so schneller, je mehr die Phantasie zu Hülfe kam. Sie schienen zu leben, sie wurden zu lustigen Gestalten aller Art. Kaum vierjährig, konnte der Knabe lesen, und schon trat an die Stelle der Fibel die Bibel, die in ihren geschichtlichen und poetischen Theilen bald sein Lieblingsbuch wurde. Es überkam ihn ein Gefühl von der Hoheit des hier wehenden Geistes; der wunderbar erhabene und doch wieder kindliche Ton, Verstandenes und Unverstandenes, Alles fesselte ihn gleich sehr. Er konnte sich nicht sättigen an diesen rührend-einfachen Geschichten der Erzväter, und schon im Lauf der ersten Knabenjahre hatte er die Bibel mehr als einmal ganz durchgelesen. Wenn dann Nachbarn und Verwandte ihn, auf seinem Fußbänkchen sitzend, in der Bibel eifrig lesen hörten, so schüttelten sie über so frühreifes Wesen bedenklich den Kopf, oder Mancher meinte auch: »Wie geschickt doch das Kind thut, als wenn es lesen könnte!«

Neben der Bibel hatte auch das Gesangbuch der Mutter eine große Anziehungskraft für ihn. Es hatte einen stark vergoldeten Einband, der an den Seiten mit kunstvollem Schnitzwerk in Elfenbein ausgelegt war. Es mochte ein Erbstück ihrer Aeltern oder ein Geschenk des Pfarrers sein, das er seinem Pflegekinde als Andenken mit auf den Weg gegeben hatte. Wie hoch hielt es nicht die Mutter! Und wenn das Kind sie jene alten Lieder lesen hörte, wie hallte der kaum geahnte Inhalt, die bilderreiche Sprache, die doch so einfach war, der Gleichklang des Reimes in seiner Seele wider! So wurde es bald auch mit den Liedern der lutherischen Kirche vertraut.

Doch zu diesen Büchern, die prophetisch die ersten und 12 ursprünglichsten menschlichen Empfindungen erweckten, gesellte sich ein anderes, welches die junge Seele nicht minder mächtig ergriff und ihr den tiefsten Eindruck für das Leben gab. Dies war Goethe's »Götz von Berlichingen«. Abends, nach gethaner Arbeit, wenn die Kinder schliefen, oder der Aelteste im Winkel kauernd lauschte, pflegte der Vater ein Buch aus seiner Hausbibliothek hervorzulangen, oder auch irgendein entliehenes der Mutter vorzulesen. Freilich fiel die Wahl mitunter auf ziemlich abgelegene Bücher, deren Verständniß in diesem Kreise zweifelhaft war. Er las Fontenelle's Schrift von der Mehrheit der Welten in der Bode'schen Uebersetzung vor; doch häufiger eins von jenen Dichterwerken, von denen man jetzt soviel reden hörte. So wurde Ludwig in die deutsche Dichtung eingeführt, und es dauerte nicht lange, so bemächtigte er sich selbständig der Bücher, aus denen er den Vater hatte vorlesen hören.

Vor allen aber blieb er bei einem stehen, beim »Götz«. Wie an die Bibel, glaubte er mit ganzer Seele an dieses Gedicht. Es war der erste Eindruck des geheimnißvollen Zaubers der Poesie, den er erfuhr; die Welt der Phantasie wurde ihm zur sinnlich wirklichen. Wie die Patriarchen, Helden und Könige des Alten Testaments lebendig gegenwärtig vor ihm standen, meinte er, auch diese mannhaften Ritter, Götz selber, müßten noch unter den Lebenden sein. Es waren Menschen, mit denen er lebte und verkehrte, wie mit Vater und Mutter und seinen Geschwistern. Wie bestürzt war er nicht, als man seiner kindischen Einfalt lachend, ihn später darüber belehrte, weder dieser Götz, noch irgendeiner seiner Gefährten sei eine lebende Person, diese Geschichte sei eine erdichtete; der Mann, der sie geschrieben habe, heiße Goethe und lebe in Weimar. Für eine Art von Offenbarung hatte er den »Götz« gehalten, und nun hörte er, sie sei ein Buch, 13 wie alle Bücher sind. Wie gern hätte er diese Aufklärung für die Welt hingegeben, die er dadurch verlor! Fürs erste ahnte er von solchen Enttäuschungen noch nichts, und gehend und stehend, in allen Winkeln des Hauses, wachend und schlafend trug er sich mit den Gestalten dieser Ritter und Frauen, und ihre herzhaften Reden klangen in ihm unaufhörlich nach. Nur durch Eins konnten sie zu Zeiten zum Schweigen gebracht werden, durch die Erzählungen der Mutter.

Wenn im Dämmerlichte des Abends die sonst wohlbekannten Spielstätten die Kinder fremd und geheimnißvoll anblickten, und das laute Treiben allmälig verstummte, dann sammelten sie sich still am Schoose der Mutter, und manche oft gehörte Geschichte mußte sie erzählen. Die Erinnerungen ihrer eigenen Kindheit erwachten. So gleichförmig auch ihre Jugend in dem Pfarrhause verflossen war, dennoch wußte sie Manches davon zu erzählen. In ihrem Munde wurde das Einfache und Natürliche für die Kinder zum Märchen und Wunder, das sich ihrem Gedächtnisse tief einprägte. Von einer alten, unheimlichen Frau in ihrem väterlichen Dorfe erzählte sie, die für die Jugend ein Gegenstand geheimen Schauers gewesen war. Häßlich und böse saß sie allein und schweigsam in ihrer Stube am Spinnrocken, nur einen kleinen Hund litt sie um sich. Ungern entschloß man sich, sie anzureden, und geschah es, so antwortete sie zornig und in einem nur halbverständlichen Kauderwelsch, das den Kindern schauerlich wie böse Zauberformeln in die Ohren klang. Am schrecklichsten erschien sie, wenn ihr einziger Gefährte, der Hund, ihr entsprungen war. Dann stand sie an der Thür und blickte spähend das Dorf hinab, oder lief mit wunderlichen Geberden durch die Straßen und rief mit gellender Stimme nach dem Hunde: »Strameh! Strameh! Strameh!«

So waren die Menschen und Umgebungen, unter denen 14 Ludwig Tieck, der Dichter, geboren wurde und aufwuchs. Es war der enge Kreis des kleinbürgerlichen Lebens. Arbeit, Sparsamkeit, Redlichkeit waren die Hausregeln. Man lebte beschränkt, aber darum nicht ärmlich oder gar kümmerlich; man hatte sich eng eingerichtet, ohne von der Welt abgeschnitten zu sein; man brauchte sich nicht ängstlich jede kleine Freude zu versagen. Es herrschte in dem Hause die Zufriedenheit des tüchtigen Handwerkers, der mit Verstand auszugeben weiß, was ihm seiner Hände Arbeit erworben hat, und auch die Mittel erschwingen kann, seinen Kindern eine Erziehung zu geben, die ihnen einst breitere, sonnigere Wege zu öffnen vermag. Dieses dunkle, bürgerlich eingerichtete Zimmer zu ebener Erde, dieser lange, schmale Hausflur, der kleine Hof dahinter, auf den nur ein spärlicher Himmel herabblickte, die Schwelle an der Hausthür, das waren die Räume, die Ludwig zuerst mit den Gebilden seiner jungen Phantasie bevölkerte, die ihm zum Schauplatze seiner kindischen Leiden und Freuden würden. Aber schon war die geheimnißvolle Ahnung darüber hinausgeflogen, und träumte von einer andern wunderbaren Welt, die jenseit der Schwelle des Vaterhauses lag.



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