Rudolf Köpke
Ludwig Tieck
Rudolf Köpke

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5. Die Vaterstadt.

Im Herbste 1794 war Tieck wieder in Berlin. Er sah das väterliche Haus, die Freunde, die Kreise wieder, in denen er seine erste Bildung erhalten hatte. Es war noch der alte, ihm wohlbekannte Zuschnitt der Dinge; nur wenig hatte sich geändert. Aber er war ein anderer geworden. Als Schüler war er gegangen, als durchgebildeter Mann kehrte er zurück, mit dem vollen Entschlusse selbständig, nach eigener Ueberzeugung einzugreifen. Seine Ansichten waren fester, sein Urtheil sicherer, sein Blick schärfer geworden; Muth und Zuversicht, der Glaube an seinen Beruf waren gewachsen. Im Gefühle der vollsten Jugendkraft war er wenig geneigt zu schonen oder sanft aufzutreten. Der Abgeschmacktheit und Albernheit erklärte er offen den Krieg, und war entschlossen ihn schonungslos zu führen, wo er sie auch finden mochte.

Auf dem Gebiete der Dichtung, der Kritik und Literatur begegnete er ihr so häufig! Der Ton der kritischen Zuversicht, Unfehlbarkeit und Kunstrichterei war in Berlin zu 188 Hause; er mochte sich eher gesteigert als gemildert haben. Die alten Kunstrichter schienen ihr Amt hier um so entschiedener behaupten zu wollen, je mehr sie auf andern Punkten allmälig aus ihrer frühern Stellung hinausgedrängt worden waren.

Die meisten angesehenen und namhaften Männer Berlins, welche bisher die öffentliche Meinung geleitet hatten, insofern von einer solchen überhaupt die Rede sein konnte, waren in den Zeiten Friedrich's des Großen gebildet. Die Ansichten, welche in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die herrschenden waren, hatten sie in sich aufgenommen, sie waren in Fleisch und Blut übergegangen. Es waren moralische, pflichttreue Männer in allen Fächern des Wissens und der Verwaltung, die mit ernstem und hingebendem Amtseifer und oft mit eiserner Kraft arbeiteten. Sie waren klar, scharf, nüchtern und doch nicht frei von idealer Täuschung. Wie sie an sich selbst arbeiteten, wollten sie auch die moralische Verbesserung der Menschen. Durch ein äußerliches Machen und Eingreifen glaubten sie dies zu erreichen, durch Maßregeln und Verordnungen die Menschheit erziehen zu können. Sie hatten die Zuversicht, nur in den Formen, wie sie sich in dem Zeitalter Friedrich's entwickelt hatten, sei eine heilsame Wirksamkeit möglich.

In diesen Ansichten begegneten sich die Richter und Räthe der Collegien, die Theologen der sächsischen Schule, welche bis dahin die Kanzeln fast allein beherrscht hatten, und deren Predigt das Christenthum nützlich zu machen suchte, die Schulmänner, welche die Bildung in dem Gemeinverständlichen fanden, die Kritiker, Popularphilosophen und sogenannten Dichter, welche das Theater leiteten, die wenig zahlreichen öffentlichen Blätter herausgaben, und die Literatur in Händen hatten. Der Gedanke, von dem alle diese Männer 189 beseelt waren, ließ sich in dem einen Worte »Aufklärung« zusammenfassen.

Gewiß war es ein edles und anerkennenswerthes Streben, die höchsten Güter des Geistes allen Menschen zugänglich machen zu wollen, und die Schranken einer anmaßenden und selbstsüchtigen Ausschließlichkeit aufzuheben. Aber indem diese Männer danach trachteten, Allen mitzutheilen, was nur nach dem verschiedenen Maße der Kräfte von den Einzelnen aufgefaßt werden kann, entging es ihnen, daß nothwendig eine Verflachung eintreten mußte. Ein gewisses durchschnittliches Maß des allgemein Verständlichen mußte gesucht werden, das für Viele gerecht und passend sein konnte, aber darum nur die Mittelmäßigkeit selbst war. Diese aber ist die geborene Gegnerin alles Höhern, und sie mußte eine doppelt widerliche Haltung annehmen, wenn sie sich mit Dünkelhaftigkeit paarte, die sich entweder in innerstem Selbstbehagen, oder in dem Glauben an halbverstandene Autoritäten sicher und unangreifbar fühlte. So mangelte es denn auch hier an Widersprüchen nicht, und im Namen des Wohles und der Aufklärung der Menschen hörte man nicht selten mit derselben Unduldsamkeit und demselben rücksichtlosen Eifer reden, welchen die Aufklärer sonst zum ersten Klageartikel gegen die Altgläubigen machten.

Und was war am Ende das Ergebniß aller dieser Kenntnisse, dieser Aufklärung und Abklärung? Ein gewisser einförmig bürgerlicher Wandel, ein äußerlich gesetzmäßiges Verhalten, von dem man nicht mit Unrecht sagen konnte, es sei nur eine neue, eine aufgeklärte Art der verrufenen Werkheiligkeit. Denn der Inhalt des überlieferten historischen Wissens und Glaubens mußte unter diesen Händen zusammenschrumpfen. Im Gegensatze zum religiösen Glauben gingen diese Männer zuversichtlich von der Voraussetzung 190 aus, dieser selbst sei weit entfernt, eine geistige Kraft zu sein, vielmehr nur ein Mangel an Kraft und moralischem Muthe, eine Ungeschicklichkeit, wo nicht eine Unfähigkeit des Denkens und der Anwendung des Verstandes. So ward es ihnen leicht, eine ganze Reihe eigenthümlicher Lebenserscheinungen zu beseitigen, weil sie die Grundlage, auf der sie ruhten, in Abrede stellten, und gerade das Tiefsinnigste wurde zum Oberflächlichsten gemacht.

Die Vertreter dieser aufgeklärten Nützlichkeitslehre und verwandter Richtungen waren auf kirchlichem Gebiete Männer wie Teller, Zöllner, Irwing, in der Schule Gedike, in der Wissenschaft Biester, in der Kritik und Poesie Nicolai, Engel, Ramler, denen sich eine Anzahl kleinerer Geister anschloß. In der That beherrschten sie noch in Berlin die öffentliche Ansicht in Literatur und Kunst, sie standen in mannichfachen Verbindungen, hatten bedeutende und vielgeltende Namen aufzuweisen, und meinten vor allen Dingen die Ueberlieferungen Lessing's für sich zu haben.

Um Lessing hatten sie sich bei seinen Lebzeiten geschart, sie rühmten sich seiner Freundschaft, und wurden nicht müde, auf ihn als höchstes Vorbild hinzudeuten. Die unbestechliche Nüchternheit und Schärfe seines Urtheils, seine Verständlichkeit, die Knappheit seines Stils hatten sie zunächst aufgefaßt. Sein Bestreben, Alles auf die reinsten und einfachsten Linien zurückzuführen, wodurch jede überfließende Empfindung streng ausgeschlossen, jeder Auswuchs der Phantasie abgeschnitten wurde, war bei ihm der Ausdruck eines männlichen und starken Geistes, der diese Selbstzucht an sich ausübte. Seine Freunde und Anhänger fanden diese Form als eine abgeschlossene vor, und eigneten sie sich an, weil es bequem war, sie nachzuahmen, weil die natürliche Mittelmäßigkeit und geistige Armuth sich mit ihrer Hülfe leicht den Schein der 191 Selbstbeherrschung und künstlerischen Beschränkung geben konnte. Diese Formen sollten die höchsten in der Kunst sein. Dies zu bezweifeln galt für Impietät gegen Lessing, für einen Frevel an seinen Manen. Seine Freunde leiteten von ihm ein Ansehen her, und suchten es in einer Weise zur Geltung zu bringen, die sicher nicht in seinem Geiste war, und gegen die er zuerst die Waffen seiner Kritik gewendet hätte.

Die Zuversicht dieser Kunstrichter war zuerst durch die Anerkennung erschüttert worden, welche Goethe's Poesie zu Theil geworden war. Jetzt ward diese auch in Berlin zum unterscheidenden Kennzeichen einer literarischen Gegenpartei, die zwar noch keinen bedeutenden Umfang hatte, aber bald unerwartete Kräfte entwickelte. Die Aufnahme, welche die ersten Dichtungen Goethe's bei den Wortführern der Kritik gefunden hatten, war nur eine kühle und bedingte gewesen. Mit dem kleinen Zollstocke, welchen sie sich gemacht hatten, ließ sich diese großartige Erscheinung, die alles Frühere überragte, nicht messen. Dieses tiefe, leidenschaftliche Fühlen, diese Dichtertrunkenheit, diese Größe und Kühnheit der Auffassung und Darstellung, die unbekümmert um alles Andere ihre Welt von neuem aufbaute, mußte jener nüchternen und wohlgezogenen Poetik unbegreiflich erscheinen. Wie unbändig trat nicht dieses Genie mitten hinein in die wohlabgezirkelten, gepflegten Sandwege und Heerstraßen, welche die Kunstrichter zu eigenem und Anderer Nutzen aus dem Gebiete der Poesie angelegt hatten! Unter seinen Füßen öffneten sich neue Springquellen, die Alles fortzureißen drohten, was jene mühselig aufgebaut hatten. Am liebsten hätten sie Goethe wie Shakspeare für ein wildes Waldgenie erklärt.

Die Urtheile mancher Kritiker kamen darauf hinaus, Goethe's Größe bestehe nur darin, daß er sage, was ihm gerade in den Mund komme, daß er rücksichtlos jeder Laune 192 den Zügel schießen lasse, und es verschmähe, die kritische Feile anzuwenden, von der sie doch einen so sorgfältigen und erfolgreichen Gebrauch machten. So ins Blaue hinein könne leicht ein Jeder dichten. In diesem Sinne hatte sich Nicolai geäußert, als der »Egmont« erschien; dergleichen zu machen sei keine Kunst; er werde es auch können, wenn er sich verstatten wolle niederzuschreiben, was ihm eben durch den Kopf gehe. Auch Engel, der unter den damaligen berliner Freunden Lessing's der bedeutendste war, und von dessen kritischen Studien man ein besseres Urtheil hätte erwarten sollen, hatte sich in seiner »Mimik« fast nur auf ältere, mittelmäßige Dramen gestützt. Ueber die Bruchstücke des »Faust« ließ er sich ähnlich vernehmen, wie Nicolai über den »Egmont«, und als der »Wilhelm Meister« erschien, wunderte er sich darüber, was denn nach Scarron's Roman über das Komödiantenleben noch zu sagen sein könne. Manche hatten, wie Klopstock, voll moralischen Abscheus ihre Goethe-Kenntniß mit dem »Werther« ein für alle Mal abgeschlossen. Zu diesen gehörte Elise von der Recke, der man nachsagte, daß sie aus Entrüstung über Werther's Lotte ihren ersten, bis dahin gewöhnlich gebrauchten Vornamen Charlotte mit dem zweiten, Elise, vertauscht habe.

Diesen gegenüber sammelten sich diejenigen, denen Goethe der Anfänger und Begründer einer neuen Poesie war, die einen innern Unterschied zwischen seinen Dichtungen und allen frühern behaupteten, und immer lauter und entschiedener die Anerkennung derselben verlangten. Schon Moritz hatte sich seit seiner Rückkehr aus Italien so ausgesprochen, doch gerade um diese Zeit (1793) war er gestorben. Auch fehlte es an kleinern stillen Kreisen nicht, in denen man diese Ansichten theilte. War doch selbst Tieck's Vater, ein einfacher Handwerker, noch viel früher ein eifriger Verehrer Goethe's 193 gewesen. Aber einige geistvolle und gebildete Frauen waren es, welche auf die siegreiche Durchführung der neuen Kritik in ihren gesellschaftlichen Kreisen einen bedeutenden Einfluß ausübten.

Zu diesen gehörte Rahel Levin. Sie war ein höchst eigenthümlicher Geist; sie besaß einen durchdringenden Blick, tiefen Wahrheitsinn und die Kraft, ihre Ansichten mit rücksichtloser Schärfe auszusprechen. War sie selbst auch keine Dichterin, so hatte sie doch Verständniß für Poesie und Alles, was dem Gebiete geistigen Lebens angehörte. Ohne schön zu sein, hatte sie einen glänzenden Kreis um sich gesammelt, in dem sie durch schlagenden Witz, Schnellkraft und Freiheit des Tons herrschte.

Neben ihr stand eine andere, welche sich ebenfalls der neuen Poesie zugewendet hatte, die Frau des Bankiers Veit, die Tochter eines der Meister der berliner Aufklärung, Moses Mendelssohn's. Auch sie war ein eigenthümlicher Charakter. Die Aehnlichkeit mit ihrem Vater gab ihrem Gesichte einen keineswegs schönen, aber auffallenden, fast männlichen Ausdruck. Sie hatte etwas scharf Ausgeprägtes, nahm an den Fragen der Literatur eifrig Antheil, und war eine Verehrerin Goethe's. Ebenso Henriette Herz, die Frau des jüdischen Arztes Marcus Herz, eines Kantianers und eifrigen Anhängers der alten Schule. Sie war eine gefeierte Schönheit, aber weniger originell; doch war sie gescheit und wußte sich rasch und leicht anzueignen, was sie hörte. Sie besaß das Talent des Lernens, und war kenntnißreich, ja gelehrt zu nennen.

Mit allen diesen trat jetzt auch Tieck in geselligen Verkehr oder in literarische Beziehungen. In Rahel's Hause hatte er Zutritt, ohne gerade zu ihren nähern Freunden zu gehören. Es war nicht allein Goethe's Poesie, 194 in der sie sich begegneten, sondern auch in der gemeinsamen Anerkennung der künstlerischen Größe Fleck's. Bei ihnen stellte sich die Ansicht fest, das berliner Publicum wisse diesen merkwürdigen Mann nicht nach dem ganzen Umfange seines Talents zu schätzen.

Eine besondere Gunst des Glücks war es, als er Fleck's persönliche Bekanntschaft machte. Die Veranlassung dazu war heiter genug. In der Gegend des Invalidenhauses gab es eine öffentliche Speiseanstalt, welche den Ruhm behauptete, das beliebte berliner Nationalessen, Erbsen, in einer Vollkommenheit herzustellen, die auch den Kenner befriedigte. Hier fand sich jeden Donnerstag Mittag eine ausgewählte Gesellschaft zusammen, Schadow der Bildhauer, Zelter der Musiker, Fleck der Schauspieler, und der Jüngste unter diesen, Tieck der Dichter. Wo so entschiedene Geister aufeinandertrafen, konnte es an freier, anregender Unterhaltung nicht fehlen. Für Tieck aber war Fleck die anziehendste Erscheinung.

Fleck war eine großartig zugeschnittene Natur. Seine Haltung, jede Bewegung, jede Miene hatte etwas Edles, Würdevolles. Natürliche, angeborene Grazie und Hoheit sprachen sich darin aus. Alles Gemachte und Gespreizte lag ihm ebenso fern wie alles Unedle. Selbst wenn er es gewollt hätte, er würde nicht unedel oder gemein haben erscheinen können. Auch ohne Schwert und Mantel erkannte man den geborenen Heldendarsteller in ihm. Hatte er am Abend eine hochtragische Rolle zu spielen, so beherrschte ihn dieses Bild schon lange vorher. Man durfte ihn nur über die Straße gehen sehen, um anzuerkennen, so könne nur ein König schreiten. Er war in seinem Kreise ein Genie, ein echter Künstler aus tiefem geistigen Instinct, aber darum nicht ohne Bewußtsein seines Werthes und künstlerischen Stolz.

195 Nichts hatte Tieck mehr gewünscht, als mit ihm über seine Hauptrollen zu sprechen. Von Fleck's Ansichten glaubte er bedeutende Aufschlüsse erwarten zu dürfen. Hier aber trat die Künstlernatur hervor. Wohlwollend hörte Fleck an, was der junge Kritiker ihm zu sagen hatte. Dagegen war dieser nicht wenig überrascht, Fleck's eigene Auseinandersetzungen über seine Rollen nicht anders als geringfügig zu finden. Hätte ihn allein die Einsicht geleitet, welche er entwickelte, so konnte er nur ein mittelmäßiger Schauspieler sein. Hier stand hinter dem Bewußtsein eine höhere Kraft, die im Augenblicke der begeisterten Darstellung siegreich hervortrat und alle Mängel der Erkenntniß zudeckte, indem sie sich selbst derselben entzog. Es war eine Wahrnehmung, welche dazu diente, Tieck in seinen ursprünglichen Ansichten über Geistesleben und Wirken zu befestigen.

Ungefähr um dieselbe Zeit, es war im Jahre 1796, lernte er im Hause des Bankiers Veit Friedrich Schlegel kennen, und ein Verhältniß begann sich zu bilden, welches für beide die größte Bedeutung gewann. Friedrich Schlegel gehörte zu denen, welche sich voll Jugendkraft und Selbstvertrauen den alten beschränkten Theorien entgegenstellten. Seine Studien galten damals noch der alten Literatur. Er beschäftigte sich mit seiner »Geschichte der Literatur der Griechen und Römer«, und hatte den Plan gefaßt, in Verbindung mit seinem Freunde Schleiermacher den Plato zu übersetzen. Er war als Talent und Charakter ein räthselhaftes Gemisch der entgegengesetztesten Eigenschaften, und schon dadurch anziehend. Wenn er im Kreise der Freunde sich unbefangen hingab, konnte er eine gewinnende Liebenswürdigkeit entwickeln, in der er mit naiver Offenheit aus seinen Schwächen kein Hehl machte. So vieles Tieck auch anerkennen mußte, entging ihm doch nicht, daß er von 196 Selbsttäuschung und Eitelkeit nicht frei sei. Dies äußerte sich in fast komischer Weise. Auf einem Spaziergange durch den Thiergarten setzte Schlegel eines Tages alles Ernstes auseinander, daß er sein Leben für ein verfehltes halten müsse, weil er sein wahres und eigenthümliches Talent nicht ausbilden könne. Eigentlich sei er zum Feldherrn berufen, und wenn es ihm an Gelegenheit fehle, dies zu zeigen, so verliere die Welt dabei nicht wenig.

Durch Schlegel kam Tieck mit Schleiermacher in Berührung, der damals Prediger an der Charitékirche war. Auch er war ein entschiedener Gegner der alten Schule, und Tieck lernte in ihm bald den tiefsinnigen Theologen anerkennen.

Unter den ältern Freunden blieb ihm dagegen Rambach fern, dessen Oberflächlichkeit und unbefriedigende Vielthätigkeit ihm immer klarer ward. Die Zeiten, wo er von diesem lernen konnte, waren vorüber. Einen letzten äußern Beziehungspunkt gab das berliner »Archiv der Zeit«, welches seit 1795 bei Maurer erschien, und dessen Herausgeber Rambach war. Diese Monatsschrift, die Politik, Literatur und Kritik umfassen sollte, war ein Sammelplatz für die bedeutendsten und verschiedensten Kräfte Berlins. Es war ein neutrales Gebiet, auf dem alte und neue Literatur sich begegneten. Hier erschienen auf der einen Seite Nicolai, Gedike, Ramler, Zöllner, Bendavid, Jenisch; von der andern Bernhardi, Bothe, Hirt, dann Zschokke, Feßler, Veit Weber. Bernhardi führte eine Zeit lang das Fach der Theaterkritiken. Auch Tieck gab eine Beurtheilung der neuesten Musenalmanache, namentlich von Schmidt, Voß, Becker, Falk und Schiller, in der er sich entschiedener aussprach, als es dem Herausgeber lieb war, welcher es mit der ältern Schule keineswegs zu verderben wünschte.

197 Durch Bernhardi's Vermittelung erneuerte er vorübergehend Zschokke's Bekanntschaft, dem er früher in einem schmerzvollen Augenblicke begegnet war. Zschokke hatte sich in der Tagesliteratur einen Namen gemacht. Er war als Docent an der Universität Frankfurt aufgetreten, und bald darauf mit dem Wöllner'schen Ministerium in einen verdrießlichen Zwist gerathen. Mit den heimischen Zuständen zerfallen, war er jetzt im Begriff, nach der Schweiz auszuwandern. Sein Wesen war hart, schroff, vierkantig. Er zeigte sich als demokratischen Parteimann bis auf die schweren, mit eisernen Nägeln beschlagenen Schuhe, welche er trug. Auf Tieck machte er einen abstoßenden Eindruck. Die demokratischen Grundsätze, welche er selbst hin und wieder vertheidigt hatte, erschienen ihm hier in unangenehmer Form. Er konnte ein völliges Aufgeben des Vaterlandes wegen augenblicklicher Uebelstände und einiger persönlicher Unbilden weder für politisch noch patriotisch halten. Nur im Vaterlande selbst könne der Mensch auf eine volle Entwickelung seines Wesens rechnen, war seine Ansicht.

Zwischen diesen anziehenden und abstoßenden Kräften bildete sich Tieck zunächst seinen eigenen Kreis, dem Wackenroder, Bernhardi, der junge Arzt Bing, der Musikdirector Wessely und sein Bruder Friedrich angehörten, welcher sich inzwischen als Bildhauer ausgebildet hatte, und für eine Kunstreise vorbereitete. In die Enge des väterlichen Hauses konnte auch er nicht mehr zurückkehren. Er wie seine Geschwister waren über diese beschränkten Verhältnisse hinausgewachsen. Das mußte der Vater selbst erkennen, der in alter Weise fortschaltete, wenngleich nicht ganz in alter Kraft und Frische, und nicht frei von krankhaften Anwandlungen und Sorgen.

Besonders drückend war dies für die Schwester geworden, die mit steigender Leidenschaft auf die endliche Rückkehr 198 des Bruders gehofft hatte. Als ein Ideal hatte sie die Erinnerung des frühern Zusammenlebens festgehalten. In der Zeit seiner Abwesenheit, als er sich in den verschiedensten Studien und Verhältnissen befand, glaubte sie sich vernachlässigt und vergessen. Jetzt endlich sollte ein lang gehegter Plan in Erfüllung gehen. Um ganz sich selbst zu leben, bezogen Bruder und Schwester in den Jahren 1795 und 1796 eine Sommerwohnung auf dem sogenannten Mollard'schen (nachher Wollank'schen) Weinberge vor dem Rosenthaler Thore. Da gab es freilich weder Wein noch Berge, wol aber versammelte sich auf einer zwischen Sandhügeln liegenden Oase von Kastanienbäumen die elegante Welt Berlins. Hier besprachen die Geschwister und Freunde in Scherz und Ernst die gemeinsamen Interessen in Poesie, Literatur und Kunst; neue Entwürfe wurden gemacht, alte Pläne gediehen zur Reife, und tiefere Einwirkungen der Dichtungen Tieck's bereiteten sich vor.



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