Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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5. Die Novellen.

Die Rundreise durch Deutschland hatte den Beweis geliefert, daß Tieck's dichterisches Ansehen in der allgemeinen Meinung fest stehe. Ueberall hatten sich alte und neue Freunde um ihn geschart; es sprach sich der Gedanke aus, nächst Goethe verehre man in ihm den größten der lebenden Dichter Deutschlands. Man erkannte, er sei es gewesen, der nach Goethe der Literatur noch einmal eine neue eigenthümliche Wendung zu geben vermocht habe. Aber man feierte nicht allein den Dichter einer glänzenden Vergangenheit. Denn in den letzten Jahren war er mit einigen Werken 43 hervorgetreten, welche bewiesen, der neuen Zeit werde er sich in anderer Weise gegenüberstellen. Soeben hatte das Publicum den ersten Eindruck seiner Novellen empfangen.

Die Wirkung dieser neuen Erscheinungen war überraschend. Man war geblendet, befremdet; man zweifelte, wie man diese Novellen zu verstehen habe, mochte man dabei den Dichter oder die Literatur im Auge haben, in welche sie eingriffen. Und diese stand in einem wunderbaren Gegensatze zu denselben.

In neuerer Zeit ist die erzählende Dichtung für die mannichfaltigen Wandlungen des öffentlichen Geistes immer am empfänglichsten gewesen. Häufig geht sie allein aus dem Bedürfnisse des Tages hervor, und hat kaum einen andern Zweck, als der Unterhaltung zu dienen. Keine dichterische Form sinkt leichter zum Mittelmäßigen, Gewöhnlichen, ja Gemeinen herab. In seiner Jugend hatte es Tieck mit Spieß und Cramer, Schlenkert und Meißner zu thun. Sie waren mit dem Tage vorübergegangen. Aber das Bedürfniß einer leichten Nahrung, einer augenblicklichen Zerstreuung, das Wohlgefallen am Gewöhnlichen war geblieben. Es machte keinen Unterschied, daß die größten Geister die Literatur umgewandelt hatten; es gab Viele, die nichts gelernt und nichts vergessen hatten.

Mit dem Jahre 1820 neigte sich die Glanzzeit der neuen Ritterromane und Nordlandshelden ihrem Ende zu. Fouqué's Stelle als Beherrscher der Modeliteratur theilte mit ihm ein anderes bizarr neckendes und irregehendes Talent, E. T. A. Hoffmann. In der Region der Erzählung, wo das Furchtbare und das Grausen heimisch war, welches vorzugsweise für romantisch galt, war er der Erste. Hier gab es alle erdenkliche Zerrgebilde krankhafter Phantasie, den bis zum Schwindel gesteigerten Wechsel brennender Farben. Alles 44 verwandelte sich in Alles; der Wahnwitz war zuletzt der wahre Tiefsinn, und das Leben erfüllte sich mit Gespenstern, die ebenso gräßlich als scurril waren. Die Fieberhitze dieser Nachtstücke und Teufelselixire ging auf das Publicum über; durch den nervösen Schreck wollte es ergriffen und geängstigt werden. In den »Serapionsbrüdern« gab Hoffmann eine Nachbildung des »Phantasus«, aber nur die Caricatur davon vermochte Tieck wiederzuerkennen. Andere schrieben abgeschwächt in Hoffmann's Weise; doch auch die Erzählungen Contessa's und Weißflog's wurden gern und viel gelesen.

Auf die Krämpfe folgte Abspannung. Jetzt war das wässerige Gebräu der trivialen Geister sehr willkommen. Mit gleicher Gier verschlangen die Leser die seichten, unsittlichen Erzählungen von Clauren, dessen Taschenbücher Deutschland überfluteten. Seine »Mimilis« und »Lislis«, seine »Dijonröschen« und »Christpüppchen«, die hungerigen und lüsternen Schilderungen von Dinées und Toiletten; die breite Darstellung gemeiner Sinnlichkeit fand nicht allein in den Leihbibliotheken, sondern auch bei denen, die für gebildet galten, reichen Beifall.

Endlich stellte sich der historische Roman mit seiner ganzen Schwere in den Vordergrund. Er vorzugsweise war das Product der Poesie, welche sich der Vergangenheit zuwendet. Die Romane des großen Unbekannten, die Waverley-Novellen, hatten einen Eindruck ohne Gleichen gemacht, und drohten alles Andere zu verdrängen. Die deutschen Uebersetzer und Buchhändler waren haufenweise zur Arbeit bereit, und die Nachahmer eilten, auf dem neugebahnten Wege zu folgen. Historisches Leben und Charaktere wurden verlangt; Schlachtstücke, Burgen, Costüme bis auf die Strumpfbänder, Alles sollte historisch sein. In van der Velde und Tromlitz war mehr als ein deutscher Walter Scott gefunden, der ebenso 45 schnell producirte wie der englische, ohne zu besitzen, was diesen groß machte, die nationale Grundlage.

Diesen Erscheinungen der Tagesliteratur fehlte, was allein einen bleibenden Werth verleihen kann, die schöpferische Idee, der tiefere geistige Gehalt, der das Leben zum Leben macht. Und eben hier lag die Stärke der Novellen Tieck's.

Seit dem zweiten Theile des »Fortunat« hatte er keine eigenen Dichtungen herausgegeben. Jetzt erschien in Wendt's Taschenbuche »Zum geselligen Vergnügen« von 1822 die erste Novelle, »Die Gemälde«; gleich darauf eine zweite, »Die Verlobung« im »Berliner Taschenkalender für 1823«, mehrere andere kamen in rascher Folge hinzu. War der Tieck, welcher hier die Verhältnisse der Gegenwart in hellem und scharfem Lichte darstellte, derselbe, welcher einst den Heiligenschein, das mystische Dämmerlicht des Mittelalters und die mondbeglänzte Zaubernacht in trunkener Begeisterung besungen hatte? War es wirklich der Dichter der »Genoveva«, des »Octavian« und »Phantasus«, der hier mit nüchterner Dialektik und Ironie die Verkehrtheiten der neuesten Zeit nachwies? so fragte man sich zweifelnd und bedenklich. Kaum daß man die alten, wohlbekannten Züge in diesem Bilde wiedererkennen wollte. Er schien ein Anderer geworden, von sich abgefallen. In ihm selbst mußte irgendwo ein Widerspruch, eine Inconsequenz liegen, so wenig begreiflich schien diese überraschende Wandlung. Oder sollte sie etwa ihren Ursprung in eigensinniger Laune und Willkür, in der offenbaren Caprice des Romantikers haben?

Es mußte überraschen, wenn er gewissen Modeneigungen, welche sich gerade auf ihn beriefen und in seinen ältern Dichtungen ihre Quelle zu haben behaupteten, den Krieg erklärte. In der Novelle, »Die Gemälde«, wurde die 46 Ansicht der Malerei, welche Genie und Beruf aus der Frömmigkeit und andächtigen Verehrung der alten Kunst herleiten wollte, von der unzweideutigsten Ironie getroffen. Es war die Zeit der Deutschthümelei, der altdeutschen Röcke und breiten Spitzenkragen, der langen, wallenden Haare und Sammetbaretts. Der fromme und biderbe Sinn der Altvordern sollte mit ihrem harten Kunststile wieder lebendig werden. Eine Caricatur war entstanden, die sich vaterländisch und altdeutsch, in der Kunst fromm und heilig begeistert nannte. Noch mehr Entrüstung erregte es, als er es wagte, in der zweiten Novelle, »Die Verlobung«, das neumodische, ausschließende Christenthum in seiner Zweideutigkeit darzustellen. Es hatten sich Kreise gebildet, in denen man die Geheimnisse der christlichen Lehre besser zu verstehen und tiefer zu fühlen meinte, als die außerhalb Stehenden, wo man durch besondere Erleuchtungen und Begnadigungen zu besitzen wähnte, was die nicht Erweckten in der Irre gehend umsonst suchen. In eine allein gültige Form des christlichen Lebens sollte Alles hineingezwängt werden, und Kunst, Wissenschaft und Philosophie glaubte man nicht allein entbehren zu können, sondern auch verfolgen zu müssen, weil sich in ihnen die Weisheit und Eitelkeit der Welt bespiegele.

Wenn die Schilderung solcher Zustände die Anklage hervorrief, daß Tieck den religiösen Geist jetzt selbst verfolge, den er in der Zeit des Abfalls habe erwecken helfen, so mochte Vielen, die seine Entwickelung nicht kannten, dieser Vorwurf annehmlich scheinen. Er und sein Freund Wackenroder hatten zuerst von dem frommen Glauben, der Einfalt der alten deutschen Kunst mit jugendlicher Begeisterung gesprochen. Sein »Sternbald« war das Abbild dieser alten Meister, und ward nun das Urbild dieser jungen altdeutschen Künstler, die alle zu sternbaldisiren anfingen. Aber 47 weil man Kunst und Kunstsinn zuerst in den Formen des Mittelalters wiedergefunden hatte, folgte daraus, daß man sich von dem griechischen Kunstwerke, als einem heidnischen Gräuel, mit frommem Schauder abwenden mußte? War denn die altdeutsche Kunst die einzige, die Kunst überhaupt? Wenn in einer Zeit der Unbefangenheit Glauben und Kunst miteinander verschwistert waren, wenn fromme Männer treffliche Maler gewesen waren, hatten darum die Nachahmer Recht, welche Künstler zu sein behaupteten, weil sie fromm waren, und fromm zu sein wähnten, weil sie eckige und hölzerne Heiligenbilder malten? Weil Wackenroder's künstlerischer Glaube tief und wahr gewesen war, hatten darum die Recht, welche ihm gedankenlos nachsprachen? War es eine nothwendige Folge, alle Zerrbilder gutzuheißen, weil man das Urbild anerkannte? Keinem Freierblickenden konnte es zweifelhaft sein, daß bei diesem Pochen auf Genie und Frömmigkeit, bei dieser Verehrung des Einseitigen in der altdeutschen Malerei, die Kunstbildung selbst gefährdet war.

Ebenso stand es mit Tieck's Widerspruch gegen die ausschließliche und anmaßliche Frömmigkeit. Er hatte den Katholicismus von sich abgewiesen, sollte er sich jetzt einem puritanischen Systeme gefangen geben, welches viel inconsequenter als jener, die Freiheit im Glauben aufzuheben, und aller Wissenschaft und Kunst den Krieg zu erklären drohte? Den Quell des ewigen, unveräußerlichen religiösen Gefühls suchte er wieder aufzudecken, als er im Sande zu verrinnen schien, und jetzt wollten Manche unter dem Vorgeben, ihm ein neues Bette zu graben, ihn von neuem verschütten. Die beschränkten Aufklärer hatten das Christenthum herabgesetzt, weil sie seinen Inhalt glaubten entbehren zu können; die beschränkten Eiferer setzten es herab, weil sie allein in seiner äußern 48 Gestalt es in Wahrheit zu besitzen wähnten. Es waren zwei entgegengesetzte Systeme, welche nur Eines miteinander gemein hatten, die Intoleranz.

Andere Tadler wollten die Ironie, mit welcher Tieck die Fragen behandelte, verwerflich finden. Man vergaß, daß die schärfsten Waffen des Dichters gegen die verhaßte Aufklärung Witz und Ironie gewesen waren. Hätte er als Mann, bei soviel reiferer Entwickelung und freierm Blicke nicht wagen dürfen, was er als Jüngling unter Beifall und Anerkennung der Unbefangenen gewagt hatte? Oder waren etwa die Vorurtheile der Gegenwart soviel besser, als die der Vergangenheit?

Aus den Verhältnissen erwuchsen ihm die ergiebigsten Novellenstoffe, welche die Ironie in sich selbst trugen. Der Gemäldesammler, der auf seine Kennerschaft stolz ist, läßt sich durch einen groben Betrug täuschen; in einer musikschwelgerischen Zeit, wo Alles singt und musicirt, sind die Unmusikalischen die Lautesten; die selbstgerechten Frommen erscheinen als unfromm; oder wenn endlich der Hüter der Thoren mit ihnen selbst zum Thoren wird, so war das nicht willkürlich gesucht, sondern eine Ironie, für welche sich Hunderte von Beispielen aus dem Leben herausgreifen ließen. In diesen Novellen entwarf er eine Reihe von Zeitbildern, die man ironisch oder dialektisch, oder social nennen konnte, denn sie enthielten alle diese Bestandtheile zusammen. Die musikalische Ueberschwänglichkeit der zwanziger Jahre stellte er in den »Musikalischen Leiden und Freuden« dar; die Vorliebe für Hoffmann'sche Spukgeschichten im »Zauberschloß«; die wiederauftauchende Wundersucht in den »Wundersüchtigen«; das Selbstbelügen, das für seine Truggebilde zuletzt mit gläubigem Eifer auftritt, in dem »Geheimnißvollen« und der »Gesellschaft auf dem Lande«. Die Frage, auf welchem Wege das sittliche Element im Menschen sich entwickeln könne oder 49 müsse, ob und welche Zwischenstufen durchzumachen seien, behandelte er in einer andern Novelle, deren Anfänge in seine früheste Zeit zurückgingen. Schon 1819 waren die ersten Bogen des »Jungen Tischlermeister« gedruckt, doch erst viel später kam er zum vollständigen Abschluß. Aber diese Novelle hatte noch eine andere Seite. Sie übernahm die Darstellung und Vertheidigung des ältern deutschen Handwerkslebens, das sich in stiller Selbstbeschränkung durch ämsigen Fleiß und künstliche Arbeit zur Kunst erhebt. In ihm wie in den Zünften sah er ein altehrwürdiges und nothwendiges Element des deutschen Lebens, das er gegen die mechanische Gleichmacherei des wachsenden Fabrikwesens gewahrt wissen wollte.

Den Novellen lag überall ein bestimmter Inhalt und eine feste Ansicht zu Grunde, die fast vorsätzlich verkannt wurde, wenn man behauptete, daß die Ironie in ihrem dialektischen Spiel die Dinge und zuletzt sich selbst auflöse, um den Leser auf ödem und unfruchbarem Boden unbefriedigt zurückzulassen. Vielmehr diente die Ironie dazu, das Positive zu entwickeln. Man that ihm Unrecht, wenn man ihm Kälte, Zurückhaltung und ein gleichgültiges Spielen mit seinen Stoffen zum Vorwurfe machte. Wenn er sich an diese nicht aufgab und verlor, so bekundete das seine volle dichterische Reife. In diesem sicheren und schöpferischen Wirken, das die Natur des Stoffes zugleich in der künstlerischen Form offenbart, lag ihm die höchste, die künstlerische Ironie selbst. Welchen Antheil er menschlich an den tiefsinnigsten Fragen unausgesetzt nahm, bewiesen schon die Stoffe selbst, welche er für die Novellen wählte. Wie ihn in der Jugend die religiösen Räthsel erfüllt hatten, so noch jetzt, nur war es natürlich, daß der Mann, der an sich und Andern so viel erfahren hatte, sie in anderer Weise zu lösen suchte, als der 50 Jüngling. Hatte er sie damals mit größerer Glut aufgefaßt, so war er jetzt im Stande, sie mit größerer Tiefe und Milde zu beantworten. In verschiedener Beleuchtung kehrte dieser Inhalt in der »Verlobung«, »Dichterleben«, den »Wundersüchtigen«, im »Alten vom Berge« und vor allen im »Aufruhr in den Cevennen« wieder. Schon im Jahre 1806 war er auf diesen merkwürdigen Stoff, der alle jene dunkeln Elemente in sich schloß, aufmerksam geworden, doch erst 1820 begann er die Bearbeitung.

Das Verhältniß des Menschen zum Göttlichen war der eine Punkt, auf den alles ankam. Früher hatte er dessen Ausdruck in der Legende und Mystik gefunden. Auch jetzt war er weit entfernt Wunder und Geheimniß anzugreifen, wie man ihm Schuld gab; vielmehr faßte er es tiefer und unmittelbarer auf. Das Gesetz, von dessen scheinbaren Ausnahmen wir als von einem Wunder sprechen, ist selbst das Wunder, hier liegt das Geheimniß, es umgibt uns, in ihm leben wir, aber wir nehmen es nicht wahr. Darum kann und soll die vereinzelte Thatsache eines Wunders niemals zum ausschließlichen Mittelpunkte des religiösen Bewußtseins oder Bedürfnisses gemacht werden. Die Offenbarung bedarf dessen nicht, und die unruhige Wundersucht, welche immer nach neuen Bestätigungen des Ewigen sucht, ist am Ende Irreligiosität oder Schwärmerei. Das höchste aller Wunder aber begibt sich in dem Menschen selbst, wenn das Herz des Bereuenden oder Gleichgültigen sich unwiderstehlich zu Gott hingezogen fühlt. Denn hier geht der Schöpfungsproceß zum zweiten Male vor sich, in dieser Wiedergeburt wird aus Nichts Etwas geschaffen.Die hier dargestellten Ansichten entwickelt Tieck im zweiten Abschnitt des »Aufruhr in den Cevennen« im Gespräche Edmund's mit dem alten Pfarrer. Vgl. damit Tieck an Solger in den Briefen von 1817, in »Solger's nachgelassenen Schriften«, I, 541, 586.

Der Mensch ist ewigen Ursprungs, aber das Böse ist in ihn eingedrungen, es ist die Unkraft, der Ungrund, das reale Nichts. Ist er dagegen absolut schlecht, so hat alles von 51 vornherein ein Ende. Aber ohne die Offenbarung und ihre Aufnahme gibt es keinen Sinn im Tiefsinn, keinen Geist in der Geschichte, keinen Trost in der Natur, keinen Scherz, keine Kunst, keine Liebe. Er, der Quell und Keim aller Liebe ist, kann sich dem Herzen nicht entziehen, das ihn mit seinen heiligsten Kräften sucht und ihm entgegenstrebt. Doch die höchste Entzückung kann nicht gleichmäßig fortdauern; der gewonnene Besitz wird durch den Zweifel angefochten, er scheint sich uns wieder zu entziehen, das ist die Schwäche und Beschränktheit der menschlichen Natur. Aber der Zweifel ist der Diener des Glaubens; wer nie gezweifelt hat, wird auch nicht im vollen Sinne glauben können. Der Sichere wird nur um so eher zu Falle kommen. Wer vor der in Entzückung erkannten Wahrheit nicht in Ehrfurcht zurücktritt, wird in geistiger Schwelgerei untergehen, oder sich zu fanatischer Verfolgungssucht verhärten. Die abschreckendsten Verzerrungen treten aber da hervor, wo die höchsten göttlichen Erhebungen der nichtigen Leidenschaft dennoch verfallen und sich mit den dunkeln Naturkräften und dem dämonischen Nichts verbinden. Hier entsteht wilde Schwärmerei. Jede Schwärmerei aber ist die Zwillingsschwester der ihr scheinbar unähnlichsten, und die ewige Wahrheit wird herabgezogen und entweiht. Vor diesen Verirrungen bewahrt nur Demuth, Entsagung, einfacher Wandel und Gebet. Das Christenthum aber in seiner unendlichen Milde weist kein wahres Bedürfniß und keine wahre Sehnsucht ab. Wie es ein unendliches und allgemeines ist, so ist es auch für Jeden ein besonderes; darin liegt seine Freiheit. Beschränktheit ist es, seinen ganzen tiefen Inhalt auf eine Silbe stellen, und diese Silbe aller Welt aufdrängen zu wollen, und Profanation des Heiligen, es unaufhörlich im Munde zu haben. Es gibt viele Wege, die zu Gott hinführen.

52 Das Höchste, Unsichtbare suchte Tieck hier dichterisch faßlich und gegenständlich zu machen. Denn das war ihm die Aufgabe der Poesie, daß die wahre Begeisterung auch im Geringen das Hohe, im Irdischen das Ueberirdische wiedererkenne, und Gott auch da sehe, wo das blöde Auge verschlossen bleibt. Auf diesen Gipfel wahrhaft prophetischer Seherkraft erhob er den Dichter in den Novellen »Dichterleben«, und dieser Seher trug den Namen Shakspeare.

Wie in der Jugend war ihm die Poesie auch jetzt noch eine Offenbarung, welche das Göttliche in ihrer Weise aussprechen sollte. In den frühern Naturdichtungen und Sagen hatte er stets das altkluge bewußte Thun und Machen der Menschen im Gegensatze zu der instinctiven Macht des Geistes dargestellt. Während die Klugen und Weisen zu Schanden werden, fällt den Kindlichen und geistlich Armen das Höchste ungesucht zu. Das war die ewige Ironie der Weltordnung. Auch in den Novellen faßte er sie so auf. Nichts anderes war es, wenn im »Funfzehnten November« der dunkle Instinct des Blödsinnigen die Todesgefahr lange vorher ahnt, und die Klugen, die ihn verspotten, daraus errettet, und wenn dieser Instinct die Macht Gottes genannt wird.

An diesen Stoffen bildete sich die dialektische Entwickelung und sinnlich gegenständliche Darstellung zur Meisterschaft. Wo hätte man ausgeprägtere mannichfaltigere Charaktere gefunden? Es war eine Galerie der eigenthümlichsten Menschen, die aufgestellt wurde. Aber es waren keine Bilder, sondern Menschen von Fleisch und Blut. Man sieht sie sinnlich, handgreiflich vor sich, in ihrem Thun und Lassen, in allen ihren Bewegungen. Selten hatte sich das große Talent der Menschendarstellung glänzender bewährt. Wie behaglich in ihrer Selbstzufriedenheit trat nicht die 53 Thorheit auf, und hier wie überall zeigt sich die ungetrübte Komik, die von jeder böswilligen Absicht fern, sich nur um ihrer selbst willen gibt, und so zu reiner Wirkung gelangt. Und wie schwebte über Allem, was scharfe Beobachtung des Lebens, reife und allseitige Erfahrung gesammelt hatten, die versöhnende Milde des Urtheils, der Tiefsinn, die verklärende Kraft der Dichtung. Freilich war es eine andere Strahlenbrechung der Poesie als in der »Genoveva«, im »Octavian« und »Phantasus«, aber es war Poesie hier wie dort; und wo das reichere Licht sei, darüber konnte man kaum zweifelhaft sein.

Konnte man die ältesten Erzählungen in den »Straußfedern« grobe aber charakteristisch derbe Holzschnitte nennen, die Märchen im »Phantasus« schaurige Nachtbilder, so waren die Novellen vollendete Gemälde, auf denen das helle Tageslicht des Kunstwerkes ruhte. Muster und Vorbilder waren ihm Boccaz und Cervantes, dann Goethe, der in der deutschen Literatur die ersten Beispiele reiner novellistischer Kunstform gab. Durch Tieck kam sie jetzt zum Abschlusse, und den ältern Meistern der Novelle gesellte er sich als der jüngste zu. Diese Gattung der Erzählung, die bisher schwankend und zweideutig gewesen war, ward nun fast die populärste. Die Idee der Novelle bildete sich schärfer und klarer aus.

Auch seine Theorie derselben enthielt nichts Anderes, als was er zu allen Zeiten in den Dichtungen darstellen wollte. Eine hervortretende Spitze, einen Brennpunkt sollte die Novelle haben, in welchem ein bestimmtes Ereigniß in das hellste und schärfste Licht gesetzt wird. Dieses Ereigniß mag alltäglicher, ja scheinbar geringfügiger Natur sein, und dennoch ist es wunderbar, ja vielleicht einzig, weil es nur unter diesen Umständen geschehen, und nur diesen Personen 54 widerfahren kann. Es erscheint somit das Wunder in unserer gewöhnlichen Umgebung, und doch in der eigenthümlichsten und überraschendsten Weise ausgeprägt. Von nicht minder wunderbarer Einwirkung ist es auf die Welt der Geister. Es bildet den dialektischen Wendepunkt der Handlung, und um ihn sammelt sich die gespannteste Theilnahme des Lesers. Die Novelle, welche das Wunder im täglichen Laufe der Dinge zu enthüllen sucht, ist mehr auf die Stoffe der Gegenwart, als der Vergangenheit angewiesen. Daraus folgte der Uebergang von den Legenden und Sagen der Vorzeit zu den Problemen des Tages.Tieck's Ansicht der Novelle s. auch in der Einleitung zum elften Bande der »Schriften«, S. LXXXIV.

Er, der einst das romantische Land eröffnete, wollte nun zeigen, die wahre Poesie sei frei und unbedingt; daß sie den romantischen Glanz wol annehmen könne, aber zu ihrem Wesen seiner nicht nothwendig bedürfe. Die Verhältnisse und Eigenthümlichkeiten der neuen Zeit erschließen sich dem klaren dichterischen Auge nicht minder als die Vergangenheit; ward doch auch für Cervantes seine Zeit zum Stoffe reicher und tiefsinniger Darstellung. Nicht allein die Lebensfülle der Gegenwart in ihren besondern Gestalten und Charakteren war darzustellen, auch die großen Fragen, welche die Parteien in Staat, Kirche und Literatur beschäftigten, die oft in Familien und häusliche Verhältnisse zerstörend eingriffen, gerade sie vorzugsweise mußten zur Sprache kommen. Die Gegensätze der Geister, die scharfen und schneidenden Contraste der Ansichten konnten sich in der Handlung bis zur Wirkung der Tragödie erheben; aber sie ließen sich auch zum Gegenstande der ruhigen Erörterung und des Dialogs machen. In diesen Gesprächen, welche tiefsinnig ernst, oder leichtscherzend und humoristisch große Stoffe behandelten, bewährte sich die Meisterschaft künstlerischer Dialektik. Es war eine bestimmte, aber doch höchst dehnbare Form der Erzählung gewonnen, 55 die jeder Erweiterung fähig war, und jedem Gegenstande sich anschmiegte. Immer aber sollte die Novelle den höchsten Standpunkt des Dichters festhalten, sie sollte die Welt nicht allein abspiegeln, sondern die Widersprüche des Lebens, die Wirren und Kämpfe der Leidenschaft auflösen und zur versöhnenden Auffassung erheben.

In derselben Zeit entwickelte Tieck auch als literarischer Sammler und Forscher eine ungemeine Thätigkeit. Es hatte sich ihm eine Reihe von Aufgaben gebildet, welche er allmälig zu lösen hoffte. Immer noch stand hier sein Shakspeare voran; was er für diesen that, galt ihm nur für eine Vorbereitung, für einen Abschlag auf das Hauptwerk, dessen Gedanke der Mittelpunkt aller seiner Studien war. Unterstützt durch das Talent jüngerer Freunde, gab er seit 1823 eine Reihe altenglischer Stücke, unter dem Titel »Shakspeare's Vorschule« heraus, und begleitete sie mit einer historisch-kritischen Einleitung. Da Schlegel von der Uebersetzung des Shakspeare sich vollständig zurückgezogen hatte, übernahm er es sie zu vollenden. Diese neue Ausgabe des sogenannten Schlegel-Tieck'schen Shakspeare erschien seit 1825; die einzelnen Stücke begleitete er mit kritischen Anmerkungen und Excursen. 1827 gab er die Uebersetzung von Espinel's »Leben des Marcos Obregon« heraus, und führte in der umfassenden Vorrede in die gleichzeitige spanische Literatur ein.

Ebenso thätig war er für die deutsche Literatur, wo er durch Sammlung und Herausgabe anderer Dichter und Schriftsteller eine persönliche Schuld abtragen, eine Pflicht der Pietät erfüllen wollte. Von dem hohen Talente H. v. Kleist's überzeugt, von seinem tragischen Geschicke tief erschüttert, sah er in der Erhaltung des Andenkens des halbvergessenen Dichters eine unerläßliche Pflicht. Er wollte die Nachwelt zu der 56 Anerkennung nöthigen, welche die Mitwelt verweigert hatte. Ihm verdankt man die Erhaltung von Kleist's bestem Werke, des »Prinzen von Homburg« Er erinnerte an das einzige noch vorhandene Manuscript, welches unter den Papieren einer hohen Person, die sich einst dafür interessirt hatte, vergessen worden war. Schon 1821 gab er Kleist's hinterlassene Schriften, 1826 die gesammelten Werke heraus, und in demselben Jahre vereint mit Raumer, Solger's Nachlaß und Briefwechsel. Auch Lenz war damals ein verschollener Dichter. Er zog ihn aus der Vergessenheit hervor und sammelte seine Dramen, für deren derbe Natürlichkeit er seit der Jugend eine große Vorliebe hatte, aufs neue. Die Einleitung dazu gestaltete sich zu einer literarhistorischen Darstellung der Epoche, in welcher Goethe zuerst auftrat. Auch schrieb er manche Kritik oder Vorrede, oft auf Bitten der befreundeten Verfasser, und seine dramatischen Recensionen in der »Abendzeitung« gab er 1826 unter dem Titel »Dramaturgische Blätter« gesammelt heraus.

Endlich legte er Hand an die erste Gesammtausgabe seiner Schriften. Sie sollte zugleich der Weiterverbreitung der verschiedenen unrechtmäßigen Ausgaben (eine solche war zuletzt in Wien erschienen) entgegentreten. Die erste Lieferung von fünf Bänden wurde 1828 ausgegeben. Ihr, wie den beiden folgenden, ging ein ausführliches Vorwort voran. Hier erläuterte er Veranlassung und Entstehung seiner ältern Werke, die schon in den Hintergrund getreten waren. Es waren zugleich die ersten Ansätze, die er zu einer Geschichte seines Lebens und Bildungsganges machte. Leider sind es die einzigen geblieben. 57



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