Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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13. London und Paris.

Längst hatte er gewünscht das Vaterland seines Dichters kennen zu lernen, den Boden, der zugleich Schauplatz der meisten und gewaltigsten Tragödien desselben war. Es war von Wichtigkeit, in die Hülfsmittel Englands für diese Literatur Einsicht zu gewinnen. Im Verlaufe einer fünfundzwanzigjährigen Erforschung Shakspeare's und des englischen Dramas, hatte er eine umfassende Kenntniß dessen erworben, was die deutschen Bibliotheken darin aufzuweisen hatten. Aus eigener Anschauung oder durch Vermittelung von Freunden wußte er was Göttingen, Dresden, Berlin und Kassel besaß. Viele ältere englische Dramen, selbst solche, die unter Shakspeare's Namen gingen, suchte man hier vergeblich. Es schien nicht möglich sie in Deutschland herbeizuschaffen. Mit Freuden ergriff er daher auch diesmal einen Plan seines reisefertigen Freundes Burgsdorff, ihn 1817 nach England zu begleiten.

Endlich war ein allgemeiner und dauerhafter Friede gewonnen. Mit dem Gefühle der Sicherheit kehrten auf allen Lebensgebieten die alten, lang zurückgedrängten Neigungen wieder. Es war anziehend, jetzt im ersten Augenblicke friedlicher Beruhigung London und Paris, denn auch dieses sollte besucht werden, zu sehen.

In den ersten Tagen des Mai 1817 traten sie die Reise an. Sie nahmen ihren Weg durch das nördliche Deutschland nach den Rheingegenden und den Niederlanden, die Denkmäler der alten Kunst wurden zunächst Gegenstand der Betrachtung, soweit es die Eile verstattete. Die Augen des lebenden Geschlechts hatten sich für die Größe nationaler Vergangenheit geöffnet, die Kunstwerke der deutschen 372 Vorzeit, über die man kalt und gleichgültig hinweggesehen hatte, erschienen jetzt in neuem, glänzenden Lichte.

Die Freunde betraten zuerst die alten Dome in Magdeburg und Halberstadt, und rasteten dann in Göttingen. Es war ein bewegtes Wiedersehen nach der Studienzeit, die nun schon ein Vierteljahrhundert hinter ihnen lag. Sie besuchten die Bibliothek, die jetzt unter der Leitung des in der neuen Literatur gelehrten Beneke stand, sie sahen Hugo, Heeren und einige andere Notabilitäten der Universität, auch Fiorillo, ihren alten Lehrer. In Marburg erfreuten sie sich der alten Kirche, dann der herrlichen Lage Wetzlars und Limburgs und der dortigen Alterthümer. In Koblenz verweilten sie bei Görres, der auch der altdeutschen Kunst lebte. Er besaß nicht unbedeutende Sammlungen, mit denen er seine Wohnung geschmückt hatte, und hielt es für Pflicht den Dichter der »Genoveva« zur Kapelle der heiligen Genoveva bei Andernach zu führen, die sammt der Quelle beim Volke im Rufe heilbringender Kraft stand. Wichtiger war es für Tieck Max von Schenkendorf kennen zu lernen, den Dichter der Freiheitskriege, dessen schönes lyrisches Talent er achtete. Görres begleitete sie nach Köln, dem deutschen Rom, wo sie mit Walraf, Grote und andern Alterthumsforschern bekannt wurden.

Weiter ging es nach Brüssel, Mecheln, Antwerpen, Gent und Brügge. Es waren zum Theil die Kunstwanderungen seines Sternbald, welche Tieck zwanzig Jahre später nachholte. In diesen Städten war noch das alte deutsche Leben in ursprünglicher Fülle zu Hause. Hier gab es Kathedralen, Bilder von Eyck, Hemlink, Rubens. Auch der Menschenschlag trug den festen, sichern Zuschnitt eines wohlgegründeten, althistorischen Daseins.

Von Calais gingen sie über den Kanal. Am Morgen des 29. Mai sahen sie die Küste von England. Im Nebel, 373 zwischen grauer See und Wolken, lagen die Kreidefelsen von Dover vor ihnen. Es war trübes Wetter, und der erste Anblick kein heiterer. Doch für manche Unannehmlichkeiten entschädigte schon der Besuch der Kathedrale von Canterbury. Tages darauf waren sie in London. Bald fanden sich alte und neue Bekannte zusammen; Burgsdorff's alter Freund, der Baron von Bielfeld, Leopold von Buch, der geniale Naturforscher und Reisende, der durch sein schroffes, aber immer originales Wesen anzog.

Für Tieck gab es in London zwei Punkte, die vor andern seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, das Museum und das Theater. Bald überzeugte er sich, wie unentbehrlich die Kenntniß der Schätze des ersten für seine Shakspearestudien sei. Aus Handschriften und seltenen Drucken copirte er manches alte Drama. Eine freundliche Unterstützung dieser Arbeiten fand er bei dem jüngern Schlichtegroll, der auf dem Britischen Museum beschäftigt war, und auch später manchen Auftrag für ihn ausführte.

Auf der Bühne war es Tieck vergönnt, Kemble und Kean nebeneinander zu sehen. Der erste war im Begriffe, seine theatralische Laufbahn zu schließen. Tieck sah ihn in den größten Rollen Shakspeare's, als Brutus, Percy, Wolsey, Hamlet, endlich als Coriolan, worin man sein Spiel stets am meisten bewundert hatte. Lange war er der Liebling des Publicums gewesen. Unter ausbrechenden Thränen nahm er nach der letzten Vorstellung von den Zuschauern und der theatralischen Wirksamkeit Abschied. Wahrhaft wüthende Ausbrüche der Verehrung folgten, mit denen das Publicum den berühmten Schauspieler überschüttete. Es war eine Scene des ungeheuersten Lärms und Tumults. Kemble war ein bedeutender Schauspieler, dennoch entsprach er nicht dem, was Tieck von der Kunstvollendung forderte, und selbst gesehen 374 hatte. Früher mochte Kemble's Spiel wirksamer gewesen sein; jetzt im vorgerückten Alter hatte er an Kraft und Stimme eingebüßt. Für jugendliche Rollen reichten beide nicht mehr aus. Er declamirte mehr als er spielte. Doch in der Herrschaft über Sprache und Ton zeigte er sich als Meister. Seine Rede glich einem klaren, gleichmäßigen Flusse, der aber endlich ermüdet. Um so größer war die Wirkung, die er durch einzelne, unerwartet und selten angewendete Accente hervorrief. Oft glaubte Tieck Iffland wieder zu hören.

Mit andern Mitteln wirkte Kean als Hamlet und Richard III. Er war der vollendete Gegensatz Kemble's, und bei weitem mehr Manierist. Sein Ton war scharf, eindringend, zum Humoristischen neigend. Er zerschnitt und zerriß die Rede, er war in steter Unruhe; heftig fuhr er auf der Bühne hin und her. Die wirklich bedeutenden Momente waren bei ihm seltener. Man kam nicht zum ruhigen Genusse. Talma zu sehen gelang nicht. Mit der George gab er einzelne Scenen auf dem Theater der großen Oper bei einem nach deutschen Begriffen ungeheuer hohen Eintrittsgelde. Im Ganzen stand das englische Theater tiefer als das heimische. Die Manier herrschte, der letzte Ton der Naturwahrheit war verloren gegangen. Ohne Verständniß und Achtung des Dichters verarbeitete man Shakspeare's Dramen durch Abkürzungen und Zusammenziehungen wahrhaft barbarisch, oft bis zur Unkenntlichkeit. Von der Bedeutung und Wirkung des Ganzen hatte man keine Idee.

Was neben den Studien an Zeit übrig blieb, gehörte den Kirchen und Galerien, dem Tower, der Stadt, dem Leben im Allgemeinen. Auch bei der Einweihung der neuen Waterloobrücke waren sie zugegen. Doch war für Tieck dies Treiben nicht eben leicht. Oft seufzte er über die weiten Entfernungen in der großen Stadt, und die Eigenthümlichkeiten 375 der Sitte gaben ihm, der an deutsche Hausordnung gewöhnt war, in Scherz und Ernst zu mancher Aeußerung des Unmuths Gelegenheit. Er fand, das Leben werde bei allen Vorrichtungen zur Bequemlichkeit wieder unbequem; und wer Deutschland in seiner Weise wolle schätzen lernen, müsse ins Ausland gehen. Auch London wollte ihm nicht gefallen. Der alterthümlichen Reste waren weniger als er geglaubt hatte, und diese wurden durch neue Bauwerke, und das Handels- und Fabriktreiben der modernen Welt verdrängt.

Doch mußte er die Freundlichkeit der Engländer, deren Bekanntschaft er machte, rühmen. Man wußte mehr von ihm, als er erwartet hatte. Das Lob, welches ihm die Staël ertheilt hatte, war nicht ohne Wirkung geblieben. Seine Schriften waren bekannt, und die Arbeiten über Shakspeare konnten auf Zustimmung und Förderung rechnen. Unter den englischen Schriftstellern fand er einen Bekannten wieder, Coleridge, den Kenner der deutschen Literatur und Uebersetzer des »Wallenstein«. Er hatte ihn zehn Jahre früher in Rom gesehen, und in freundlichen Beziehungen zu ihm gestanden. Auch schätzte Coleridge Tieck als Dichter und Kritiker.

Shakspeare war Gegenstand ihrer häufigen Unterhaltungen. Coleridge kannte seine Ansichten über die englischen Commentatoren, und daß er über den Entwickelungsgang des Dichters und die Reihenfolge der Stücke eine andere Meinung aufgestellt habe. Eines Abends bat er ihn um ausführliche Mittheilung derselben. Tieck erklärte sich bereit, wenn er sie im Zusammenhange und ohne Unterbrechung vortragen könne. Es war zehn Uhr Abends, als er begann, Mitternacht vorüber, als er schloß. Schweigend hatte Coleridge zugehört; ohne ein Wort der Erwiderung sagte er gute Nacht. Am andern Abende kam man wieder zusammen. »Ich habe«, fing er an, »Ihre Ansichten die 376 ganze Nacht hindurch überlegt; und Neues daraus gelernt. Ich finde, Sie haben in vielen Punkten Recht.« Auf eine so unumwundene Zustimmung hatte Tieck nicht gehofft. »Dennoch«, fuhr er fort, »kann ich sie nicht annehmen!« »Und warum nicht?« fragte Tieck überrascht. »Weil ich sie nicht annehmen will, denn sie widersprechen Allem, was man bisher in England über Shakspeare gedacht und geschrieben hat.« Gegen einen so nationalen Gesichtspunkt auch in der Kritik war schwer anzukämpfen. Doch erwies sich Coleridge freundlich und behülflich, und durch seine Vermittelung kam Tieck in Berührung mit Southey und dem Novellisten Godwin.

Endlich wünschte man England außerhalb Londons kennen zu lernen. Wohin anders konnte dieser Ausflug gehen, als nach dem Geburtsorte Shakspeare's? Zuerst nach Oxford. Aber auch der Natur konnte Tieck keinen Geschmack abgewinnen. Es war ein üppig grünendes, ein herrlich bestelltes Land, durch das sie fuhren; aber es war eine gemachte, eine zugeschnittene Natur, den Charakter der Ursprünglichkeit hatte sie verloren. Es fehlte ihr die Unmittelbarkeit, jene Heiligkeit, wie er es nannte, welche das Gefühl anspricht, und die ihn selbst in den ärmlichen Gegenden der Heimat oft gerührt hatte. Durch die Industrie war sie des dichterischen Duftes beraubt worden.

In Warwickshire standen sie auf dem Boden Shakspeare's und seiner Helden. Herrlich war die Wirkung des alten Schlosses von Warwick, mit seinen Mauern, von dichtem Epheu umsponnen. Die reiche Sammlung alter Waffen, die hier aufbewahrt wurde, erhöhte den lebendigen Eindruck. Man bestieg einen der mächtigen Thürme, der einen überraschenden Blick auf das Land gewährte. Dann besuchten sie die Ruinen des einst glänzenden Schlosses Kenelworth, an dessen Namen sich viele bedeutende Erinnerungen knüpften. Zuletzt 377 waren sie in dem kleinen Stratford am Avon, das ein Dichter zum berühmten Wallfahrtsorte gemacht hatte. So waren die Dinge in Erfüllung gegangen! Er, der Dichter, stand in frommer Verehrung an der Wiege des Dichters, an dessen Geiste im fernen Lande und nach Jahrhunderten sich der seine entzündet, dessen Namen er im Herzen getragen hatte, seit er seiner selbst bewußt geworden.

Ueber die Felder von Glocestershire, wo die blutigen Schlachten der beiden Rosen geschlagen worden waren, über Bristol und Bath, reisten sie nach Salisbury, wohin sie außer der alten Kathedrale auch das fabelreiche Feld von Stonehenge zog, welches die Sage zum Schauplatze Merlin's macht. Mit diesem Ausfluge schloß ihr Aufenthalt in England.

In den ersten Tagen des Juli trafen sie in Paris ein, wo sie von Alexander von Humboldt, Oelsner und Andern freundlich empfangen wurden. Die eigenthümlichste Erscheinung unter den Deutschen in Paris war Schlaberndorf, der seine heimischen Verhältnisse zum Opfer gebracht hatte, um hier als Einsiedler und Weltmann zugleich zu leben. Seine Sonderbarkeiten hatten die Revolution überdauert. Von den herkömmlichen Gesetzen des geselligen Lebens befreit, beschränkte er sich auf den Raum eines dürftigen Zimmers, das er nicht mehr verließ. Schon aus dem Bette aufzustehen, war ihm eine wichtige Veränderung; oft blieb er Tage lang liegen. Dennoch war er mitten in den Dingen. Es fehlte ihm nicht an Berichten aus der politischen und literarischen Welt. Die ausgezeichnetsten Personen besuchten den Sonderling. Er war eine lebendige Chronik der französischen Revolution, und überschaute die politische Lage mit dem Blicke eines Staatsmanns und der Ruhe eines Diogenes. Tieck suchte ihn in seiner Einsiedlerhöhle auf. Er fand einen alten Mann mit starkem grauen Barte, von verwildertem 378 Ansehen. Das Hauptstück seines Anzugs war ein zerrissener Schlafrock, der die Blöße des Körpers, und den Mangel der gewöhnlichsten Unterkleider nur unzureichend bedeckte. Es war das Bild eines Anachoreten; aber seine volle Theilnahme gehörte dem Leben und der Gegenwart. Beredt sprach er von der Revolution. Er ging mit dem Gedanken um, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. In seinem Kopfe war das Buch fertig. Auch hatte er es auszuführen angefangen. Zum Beweise brachte er einige Bogen Papier zum Vorschein, auf deren erster Seite der zierlich geschriebene Titel des Buches stand. Weiter war er noch nicht gekommen. Tieck wiederholte diese merkwürdigen Besuche, erregte aber dadurch den Zorn Leopold's von Buch, der nur spottend und verwerfend von dem sonderbaren Manne sprechen konnte, der in seinen Augen ein vollkommener Revolutionär war.

Auch in Paris war die Bibliothek das Wichtigste, über deren Besitz in der ältern deutschen und dramatischen Literatur Tieck sich zu unterrichten suchte; dann die Theater. Hier ereignete sich ein merkwürdiges Abenteuer. Wiederholt bemerkte er, daß er unter den zunächst Sitzenden eine gewisse Aufmerksamkeit und eine Bewegung hervorrief, die sich weiter verbreitete, so oft er eintrat. Was konnte es sein? Als deutscher Dichter war er sicherlich nicht Gegenstand der Neugier. Endlich kam es an den Tag. Es bestätigte sich, was ihm früher schon Freunde gesagt hatten; seine auffallende Aehnlichkeit mit dem Kaiser war es, die Aller Blicke auf ihn lenkte. Diese großen dunkeln, schwermüthigen Augen, die hohe Stirn, die obere Hälfte des Gesichts erinnerte lebhaft an Napoleon in späterer Zeit. Ein Nordamerikaner, der den König Joseph persönlich kannte, meinte, diesem sähe er noch ähnlicher. Tieck, kein Bewunderer Napoleon's, hatte dergleichen scherzende Bemerkungen immer halb unwillig 379 abgewiesen, jetzt mußte er sich von ihrer Wahrheit überzeugen. Aeltere Offiziere des Kaiserreichs nahten sich ihm forschend, selbst auf der Bibliothek umgab man ihn, sodaß es ihm zuletzt lästig ward, Gegenstand dieser neugierigen Betrachtung zu sein.

Nach einem Aufenthalte von mehreren Wochen trat man die Rückreise an. Durch das Lothringische und über Trier gingen sie nach Koblenz, wo sie bei Görres den Präsidenten von Meusebach, den bekannten Sammler für ältere deutsche Literatur, sahen. In Frankfurt a. M. trafen sie F. Schlegel. Unerwartet begegneten sie darauf in Heidelberg Jean Paul. Zu den ältern Freunden, Daub und Creuzer, kam noch der Mediciner Nägele, ein heiterer, humoristischer Mann, und Hegel, dessen Ruf als Philosoph um diese Zeit begann. Auch bewunderten sie Boisserée's Sammlung altdeutscher Gemälde, die an Werth und Umfang Alles übertraf, was sie auf der Reise an Denkmälern alter Kunst gesehen hatten.

Endlich verwandten sie noch einige Tage auf das südliche Deutschland. Ueber Karlsruhe gingen sie nach Baden-Baden, Stuttgart und Würzburg, dann durch Thüringen nach Weimar. Wie konnte Tieck hier sein, ohne Goethe wenigstens begrüßt zu haben? Denn mehr verstattete dieses Mal der kurze Aufenthalt nicht, da er noch an demselben Tage weiter reiste. Goethe meinte später von Tieck's Besuche, es sei ja diese Zusammenkunft ganz gut abgelaufen.

In Weißenfels besuchten sie Müllner, einen Dichter neuen Schlages, dessen schnell erworbener Ruhm für ein Zeichen der Zeit gelten konnte. Tieck hatte ihn früher einmal gesehen, jetzt wünschte auch Burgsdorff, den Schicksalstragöden kennen zu lernen. Im Gefühle reichlich genossener Anerkennung war Müllner so zuversichtlich, daß er einen komischen Eindruck machte. Man unterhielt sich einen ganzen Abend lang. Tieck 380 wagte einige Zweifel über »Die Schuld« zu äußern. Müllner überhörte sie, oder fertigte sie mit der wiederholten Versicherung ab, in der Vorrede zur bevorstehenden vierten Auflage werde er diese und andere Einwürfe widerlegen. Dies kehrte so häufig wieder, daß es klar ward, er hielt die vierte Auflage seiner »Schuld« für eine Waffe, an der alle Kritik zunichte werden müsse. Nach einem flüchtigen Besuche bei Adam Müller in Leipzig langten sie im September in Berlin an.

Hier sah Tieck viele Freunde älterer und neuerer Zeit, Brentano, Arnim, Solger, Schinkel, mit dem er in froher Gesellschaft zusammenkam, auch F. A. Wolf und Schleiermacher. Seit seiner Studentenzeit war er Wolf hin und wieder begegnet. Er fand den schlagfertigen, epigrammatischen Alterthumsforscher wieder, der die Alten auch praktisch wohl studirt hatte. Schleiermacher besuchte er in seiner Kirche. Mit Bewunderung hörte er den großen Redner. Seine Predigt war einfach, klar, treffend, belehrend. Dennoch genügte sie dem, was Tieck von kirchlicher Erbauung forderte, nicht ganz. Am Mittage desselben Tages war er in einer Gesellschaft bei seinem Verleger Reimer. Im eifrigen Gespräche begriffen, fühlte er einen leichten Schlag auf der Schulter. Es war Schleiermacher, der ihn am Morgen von der Kanzel aus bemerkt hatte. Originell rief er ihm zu: »Wie Teufel, Tieck, kommen Sie denn in meine Kirche?«

Auch Oehlenschläger hielt sich in Berlin auf. Ueber Wien war er aus Paris zurückgekehrt, wohin er einen vornehmen jungen Dänen begleitet hatte. Er war ganz der Alte, gutmüthig, aber reizbar und blindlings zufahrend. Dies führte zu einer komischen Täuschung. Er war ein Bewunderer Shakspeare's, und »Hamlet« nahm bei ihm auch darum die erste Stelle ein, weil er darin eine Verherrlichung des skandinavischen Nordens sah. Kühn trat ihm Tieck mit der 381 Behauptung entgegen, eben in dieser Tragödie habe der Dichter mit klaren Worten ausgesprochen, daß die Dänen keine Vernunft besäßen. Aufbrausend rief Oehlenschläger, das sei unmöglich. Tieck versprach den Beweis zu führen, und zeigte ihm jenen Vers, in dem der König sagt: »Ihr könnt nicht von Vernunft dem Dänen reden.« Oehlenschläger brach in eine Flut von Verwünschungen aus. Solche Einseitigkeit, ja Barbarei sei unerhört! Ein ganzes Volk der Vernunftlosigkeit anzuklagen! Wer so spreche, sei gewiß kein Dichter! Aber er sage sich jetzt von Shakspeare los; öffentlich werde er die leichtgläubige Welt darüber aufklären, welchen Götzen sie angebetet habe. Sein Zorn steigerte sich zur Berserkerwuth, der die Freunde umsonst Einhalt zu thun suchten.

Am andern Tage, als man wieder zusammenkam, schalt er in demselben Tone weiter, als wenn er soeben erst aufgehört hätte. Jetzt mußte der Sache ein Ende gemacht werden. Solger und Schleiermacher, die zugegen waren, ergriffen den Widerstrebenden an den Armen, und drückten ihn auf den Stuhl nieder. Den Shakspeare in der Hand, trat Tieck vor ihn und schrie ihm in die Ohren: »Mensch, bist du unsinnig geworden? Höre an! Laß dich bedeuten!« Schon der folgende Vers erkläre ja, wie es zu verstehen sei; nur aus dem Zusammenhange gerissen, gebe jener Vers einen so verkehrten Sinn. Der Däne sei der König, dieser bestimmte König von Dänemark, nicht die Dänen, das Volk überhaupt. Allmälig ward Oehlenschläger stiller, er fing an zu begreifen, warum es sich handle. Erschöpft saß er auf dem Stuhl; der Schweiß lief ihm von der Stirn. Endlich sagte er: »Böses Volk ihr! Einem so zuzusetzen!« Doch seine Gutmüthigkeit ließ ihn nicht lange zürnen, und bald stimmte er in das Gelächter der Freunde ein. 382



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