Adolph Freiherr Knigge
Geschichte Peter Clausens
Adolph Freiherr Knigge

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Neuntes Capitel

Aufenthalt in Amsterdam. Unerwartete Zusammenkunft.
Bekanntschaften im Gasthofe.

»Es war doch wahrlich ein herrlicher Anblick, mein Herr Hauptmann!« sagte ich und knöpfte die Taschen zu, denn es war ein großes Gedränge da, wo wir ausstiegen. »Ein herrlicher Anblick da draußen auf de Laag, so einen ganzen Wald von Schiffmasten zu sehn. Mich reuet die Reise in der That nicht. Ach! und das Gewimmle von kleinen Fahrzeugen zwischen der Stadt und der innern Reyhe von Pfählen. Was vermag nicht der menschliche Erfindungs- und Erwerbungsgeist!« Indem ich noch so fortredete, zupfte mich ganz leise ein Mann von hinten her am Rocke, winkte mir, zeigte mir einen Brief und gab mir zu verstehn, er habe mir etwas zu sagen. Zu gleicher Zeit wurde der Hauptmann, welcher in einem grünen Rocke vor mir herging, von einem andern Menschen auf das Zärtlichste umarmt und sollte dadurch abgehalten werden, im Gedränge sich nach mir umzusehn. Aber ich war zu sehr mit den Künsten der Seelenverkäufer theoretisch und practisch bekannt geworden, um mich in diese Falle führen zu lassen. Ich gab meinem zudringlichen Winker einen derben Rippenstoß und arbeitete mich zu dem Officier hindurch, der indessen seinen zärtlichen Umarmer bey beyden Ohren gefaßt hatte und nach einer kräftigen Maulschelle laufen ließ. So kamen wir dann ohne weitres Abentheuer durch einen Schwarm von Menschen, wie ich ihn noch nie gesehn hatte, bis in die Stadt Lion, einen Gasthof, wo mein Führer sehr bekannt war, obgleich er eigentlich in Haarlem die letzten Jahre im Quartier gelegen hatte.

Es war heute zu spät, zu dem alten Herrn van Haftendonk zu gehn, denn er wohnte weit in dem Theile der Stadt, den man die alte Seite nennt, und unser Gasthof lag auf der neuen Seite, und doch verlangte uns sehr nach einiger Nachricht, ob der Sohn angekommen wäre oder nicht. Der Hauptmann beschloß daher, einen guten Freund aufzusuchen, um von Diesem genaue Erkundigung einzuziehn, ehe wir uns in Haftendonks Hause sehn ließen.

Unterdessen ging ich in das große Wirthszimmer, ließ mir Thee geben, rauchte ein Pfeifchen und machte meine kleinen Bemerkungen über die fremden und einländischen Gäste, welche da durcheinander saßen, gingen, spielten, schwatzten u. s. f. Es war eine seltsame Sammlung von Leuten und, ich gestehe es, noch ganz voll von den ernsthaften Bemerkungen über das Dichten und Trachten der Menschen, die ich in Bricks Manuscripte gelesen hatte, fiel mir oft ein, wie doch Jeder sich seine eigene Welt in dieser Welt schafft. Der Verliebte ist in einer Gesellschaft seiner Meinung nach der Erste, wenn ihn nur seine Geliebte vorzieht, und zeigt sich in allen Stücken von einer schiefen Seite, sobald er sich etwa mit ihr gezankt hat und ihm diejenige Selbstzufriedenheit fehlt, die nur die Gunst seiner Schönen ihm gewähren kann – Er sieht sonst niemand. Der Edelmann sieht mehrentheils nur Adelige, unbekümmert um die wahre Achtung Anderer, der Musiker nur Virtuosen als seinen Kreis an. Der Fürstenknecht lebt von den Blicken des Prinzen und wundert sich gewaltig, wenn dies nicht für jedermann gültige Münze, wichtiges Interesse ist. Der Kaufmann denkt, wenn er Credit und Geld hätte, so wäre er ein Mann, den Jeder beneiden müßte – Wie wenig Menschen gibt es! Sie vergessen alle ihre Menschheit über ihre Personalität. Das sieht man dann auch in allen ihren Gesprächen hervorleuchten, möchte auch Einer noch so sehr den allgemeinen Weltbürger spielen wollen; und wenn von großen Weltbegebenheiten die Rede ist, so denkt Jeder nur zuerst an die wichtigen Folgen, welche daraus für seinen Stand, für sein Gewerbe entstehen. Es wäre wirklich der Mühe werth, zuweilen ein Protocoll über solche Wirthshausgespräche zu führen. Es pflegt sich dann das Ganze gewöhnlich in gewisse Parthien, in gewisse Chöre zu theilen, deren jedes einen Stimmführer hat, und zwischendurch hört man dann einmal ein schwaches Instrument mit unter, das wie eine Bratschenstimme in einer gewöhnlichen Symphonie immer nur Mittelstimme bleibt und nie allein klingt. Es gibt Menschen, die wirklich bloß dazu geboren sind, zeitlebens solche Ripien-Bratschenstimmen zu machen, nichts obligat zu spielen, so wie Andre, die zwar auch keine Hauptmelodie führen können, dennoch wie die Waldhörner hie und da durch einzelne Töne größern Nachdruck geben.

Mit diesen und ähnlichen Bemerkungen hatte ich mich vergnügt, als meine Aufmerksamkeit durch das Gespräch an einem kleinen Nebentische auf einen andern Gegenstand gelenkt wurde. Es saß da ein teutscher Arzt, ein junger Candidatus theologiae und ein Kaufmann, wie ich nachher erfuhr.

 

Der Arzt: »Ja! Er ist gestern gestorben. Schade um den jungen Menschen! Ein gesunder Körper! Keine Anzeichen eines morbi chronici. Die innern Theile alle frisch und unverletzt. So können aber dergleichen Inflammationskrankheiten in wenig Tagen dem robustesten Jünglinge das Garaus machen. Der Doctor Labberhuis hat gewiß nichts versäumt; ich habe alle seine Recepte gesehn.«

Der Kaufmann: »Es ist traurig! Der einzige Sohn! Und der Vater steht sehr fest, macht gute Geschäfte.«

Der Candidat: »Und wird nun schwerlich wieder heyrathen, denn er ist ein alter Mann. Um desto mehr Gutes kann er aber künftig den Armen thun. Der DomineSo nennt man in Holland die Prediger. Lummeldick rühmt dieses Haus ungemein und versichert, der Jüngling sey in den christlichsten Gesinnungen verschieden und habe aufrichtigst den Kummer bereuet, welchen er seinem Herrn Vater verursacht.«

Der Kaufmann: »Kummer hat er dem Vater eben nicht verursacht. Es war ein bloßes Mißverständnis. Das Frauenzimmer, mit dem er sich in Riga versprochen hatte, ist aus einem guten Hause und auch reich. Aber böse Leute hatten dem alten Haftendonk die Sache von einer unrechten Seite vorgestellt, und, nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Candidat! Man gibt Ihrem Domine hier auch nicht ohne Wahrscheinlichkeit viel Schuld.«

Der Candidat: »Erlauben Sie, mein Herr! Da thut man ihm, wie nur leider! gar zu gern dem geistlichen Stande, höchst Unrecht. Er hat nach Gewissen geredet, und der junge Mensch hätte doch den väterlichen Willen, wenn er damals christliche Gesinnungen gehabt hätte, ehren müssen.«

Der Kaufmann: »Er hatte anfangs nicht an der Einwilligung seines Vaters gezweifelt. Die Antwort blieb etwas lange aus, und da hatte er sich ein wenig zu weit eingelassen.«

Der Arzt: »Ich verstehe. O! das ist sehr zu verzeyhn. Wir hängen von der Organisation unsres Körpers ab, und denken Sie Sich zwey junge Leute! Fleisch und Blut!«

Der Kaufmann: »Unterdessen war dem alten Haftendonk, vermuthlich durch Ihren würdigen Domine –«

Der Candidat: »Erlauben Sie!«

Der Kaufmann: »Nun! ich lasse es dahin gestellt seyn. Genug! es war ihm gesagt worden: Sein Sohn vernachlässige in Riga die Handlungsgeschäfte des Hauses, habe sich mit einer schlechten Person eingelassen, lebe liederlich, mache Schulden –«

Der Arzt: »War denn das nicht also?«

Der Kaufmann: »Nichts weniger! Er lebte sehr ordentlich. Man hatte vermuthlich die Briefe an den Vater aufgefangen, worin er um die Einwilligung zu seiner Heyrath gebeten hatte. Kurz! der Vater schrieb auf einmal: er solle augenblicklich nach Holland kommen und nimmermehr an die vorhabende Verbindung denken.«

Der Arzt: »Der arme Mensch! Das war ja, um ein Fieber zu bekommen.«

Der Kaufmann: »Nun wußte er sich nicht zu helfen. Er ließ nur ein paar Zeilen an seine unglückliche schwangre Braut zurück, eilte in der Nacht fort und hoffte, bey seiner Ankunft hier alles gut zu machen.«

Der Arzt: »Er muß auf der Reise sein Blut fürchterlich erhitzt haben. Es kann nicht anders seyn.«

Der Kaufmann: »Unterdessen befand sich ein Officier, der hier in Diensten, aber ein Livländer von Geburt ist, eben in Riga, als dies vorging. Er war ein Freund des Meinhardtschen Hauses und kannte auch den alten Haftendonk. Da er eben im Begriff stand, hierher nach Holland zurückzugehn, übernahm er es, unterwegens in allen großen Städten dem Flüchtlinge nachzuspüren. Natürlicherweise konnte er die Sache nur einseitig ansehn. Er schickte also eine Estafette voraus, hierher an den Vater, erzählte Diesem, sein Sohn habe ein ehrliches Mädchen von gutem Hause verführt und verlassen, er bäte daher um Vollmacht, ihn auffangen und anhalten zu dürfen.«

Der Candidat: »Ich meinte aber, das geschwächte Frauenzimmer wäre mitgereist?«

Der Kaufmann: »Nein! Sie folgte mit einem andern Freunde nach.«

Der Arzt: »Das ist ein recht verwickelter Handel! Aber was sagte denn der Vater, als er den Brief bekam?«

Der Kaufmann: »Er wußte freylich nicht, was er sagen sollte. Er sah wohl, daß hier ein Irrthum vorgehen müßte, und der Sohn war ja auf seinen Befehl abgereiset. Indessen gab er doch Vollmacht, den jungen Mann anzuhalten, ihm das Frauenzimmer mit Gutem oder Bösem antraun zu lassen und Beyde hierherzuführen.«

Der Candidat: »Ohne Sie zu unterbrechen, mein hochgeehrtester Herr! Nicht wahr, sie haben den Sohn nicht unterwegens angetroffen? Er kam früher hier an.«

Der Arzt: »Ja! und wurde sogleich von einer heftigen Pleuritide befallen, an welcher er auch gestorben ist.«

Der Kaufmann: »Man weiß nun noch nicht, was aus dem Frauenzimmer geworden ist. Der Officier ist auch noch nicht angekommen.«

 

Die Leser können sich leicht vorstellen, mit welchem Interesse ich diese Geschichte anhörte, was für Ideen in mir erweckt wurden – Also war der eigentliche Ehemann tot, und wenn die Frau noch lebte, so war ich so unbezweifelt gültig verheyrathet wie irgend ein Mensch in der Welt – Aber in den Umständen, darin ich mich befand, ohne Vermögen, ohne Stand! – Ich erwartete mit großer Ungeduld die Zurückkunft des Hauptmanns, hütete mich aber wohl, gegen die Fremden mir etwas von dem Antheile merken zu lassen, den ich an der Geschichte nahm.

Kaufmann und Candidat waren inzwischen fortgegangen, und der Doctor saß allein da. Sogleich gesellte er sich zu mir, überhäufte mich mit unzähligen Fragen und schien überhaupt ein zudringlicher Mensch zu seyn. In weniger wie einer halben Stunde hatte er schon eine Menge Anecdoten ausgekramt, die ich nicht zu wissen verlangte, erboth sich, mich in Amsterdam herumzuführen, und fragte endlich auf einmal: ob ich schon das Theatrum anatomicum gesehn hätte? »Wir haben«, sagte er, »heute einen Körper aus dem Raspelhause bekommen, der morgen angefangen wird, seciert zu werden. Ich will Sie um neun Uhr vormittags abholen.« Alle meine Einwendungen, daß ich nichts von Anatomie verstünde, waren vergebens, und ich mußte, um des Mannes loszuwerden, versprechen, ihn zur bestimmten Stunde zu erwarten, worauf er fortging.

Nun war ich des Tumultes müde und wollte mich eben in ein Nebenzimmer zurückziehn, um den Rest meiner Handschrift zu lesen, als mein Hauptmann eilig hereintrat. »Kommen Sie!« sagte er. »Ich muß Sie allein sprechen. Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang vornehmen!« Wir gingen der Nieuwen Plantagie zu, an welcher das Heeren Logement der neuen Seite liegt, und wandelten da auf und ab, wo er mir, wie Sie leicht denken können, erzählte, was ich schon wußte.

Jetzt berathschlagten wir uns, was bey den Umständen anzufangen seyn möchte, und nach langem Hin- und Herreden fiel der Entschluß dahin aus: Der Hauptmann sollte am folgenden Morgen zu dem alten Haftendonk gehn, ihm alles erzählen und, da doch nun sein Sohn gestorben war, ihn zu einiger Freygebigkeit gegen mich ermuntern, so daß er mir wenigstens (denn er war sehr geizig) ein Geschenk und die Unkosten der Rückreise nach Hamburg zugut kommen ließe. Dem Frauenzimmer, das mir angetrauet war, sollte ein Freund den Tod ihres Geliebten auf eine vorsichtige Art vorbringen, ihr und der Meinhardtschen Familie vorerst aber verschweigen, daß nicht er, sondern ich ihr angetrauet worden. Indes sollte man sie aber bewegen, gleich nach überstandnem Kindbette nach Riga mit dem Kinde zurückzukehren. Der alte Haftendonk sollte sogleich an die Eltern schreiben und sich zu einer jährlichen Summe verstehn, welche er seiner quasi-Schwiegertochter und dem kleinen unglücklichen Bastarde als ein Zeichen, daß sie zur Familie gehörten, billigerweise geben mußte. Dabey sollte sich derselbe bemühn, mir baldmöglichst eine meinen geringen Talenten angemessene Stelle oder Bedienung zu verschaffen, und wann auch dies in Ordnung gebracht wäre, dann sollte ich wieder auftreten, meiner angetraueten Frau und ihren Eltern das Geheimnis entdecken, da sie mich dann, in Betracht der Umstände, gern zum Schwiegersohne annehmen und ihre reiche und artige Tochter mir zum Eigenthume lassen würden.

Bey dieser Verabredung blieben freylich drey Dinge noch ungewiß, nämlich zuerst, ob nicht vielleicht die Kindbetterin unterdessen gestorben wäre (denn wir hatten sie in sehr schwachen Umständen verlassen), ferner, wie es alsdann und überhaupt um das Erbschaftsrecht des kleinen wilden Zweiges der Haftendonkschen und Meinhardtschen Familie aussehn und ob die beyderseitigen Großeltern ihn legitimieren würden, und endlich, ob überhaupt unser ganzer Vorschlag von dem alten Haftendonk würde gutgefunden werden. Immer aber war das Ding gut ausgedacht, und wir hielten alle diese Vorschläge für so natürlich und billig, daß wir voll Zuversicht, es werde auf diese Art zu Stande kommen, einen vergnügten Abend und eine ruhige Nacht zubrachten.

Des folgenden Morgens machte sich grade mein Hauptmann auf den Weg zu dem Alten, als der Doctor seinem Versprechen gemäß bey mir vortrat und mich mit höflicher Gewalt in das Collegium anatomicum schleppte. Es war noch früh, als wir dahinkamen, und außer uns beyden nur der Prosector gegenwärtig. Der Körper lag zugedeckt da. »Ein starker, nervöser Körper!« rief der Doctor. »Wollen Sie ihn einmal sehn?« und damit deckte er ihn auf – Ich sah hin – Sollte ich meinen Augen trauen? – Ich sah noch einmal hin – Ja! er war es – Und wer, meinen Sie? – Haudritz! niemand anders wie mein ehemaliger Verführer, Haudritz –

Dieser Anblick machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. Die beyden Ärzte bemerkten es und fragten mich um die Ursache. – »Und wie, in aller Welt«, rief ich aus, »kommen Sie zu diesem Körper, oder wie kam diese Creatur in das Raspelhaus?« Mein Führer erzählte mir die genauen Umstände, die ich dann meinen Lesern hier kürzlich mittheilen will.

Haudritz war, wie Sie Sich's aus dem ersten Theile meiner GeschichteSeite 143. erinnern werden, von uns einem Schiffscapitain anvertrauet worden, der ihn nach Ostindien bringen sollte. Da sich unterdessen das Schiff noch einige Zeit in Amsterdam aufhalten mußte, erweckte diese Muße in dem bösen Haudritz den alten Hang zu schlechten Streichen aufs Neue. Er bestahl den Capitain, welcher ihn als Schreiber zu sich genommen hatte, wurde ertappt und kam diesmal mit allerley Schlägen und dem Verluste seines Dienstes davon. Nun hatte er nichts zu leben und fing daher sein edles Handwerk um so eifriger wieder an: Zur Sicherheit der Handlung haben die Kaufleute in Amsterdam das Recht, wenn sie auf der Börse, wo oft ein Mann seine ganze zeitliche Glückseligkeit in der Tasche stecken hat, einen Dieb in dem Augenblicke des Diebstahls haschen, sich sodann jede Art von Genugthuung an ihm nehmen zu dürfen. Haudritz ließ sich verleiten, jemand auf der Börse nach der Uhr zu greifen, wurde aber erwischt und, da bekanntlich die holländischen Kaufleute auf dergleichen keinen Spaß verstehen, von dem Haufen zusammentretender Kaufleute halb tot geprügelt und in den Canal geworfen. Da fischte ihn ein Jude auf, rettete ihm das Leben und nahm ihn in sein Haus. Zur Dankbarkeit bestahl er denselben und wollte auch die Tochter verkuppeln. Da brach dem Israeliten die Geduld. Er wirkte ihm ein Plätzchen im Raspelhause aus, woselbst er aber an einem hitzigen Fieber starb –

Das war dann das Ende eines Menschen, mit dem ich einst auf gleicher Bahn zum Laster fortschritt. Wer weiß, ob nicht unter andern Umständen, bey anderm Körperbaue, bey andern Schicksalen, auch ich ein ebenso durchtriebener Bösewicht geworden wäre? – Traurig, daß es solche Geschöpfe geben kann! – Was ist der Mensch? – Man hat schon oft gesagt, er sey ein unbeschriebnes Blatt, wenn er aus der Hand des Schöpfers kömmt, ein Blatt, worauf Schicksale und Erziehung alles zu schreiben vermöchten. Ach! aber möchte man nicht versucht werden zu glauben, es käme mancher schon als ein defectes, vielleicht gar vom Satanas verfälschtes Manuscript auf die Welt? – Wenn ich meine jetzige Denkungsart untersuchte, so fand ich freylich noch nicht in mir jene Fertigkeit, Festigkeit im Guten, die den Namen von Tugend verdient; aber doch Empfänglichkeit, Gefühl für das Edle, und wenn etwas mich in meinem Vorsatze, zu meinem Glücke gut zu handeln, befestigen konnte, so war es dergleichen bestätigte Erfahrung, daß auch in dieser Welt jede Verirrung vom graden Wege eine verhältnismäßige Strafe nach sich zieht.

Solche Gedanken beschäftigten mich ernstlich, und ich konnte nicht länger den Anblick dieser Leiche ertragen. Ich beurlaubte mich daher von meinem Gefährten und wollte nach Hause gehn. Indessen verirrte ich mich in der großen fremden Stadt, und da mir bange war, ich möchte in enge gefährliche Winkel gerathen (obgleich man wahrlich weniger in Amsterdam zu befürchten hat als in manchen kleinern Städten), und sich's eben traf, daß ich die Kalver-Straat erreichte, in welcher eine große Anzahl Kaffeehäuser sind, trat ich in das französische Kaffeehaus.

Der erste Mann, welcher mir in den Weg kam, war ein .....er Officier. Da er grade zur Thür hinauswollte, als ich hineinging, blieben wir beyde stehn, um uns einander Raum zu machen, und das gab mir Zeit, ihn genauer zu betrachten. Ein kleines Muttermal, das er am Kinne hatte und das mir von Ungefähr gleich in die Augen fiel, machte mich aufmerksam. Der Vetter der Frau von Lathausen, welcher mich in den . . . Dienst brachte, hatte eben ein solches Mal, und an Figur und Anstande waren sich beyde vollkommen gleich, nur daß der Officier, den ich hier sah, freylich viel älter schien. Sobald mich nun diese Ähnlichkeit überraschte, wozu vielleicht der Umstand kam, daß mein Kopf noch von dem Anblicke des toten Haudritz eingenommen war und mir nun um desto lebhafter alle Erinnerungen der ehemals in seiner Gesellschaft erlebten Schicksale und der dabey interessierten Personen ins Gedächtnis zurückkehrten – Kurz! ich war, sobald ich den Officier genau angesehn hatte, fest überzeugt, daß es der Herr von Redmer war; und wie ich in der Folge erfuhr, hatte auch er, vermuthlich durch den Ausdruck von Verwunderung, den er auf meinem Gesichte las, aufmerksam gemacht, eine Ahnung bekommen, daß ich sein ehemaliger Recrut seyn könnte. Nun war ich ein .....scher Deserteur und hatte also in der That viel von List oder Gewalt zu befürchten, wenn ich erkannt würde. Da aber der Herr von Redmer selbst damals Verdruß im Regimente gehabt hatte, wie wir gehört habenIm ersten Theile, Seite 35., ließ ich mir gar nicht einfallen, daß er noch so eifrig auf seinen Dienst seyn würde, mir weiter nachzuspüren. Ich erholte mich daher bald von meinem Schrecken, blieb noch eine kleine Weile auf dem Kaffeehause und ließ mich dann durch einen sichern Mann zurück nach der Stadt Lion begleiten.

Gegen Mittag kam der Hauptmann zurück und brachte nicht die tröstlichste Nachricht mit. Der alte Haftendonk war, wie es schien, geneigt gewesen, statt dem Officier zu danken, wie er es wohl verdient gehabt, ihm die Schuld des unglücklichen Erfolgs aufzuladen. Von mir hatte der alte Geizhals nichts wissen wollen. Doch sagte der Officier: er sey gegen das Ende ihrer Unterredung nachgebender geworden; ich solle mich nur auf ihn verlassen, und dafür hafte er, daß ich frey nach Hamburg zurückgeliefert werden sollte; immer möchte ich mir's indessen gefallen lassen, noch einige Wochen hier in Amsterdam mich umzusehn. Der gute Mann gab mir auch Geld und versprach, unterdessen weiter für unsern Plan zu arbeiten.

Ich wendete also die folgende Zeit an, in dieser großen Stadt allerley Merkwürdigkeiten zu sehn; und in der That, wohin ich nur blickte, da stieß mir etwas Sonderbares auf. In Amsterdam ist eine starke Auflage auf die Kutschenräder gelegt. Wer daher nicht sehr reich ist, der fährt mit zwey Rädern, und die gewöhnlichsten Fuhrwerke haben gar keine Räder, sondern bestehen aus Kasten, die man auf Schleifen gesetzt hat und wobey der Kutscher nebenher zu Fuß geht, welches dann freylich einem Fremden sehr auffällt.

Die Begräbnisse werden bey Tage vorgenommen, aber nichtsdestoweniger gehen Leute mit brennenden Laternen voraus und nebenher.

Ich machte nach und nach angenehme Bekanntschaften unter Fremden, in deren Begleitung ich, wenn der Hauptmann nicht Zeit hatte, mit mir zu gehn, die Stadt durchlief. Eben fällt mir ein, daß ich vergessen habe, Ihnen den Namen meines ehrlichen Hauptmanns zu melden; er hieß von Dobelmayer.

Endlich gelang es diesem Freunde, den Herrn van Haftendonk zu bewegen, mich wenigstens zu sehn. Ich ging hin, hatte aber unglücklicherweise meine Füße nicht genug auf den unzähligen Decken, Kratzern, Matten u.d.gl. abgestrichen, welche vor und in dem Hause herumlagen. Als ich nun eine schöne Treppe hinaufgestiegen, die zur Bequemlichkeit so glatt wie ein Spiegel gerieben und gewachst war, entdeckte eine dicke Magd, welche mir entgegenkam, zu ihrem größten Schrecken noch etwas Schmutz an meinen Schuhen. Sogleich nahm sie mich wie ein Kind auf den Arm, trug mich wieder hinunter und ließ mich nicht eher wieder hinauf, bis meine Schuhe ganz sauber waren. Dieser comische Auftritt brachte mich ein wenig aus meiner Fassung, indessen besann ich mich doch bald wieder und brachte mein Anliegen dem phlegmatischen, ernsthaften, dicken Herrn van Haftendonk aufs beste in französischer Sprache vor, wobey er ungefähr aussah als Einer, der sich etwas erzählen läßt, um einschlafen zu können. Wenn sein seelenloser Blick auf mich fiel, so glänzte nicht das geringste Interesse aus seinen Augen hervor, sondern er hatte das Ansehn eines Menschen, der auf einen leeren Platz hinstarrt. Als ich lange und mit allem Feuer der Beredsamkeit geredet hatte, fragte er mich ganz kaltblütig: was Myn Heer eigentlich für Geschäfte machte? Dies setzte mich in die Unkosten, meine Erzählung von Neuem wieder anzufangen. Er hätte sie, glaube ich, auf dieselbe Art noch zehnmal angehört, wenn nicht sein Buchhalter gekommen wäre, ihm etwas zu melden, worauf er mir ganz trocken Adieu sagte.

Als ich meinem Freunde diesen Ausgang der Sache erzählte, rieth er mir Geduld an, versprach, nochmals das Seinige zu versuchen, und um meine Leser nicht länger aufzuhalten, will ich Ihnen nur kurz sagen, was wir nach drey Wochen erlangten. Der Alte setzte der Halbwitwe seines Sohns eine kleine Summe zum Unterhalte aus und war davon zufrieden, daß man ihr vorerst verschwiege, wie es mit der Trauung gewesen sey; wie es aber mit dem Kinde gehalten werden sollte, darüber wollte er sich noch nicht bestimmen. Mir gestand er nichts zu wie das Reisegeld und ein kleines Geschenk von zwanzig Ducaten, wovon ich dem Hauptmanne die mir vorgestreckte Summe erstattete und das Übrige in Amsterdam verzehrte. Zugleich erlangte ich noch mit genauer Noth, daß man eine Acte verfassen ließ, in welcher man mir bescheinigte, daß ich wirklich der Mann wäre, mit welchem man das kranke Frauenzimmer in Hamburg getrauet hatte. Übrigens überließ man es mir, davon Gebrauch zu machen oder nicht und mir selbst eine Laufbahn zu eröffnen. Der Herr von Dobelmayer aber versprach, im folgenden Jahre, da er wieder nach Riga gehn würde, für mich bey der Meinhardtschen Familie zu reden, und wir verabredeten desfalls einen fortdauernden Briefwechsel.

Es war nun mein fester Entschluß, baldmöglichst nach Hamburg zurückzugehn, aber ich fand keinen Beruf, länger Schauspieler zu seyn. Da wälzte ich nun eine Menge Pläne in meinem Kopfe umher, und endlich fiel mir ein, daß, weil ich doch ein guter Tonkünstler wäre, ich mich auf diese Art vielleicht nicht nur zu einem reichen Manne, sondern auch vielleicht einmal zu einem Concertmeister bey einem großen Fürsten erheben könnte. Ich schrieb diesen meinen Plan an Reyerberg nach Hamburg, versprach, ihm bey meiner baldigen Hinkunft daselbst meine übrigen Schicksale weitläufig zu erzählen, und gab indes zur Probe in Amsterdam ein öffentliches Concert, in welchem ich großen Beyfall fand und auch ziemlich viel Geld verdiente. Zu meiner äußersten Beunruhigung aber erschien auch in diesem Concerte der Herr von Redmer, und da ich nicht die Vorsicht gebraucht hatte, meinen Namen auf dem Ankündigungszettel zu verschweigen, sah ich nun gar deutlich, daß er seit diesem Tage jeden meiner Schritte beobachtete, mich an allen öffentlichen Örtern aufsuchte und sich doch stellte, als hätte er mich nie gesehn. Nun fing ich an, sehr ängstlich zu werden, und beschloß, mich baldigst aus Amsterdam zu entfernen, in welchem Vorsatze ich durch einen sonderbaren Zufall noch denselben Tag bestärkt wurde.

Ich ging nämlich mit zwey meiner Bekannten durch eine kleine Gasse, welche der Servet-Steeg heißt und in welcher nur liederliche Weibsbilder und Kupplerinnen wohnen. Sie pflegen mehrentheils vor den Thüren zu sitzen und den Durchgehenden die Hüte wegzunehmen, die man dann mit einem Trinkgelde einlösen muß. Des Abends ziehen sich diese Weiber an und gehen in die sogenannten Musicos oder Speel-Huiser, wo sie mit ausschweifenden Leuten Bekanntschaft machen und von denselben entweder zurück in die Häuser der Kupplerinnen oder in ein oberes Zimmer (boven) geführt werden. Denn in den untern Zimmern der Musicos geht nichts Unrechtes vor, und diese werden von sehr gesitteten Leuten besucht.

Nachdem meine Begleiter mir dies erklärt hatten, indem wir über den Servet-Steeg gingen, bekam ich Lust, doch auch einmal ein solches Speel-Huis zu sehn. Wir besuchten also noch an dem Abend eines derselben. Es wurde da getanzt, getrunken, gespielt, und es ging ziemlich laut darin her. Der Lärm war mir aber zu groß, und wir beschlossen fortzugehn, verließen auch wirklich das große Zimmer und mußten, um aus dem Hause zu kommen, vor einer Thür vorbey, durch welche ich so heftig lachen hörte, als wenn – ja! wie soll ich sagen, als wenn darin – einem Frauenzimmer Gewalt angethan würde. Da ich zugleich des Herrn von Redmer Stimme erkannte, war ich neugierig genug, an der Thür zu horchen, und das zu meinem Glücke, denn ich hörte, wie der Bösewicht ein Mädchen beredete und sie eine Rolle auswendiglernen ließ, durch welche sie mich einnehmen sollte. Vermuthlich hatte er mich in das Haus treten gesehn. Die ganze Absicht der Verhandlung aber war, soviel ich verstehn konnte, dies Weibsbild sollte mich in ihr Garn zu locken suchen und mich ihm dann in die Hände liefern.

Dieser Zufall, wie ich schon gesagt habe, bestärkte mich in meinem Vorsatze, baldmöglichst Amsterdam zu verlassen. Ich nahm zärtlichen Abschied von meinem Wohlthäter, dem Hauptmanne von Dobelmayer, der mir nicht nur sein Versprechen, fleißig Briefe mit mir zu wechseln und für mich zu arbeiten, erneuerte, sondern mir auch Empfehlungsschreiben nach Hamburg, Lübeck und Bremen verschaffte, in welchen Briefen mich die Amsterdamer Kaufleute als einen der größten Virtuosen auf der Violine beschrieben. Zur Sicherheit sowie des Wohlklangs wegen hatte ich meinen Namen Peter Claus in Signor Pedro Clozetti umgeschaffen, wonach dann auch die Briefe eingerichtet waren. Ich fand ein abgehendes Schiff, bestieg dasselbe, und meine Leser sehen mich also jetzt in einer neuen Laufbahn, als reisender Musiker, mein Glück suchen.


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