Adolph Freiherr Knigge
Geschichte Peter Clausens
Adolph Freiherr Knigge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Capitel

Auf der Reise wird das Manuscript wieder hervorgesucht.

Es thut mir in der Seele weh, daß ich bey dieser Seefahrt meinen Lesern nicht wiederum mit einer so poetischen Beschreibung eines Sturms andienen kann, als diejenige war, womit ich Ihnen vor meiner Ankunft in Kopenhagen aufgewartet habe. Aber es ist wahrlich meine Schuld nicht, daß es diesmal so schönes Wetter war; daß am Tage die glänzende, majestätische Sonne über die unermeßliche Fläche des Meers hin ihre weiten durchdringenden Blicke warf, indes die kleinen Wellen voll Wonne, ihre Strahlen auffangen zu dürfen, erquickt sich fortwälzten und einander im unschuldig muthwilligen Spiele zu jagen schienen; die stillen Bewohner des nassen Abgrundes aber, durch die Anmuth der wärmenden Luft gereizt, um unser schwimmendes Haus herum scherzten, das mit kühnem Ernst dahinflog und lange Furchen schnitt, welche von dem geschäftigen Wasser schnell wieder ebengemacht wurden, bis der bescheidne Abend herankam, aus welchem die ermüdete Natur neue Federkraft und labende Kühlung einsog, indem er mit sanfter Feuchtigkeit das Feuer des strengen Elements dämpfte, wie das gefällige Zureden eines Freundes die Hitze des heftigern lebhaftern Bruders mäßigt; da dann der halbe Erdball, von der Arbeit und den Freuden des Tages auszuruhn, eine Pause machte, und die heitern Sterne mit funkelnden Augen bey dem Bette der schlummernden Hemisphäre wachten. –

Nun, bey meiner Seele! Das war doch vortrefflich gesagt! Nicht wahr? Nun schenken Sie mir doch den Sturm? Finden Sie wohl solche herrliche Bilder, seitdem die asiatische Banise nicht mehr gelesen wird, in irgendeinem unsrer teutschen Romane? O! und wenn ich Verse machen wollte, da sollten Sie erst Wunder sehn. A propos! Ich denke nächstens ein Bändchen voll von solcher Ware auf Pränumeration herauszugeben – Allein wir kommen von meinem Roman ab, der wohl verdient, daß man noch etwas darüber sage. Bey so mannigfaltigen Schönheiten wollten Sie ihn nicht allen andern Büchern vorziehn, nicht glauben, daß es der Mühe werth sey, diesen Roman mit einem kaiserlichen Privilegio in der Karlsruher Sammlung nachdrucken zu lassen, wenn auch tausendmal mein Verleger, der mich gut bezahlt hat, dagegen schrie, eine solche Operation für Diebstahl und das Privilegium für erschlichen hielte? – O! dann hätten Sie wahrlich weder Geschmack noch Begriffe von Billigkeit! – Doch, ich ereifre mich. Fahren wir in unsrer Geschichte fort! –

 

Auf der vorigen Seite habe ich soviel sagen wollen, daß wir hübsches Wetter hatten und daß uns also nichts abhielt, glücklich nach Holland zu kommen.

Da mir aber unterwegens die Zeit im Schiffe ein wenig lang vorkam, obgleich wir Punsch tranken, à l'hombre spielten und Tabak rauchten, zog ich gegen Abend wieder mein Manuscript hervor und las, was folgt:

Weitre Erzählung des Herrn Bricks

»Als ich endlich aufwachte, befand ich mich an eben dem Orte, wo ich zuerst aus meinem Nachen gestiegen war, und zwar so hungrig wie möglich. Jetzt schien mir alles, was ich gesehn und gehört hatte, ein Traum zu seyn. Sollte es, dachte ich, möglich seyn, daß ich aus Ermattung und Müdigkeit in einen so heftigen Schlaf verfallen wäre, daß die beyden Personen, von denen es mir vorkam, als wenn sie bey meinem Erwachen vor mir gestanden wären, mir nur der geschäftigen Phantasie nach erschienen wären, und daß Morpheus mir den häßlichen Streich gespielt hätte, das ganze Bild eines unschuldigen Volks nur im Schlafe vor meine Augen zu stellen? – Wer wird es wagen, meine Freunde! zu entscheiden, ob es wirklich also gewesen ist oder nicht? Ihr wißt, wie wenig Gewißheit in unsern Vorstellungen, selbst bey offnen Augen, im Sinnlichen und Intellectuellen herrscht. Und wie soll man es anfangen, Andre zu überzeugen, daß das wirklich existiere, was wir gesehn zu haben vorgeben, da Ihr täglich wahrnehmen könnt, wie die klügsten Menschen sich einander Dinge abstreiten, die Viele von ihnen genau bemerkt und geprüft zu haben vorgeben? Sieht Der, dessen Augen weit in die Ferne tragen, nicht wirklich Dinge, welche für den Blödsichtigen gar nicht existieren? Sieht der Mann mit dem Fernrohre nicht noch eine andre Welt? Soll hier die Übereinkunft Mehrerer entscheiden? Ja, dann muß das Heer der Geisterseher und Geisterglauber gegen die Armee Derer, die dergleichen leugnen, entscheiden. Soll das Urtheil der Scharfsichtigern das Übergewicht geben? Wer wird sich dann nicht dafür halten wollen? Genug! ich glaube noch immer, das alles erlebt zu haben, und wer es nicht mit mir glauben will, der reise selbst hin, auf Gefahr, gleichfalls, wenn er zurückkömmt, für einen Windbeutel gehalten zu werden. Mir wäre es wahrlich fast lieber, wenn es nur ein Traum gewesen wäre; denn einen so seligen Wohnort gefunden zu haben und ihn gleich wieder verlassen zu müssen – Das ist keine angenehme Sache! Höret indessen weiter! –

 

Ich befand mich auf demselben Platze wieder, auf der Erde liegend und vor Hunger schmachtend. Sobald ich mich aber von meinem Lager erhoben hatte, um die Gegend umher zu durchschauen, sah ich zu meinem größten Erstaunen, daß das Land nicht, wie es mir vorher geschienen, unbebauet, sondern, von allen Seiten her weit hinaus, an Flüssen, Bergen, Wäldern und Thälern eine Aussicht voll großer Städte und Dörfer in Menge darstellte: – Wie, in aller Welt, kömmt denn das? Sollte man doch meynen, ich sey an der Küste von Europa! Aber was geht es mich an? Frisch darauflosgegangen! –

 

Mein Hunger trieb mich ohnehin, Nahrung zu suchen. Ich schlich etwa hundert Schritte fort, als ich an einen umzäunten Garten kam, der voll von Obstbäumen stand. Nun konnte ich der Begierde nicht widerstehn, etwas davon zu genießen, um der Stimme meines bellenden Magens zu gehorchen. Ich stieg also über den Zaun und brach einen großen Apfel ab, in welchen ich begierig hineinbiß. Aber kaum hatte ich das gethan, als hinter mir eine fürchterliche Stimme erscholl: ›He! Du verwünschter Dieb!‹ rief es in der gewöhnlichen Sprache der südlichen Inselbewohner. ›Dich soll ja die böse Krankheit befallen, Du Himmelhund, Du! Was machst Du in meinem Garten?‹ Ich sah mich schnell um; da stand hinter mir ein Mann, vom Kopfe bis zu den Füßen bekleidet, und das auf eine so unnatürliche Art, daß ich mich zum höchsten darüber verwunderte; denn sein Anzug bestand nicht nur aus unzähligen kleinen Stücken, so daß fast jedes Glied des Körpers mit einem einzelnen Fetzen bedeckt war, welcher besonders angeheftet werden mußte, sondern das Ganze machte auch ein so widriges Ansehn, daß dadurch alle Schönheit des Körpers, alle Form, aller Wuchs verunstaltet wurde. ›Lieber Mann!‹ sagte ich, ›verzeyhet mir! Ich habe in so langer Zeit nichts gegessen. Nagender Hunger trieb mich, in Euer Eigenthum zu greifen. Zudem bin ich fremd hier, wußte nicht, wem dieser Fleck gehörte, da ich gewöhnt bin, unter Menschen zu leben, die, was Gott wachsen läßt, wie ein gemeinschaftliches Gut seiner Creaturen ansehen.‹

 

Der Mann: ›Ja! da hat sich was zu gemeinschaftlich! Wir müssen schwere Abgaben entrichten. Wovon wollte sonst unser Erif‹ (so nennen die Einwohner ihre Fürsten) ›die raren ausländischen Thiere füttern, die er weit herkommen läßt, um damit zu spielen und sie tanzen zu lassen?‹

Ich: ›Ist das möglich? Und desfalls müßt Ihr Alle vielleicht darben, arbeiten, schwitzen und einem hungrigen Fremden einen Bissen zur Labung versagen, damit Euer Erif in seinem kindischen Vergnügen nicht gestört werde?‹

Der Mann: ›Nun gemach! Herr Fremder! Diesmals halte ich's Euch zu Gute; aber redet ein andermal mit mehr Ehrerbietung von unserm gnädigen Herrn! Was hilft auch das alles? Es ist wohl wahr, ein Knabe ist ein Knabe, und unser Herr ist erst zehn Jahr alt – Aber kommt nur mit herein, wenn Ihr wirklich in langer Zeit nichts genossen habt! Es wird sich ja noch wohl etwas finden, um Euch zu erquicken.‹

Wir gingen zusammen in seine Hütte, wo es nun in der That armselig genug aussah. Schlechter Hausrath, ein Weib mit sechs Kindern in zerrissene Lumpen gekleidet; in der Ecke ein Lager für sie Alle, von dürrem Laube.

Der Mann: ›Wundert Euch nicht, daß es hier so kümmerlich aussieht! Wir waren auch einmal in bessern Umständen, aber die Menge der Auflagen, die wir bezahlen müssen, hat gemacht, daß wir ein Stück Hausrath nach dem andern haben für herrschaftliche Abgaben hingeben müssen.Ich bediene mich hier und in der Folge der europäischen Terminologie und werde, um verständlich zu seyn, die Namen: Fürsten, Minister, Beamte u. s. f. brauchen. Hier habt Ihr ein Stück von unserm gewöhnlichen Nahrungsmitteln (Es war ein Teig, aus kleingeriebenen Körnern eines Staudengewächses mit Wasser zusammengeknetet und dann in einem Ofen gedörrt.) ›Esset, so viel Euch schmeckt! Die Götter werden es uns ersetzen. Ihr glaubt doch an die Götter?‹

Ich: ›An Einen wenigstens! Wie könnt Ihr das fragen?‹

Der Mann: ›Ja! ich meinte nur so. In der Stadt glaubt kein Mensch mehr daran, und deswegen werden wir auch so gedrückt, denn wenn die Leute dort bedächten, daß die Götter die Bosheit bestrafen, so würden sie nicht so grausam mit uns umgehen. Sehet nur an! Diesen Teig, den Ihr da genießt, habe ich selbst gemacht, denn ich ziehe die Körner dazu auf meinem eignen Acker, aber von jedem Gefäß voll, das ich abpflücke, muß ich einen kleinen Stein Abgabe entrichten.‹Eine gewisse Art seltener Steine, die tief in der Erde lagen und welche die Sclaven mit Gefahr ihres Lebens aus den Gruben herausholen mußten, vertraten die Stelle des Geldes. Wenn aber ein Unterthan dergleichen fand, mußte er sie abliefern, denn alle gefundenen und nicht gefundenen Steine gehörten dem Fürsten, obgleich er selbst keinen einzigen suchte und mancher Sclave, welcher die Gruben durchwühlte, darin umkam.

Ich: ›Aber, wie in aller Welt könnt Ihr das leiden? Ihr sagtet vorher, Euer Herr sey ein Knabe. Es ist ja aber wider die Natur, daß man einem Kinde gehorche und daß so viel tausend Menschen sich quälen, um einem Jungen sein närrisches Spielwerk zu bezahlen. Gebet doch dem Lümmel die Ruthe und wählt Euch einen alten verständigen Mann zum Oberhaupte.‹

Der Mann: ›Ach! das versteht Ihr nicht! Man sieht wohl, daß Ihr ein Fremdling seyd. Sobald der alte Fürst tot ist, ist der kleine Sohn gleich wieder Herr.‹

Ich: ›O! ich kenne das; aber es bleibt immer eine närrische Einrichtung. Wenn Ihr davon zufrieden seyd, so kann ich es leiden. Wenn aber die Mehrsten darüber klagen, so muß der größere Theil aufheben dürfen, was sich nur durch seine Nachsicht hat einschleichen können. Welche Unvernunft, einem Kinde zu gehorchen, das vielleicht noch nicht reden kann!‹

Der Mann: ›Ey nun! reden kann der Unsrige schon, aber er regiert auch nicht eigentlich, sondern da ist die Mutter, ein Priester und der oberste Mundkoch. Diese Drey machen alles, was sie gutdünkt, in des armen unmündigen Fürsten Namen. Da müssen wir dann freylich immer Haar lassen, bezahlen, was wir nur aufbringen können, und das alles unter dem Vorwande, des Prinzen rare Thierchen zu ernähren, im Grunde aber lebte die alte Mutter mit ihrem Priester und obersten Koche davon.‹

Ich: ›Nun! da lobe ich mir doch mein liebes Vaterland. Das sind ja unerhörte Dinge, die Ihr mir da erzählt.‹

Der Mann: ›O! das ist noch nichts. Wenn Ihr weiter ins Land geht, da werdet Ihr noch ganz andre Sachen hören.‹

Ich: ›Behüte Gott! Lebet wohl! Seyd herzlich gedankt für Eure Gastfreundschaft! Der Himmel vergelte es Euch! – Ich kann es nicht – Wollt Ihr aber jetzt das Maß Eurer Wohlthaten vollmachen, so führt mich baldmöglichst über die Grenze!‹

Der Mann: ›Dazu braucht Ihr nicht weit zu gehn, und wenn Ihr recht schnell fortwandert, so könnt Ihr vor abends noch die Länder von vier Herrn durchreist seyn, die alle das Recht haben, Euch ungestraft den Kopf abschneiden zu lassen, wenn Ihr etwas redet, das ihnen nicht gefällt.‹

Ich: ›Schon gut! Also vier Länder? Da werde ich doch eines antreffen, worin glückliche Menschen leben – Auf Wiedersehn, guter Freund!‹

 

Ich ging nun grade fort und war in wenig Augenblicken in einem fremden Lande. ›Aber sagt mir doch‹, rief ich einem Bauern zu, der traurig auf dem Felde stand, ›sagt mir doch, mein Freund! Warum sieht denn dies Feld so verwüstet, so leer aus? Habt Ihr Krieg?‹ ›Ach nein!‹ erwiderte der Bauer, ›das haben die großen wilden Mäuse in dieser Nacht gethan.‹ – ›Ist denn kein Mittel‹, fragte ich, ›diese auszurotten?‹ – ›Bey Leibe nicht‹, erwiderte er, ›das ist des Fürsten größtes Vergnügen. Er läßt sie aus allen Gegenden hier zusammentreiben. Keiner von uns darf einer derselben Leid zufügen. Morgen aber wird eine große Jagd gehalten. Da kömmt der Fürst selbst. Ein schöner und freundlicher Herr! Und dann müssen eine Menge Sclaven auf unsern Feldern hinter den Mäusen herlaufen, um einige zu fangen. Wer drey fängt, der ist frey. Wer aber diese Zahl nicht bringt, der muß so lange laufen, bis er tot dahin fällt; da lacht dann der gute Herr so herzlich; Ihr könnt es gar nicht glauben‹ – ›So hol ihn der Henker mit seinem Lachen!‹ schrie ich. ›Geschwind zeiget mir, wo ich am nächsten über die Grenze komme!‹ Er wies mich zurecht, und ich ging weiter.

Sobald ich in das benachbarte Land kam, sah ich auf der Grenze einen Mann stehn, welcher in der Hand Bogen und Pfeile hielt und mir mit fürchterlicher Stimme zurief: ›He! halt! Wer bist Du? Hilfe, Cameraden! Der Feind ist da! Tod, Verderben, Pestilenz! Gleich sage an, wer bist Du?‹ – ›Ich bin ein unschuldiger, wehrloser Reisender‹, gab ich ihm zum Bescheide – ›Nun, so gehe Er dann nur hin, mein Freund! guten Tag!‹ Ich ging lächelnd fort. ›Aber sage Er mir doch‹, sprach ich und kehrte wieder um, ›was macht er dann da für einen höllischen Lärm? Ist der Feind hier im Lande?‹ ›Ey nicht doch‹, antwortete der grimmige Bewaffnete, ›Er sieht ja wohl, daß keine Sehne an meinem Bogen ist. Das geschieht nur so, um nicht aus der Übung zu kommen, wenn es einmal Krieg geben sollte. Der Fürst ist ein Liebhaber davon. Es thut ihm zwar kein Mensch nichts zu Leide. Aber das ist nun so seine Freude. Des Nachts springt er vom Lager auf und schreyet: He da! Feinde! Mordbrenner! schießet und hauet alles tot! Und so müssen wir's denn auch machen‹ – ›Und dafür werdet Ihr wohl gut bezahlt?‹ – ›So So! Einen Tag um den andern bekommen wir ein großes Stück Teig, davon müssen wir aber die Hälfte anwenden, kleine Kügelchen daraus zu kneten, womit wir uns des Morgens eine Stunde lang zum Zeitvertreibe werfen müssen. Versteht Er? das sollen Steine vorstellen, so einen kleinen Krieg. Der Fürst macht es selbst mit. Den folgenden Tag hungern wir dann; dagegen aber haben wir an demselben auch nichts zu thun. Hätte Er wohl nicht Lust, auch so ein Mann zu werden, als ich bin?‹ – ›Bewahre der Himmel, mein guter Mensch! Gott befohlen! Ist's noch weit bis in das Nachbarland?‹ ›Nein! gleich hier.‹ Als ich fortging, rief er noch einmal: ›He Cameraden! paßt auf! Der Feind! Tod! Verderben! Pestilenz!‹ – ›Adieu! mein Freund!‹

›So sollte man doch meynen‹, sagte ich zu mir selbst, ›ich sey in ein Land voll von Narren gerathen? Doch hier wird es vielleicht besser hergehn. Aber wer winselt denn da?‹ Es war ein armes Weib, das jämmerlich klagte: man habe ihren einzigen Sohn aus ihren Armen gerissen, um ihn dem Fürsten zu schicken. Dieser Sohn sey ihr süßer Trost gewesen, habe für sie und zwey unmündige Schwestern seit des Vaters, ihres Mannes, Tode so treulich gearbeitet, daß Alle ihren Unterhalt davon gehabt hätten; jetzt müsse sie mit ihren schwachen Händen das Feld selbst bauen, da sie nicht in den Umständen sey, einen Sclaven anschaffen noch ernähren zu können. Dennoch dauerten die schweren Abgaben fort, welche auf die Felder vertheilt wären, obgleich man sie des Mittels beraubt habe, das ihrige zu bauen. Ich frage die Frau, wozu dann der Erif ihres Sohns so nothwendig bedürfte? Sie wunderte sich, daß mir das unbekannt seyn könnte – Und wozu meinet Ihr wohl, meine Freunde! daß er ihn gebraucht hätte? Es ist schwer zu rathen. Ich will es Euch sagen: Er hielt sich zwanzigtausend Leyerspieler, die Alle von einerley Größe und Ansehn seyn mußten. Da nun sein Ländchen klein war, so kostete es freylich Mühe, so viel ähnliche Leute zusammenzutreiben. Fremde hätte er in Menge bekommen können; aber die hätte er bezahlen müssen, statt daß diese umsonst leyern mußten. Nun sah freylich in seiner Stadt alles lebhaft und prächtig aus, und die Gassen wimmelten von – Leyerspielern. Aber desto ärmer und kläglicher war der Zustand auf dem Lande. Weiber mußten das Feld bauen, obendrein schwere Abgaben bezahlen; und wenn Eine einen guten Bissen hatte, so entzog sie sich's lieber und trug ihn zu ihrem Sohne, Bruder oder Vetter in die Stadt, damit der arme Leyerspieler nicht verhungerte – Ja! da seht Ihr, wie die Fürsten dort so ihre eignen Grillen haben! Bey uns in Europa ist es gottlob! ganz anders. Indem nun also der Kern der nützlichsten Menschen mit Gewalt zu elendem Spielwerke abgerichtet wurde, fiel bey dem kleinen Völkchen aller Muth, aller Erwerb, aller Fleiß weg. Sie wurden nach und nach an das Elend gewöhnt und waren oft froh, wenn sie nur noch leyern konnten. Denn wenn ein unglücklicher Zufall ihnen ihre Gesundheit raubte oder der Erif das Gesicht irgendeines seiner Leyermänner nicht mehr leiden konnte, jagte er Diesen fort und überließ ihm die Wahl, auf seine Gefahr zu stehlen oder zu verhungern. Ihr werdet mich fragen, ob denn dieser mächtige Leyerbeschützer ein so großer Tonkünstler gewesen? Gar nicht, meine Freunde! Er verstand nichts von Musik, und niemand konnte begreifen, zu welchem Endzwecke er diese Leute um sich her dudeln ließ.

 

Ihr könnt Euch leicht vorstellen, daß auch in diesem Lande meines Bleibens nicht lange war. Ich ließ mich baldmöglichst hinausleyern. Allein es ging mir sehr schlimm, denn obgleich die Regierung dafür sorgte, daß es nicht an armen Leuten, wohl aber an Mitteln fehlte, etwas durch Fleiß und Arbeit zu erwerben, so hatte sie doch zugleich die weise Einrichtung getroffen, daß gar keine Bettelleute geduldet wurden. Sobald sich ein Mensch blicken ließ, der Andre um Hilfe ansprach, wurde derselbe durch eine Wache von Ort zu Ort bis über die Grenze begleitet – Gewiß eine herrliche Einrichtung, sich so viel Impunität zu verschaffen, daß, wenn man jemand den Geldbeutel gestohlen hat, er es nicht einmal wagen darf, sich die Rückgabe eines kleinen Theils zu erbitten! – Zum Glück war, wie ich schon gesagt habe, das Land nicht groß, denn sonst hätte man einen Menschen so lange spazieren führen können, bis er aus Hunger und Ermattung tot hingefallen wäre. Beynahe wäre es mir also gegangen. Ich hatte mich ein wenig zu heftig im Gehn angegriffen, so daß ich in einem Orte krank vor der Thür eines Hauses niedersank, in welchem ich Ruhe und Hilfe suchen wollte. Die Obrigkeit ließ mich sogleich auf ein Fahrzeug packen und, meines Bittens ungeachtet, bis an das nächste Dorf bringen, woselbst man mich ebenso behandelte, und dies so fort, bis ich in eines andern Herrn Lande war, da man mich dann ganz sanft auf Gottes Erdboden im freyen Felde hinlegte. Kraftlos und mißmuthig lag ich hier eine Stunde, unfähig, mich bis zum nahegelegnen Orte zu schleppen, als endlich ein freundlicher, ziemlich gut gekleideter alter Mann vorbeyging, mich da liegen sah, sich Meiner erbarmte, mich fort und in seine Wohnung führte. Dieser redliche Mann verpflegte mich auf das Beste, und in vierundzwanzig Stunden war ich wieder ziemlich bey Kräften.

Ich fing nun an, meinem Wohlthäter herzlich für meine Errettung zu danken. Ohne ihn wäre ich das Opfer der guten Policey des obersten Leyerbeschützers geworden. Nun muß ich Euch doch auch den Mann beschreiben, der mich so menschenfreundlich errettet hatte. Er war, was man bey uns Schulmeister nennt. Er unterwies die Jugend auf dem Lande, und das that er mit seltner Geschicklichkeit, Treue und Einfalt. Er lehrte die Kinder früh ihre Pflichten kennen und die Beruhigung lebhaft empfinden, welche man hat, wenn man recht und gut und edel handelt. Zugleich gewöhnte er sie an Fleiß und Genügsamkeit und bildete auf diese Art den wichtigsten Stand, der alles erwerben, alles tragen muß, auf dem die ganze Wohlfahrt des Staats beruht, das Landvolk, zu guten, mit ihrem Zustande zufriednen Menschen. Also war dieser Mann eine der wichtigsten Personen im Staate, und es fiel mir auch nicht anders ein, als daß, vom Fürsten bis zum Bettler, Jeder ihn also behandeln und mit Ehrerbiethung sich gegen einen Menschen betragen würde, der den Grund zu einer bessern, glücklichern Generation legte – Aber wie sehr irrte ich mich! – Der Fürst, welcher, in rauschenden Freuden und Wollüsten ersäuft, sorglos über seine heilige Pflicht, nur darauf bedacht war, alles von sich zu entfernen, was ihm hätte ernsthafte, vernünftige Gedanken erwecken können, unterhielt einen Haufen von Luftspringern, die täglich vor ihm ihre Kunststücke wiederholen mußten. Diese Leute wurden reichlich besoldet und geehrt, ja! die erste Luftspringerin bekam fünfundneunzigmal mehr zum Unterhalte gereicht als der Lehrer des Landvolks. Dabey war dieser Schulmeisterstand ein so verachtetes Amt, daß ich offenbar sehn konnte, als mich mein Wohlthäter, wie Ihr nachher hören werdet, mit in die Stadt nahm, wie geringe man diesen würdigen Mann behandelte, wie er nirgends in vornehme Häuser Zutritt hatte, wie er aller Orten unter dem Pöbel mit fortgedrängt wurde und wie überhaupt in diesem großen Lande die Bedienungen und Stände nicht nach dem Grade der Nützlichkeit, welchen sie für den Staat hatten, sondern nach gewissen Vorurtheilen geschätzt und belohnt wurden. Da war es dann sehr natürlich, daß sich wenig Männer von Talenten zu Besetzung der höchst wichtigen, aber verachteten Stände fanden und daß man desfalls gewöhnlich zu einem Schulmeister Denjenigen nahm, der dies Amt um den geringsten Preis annehmen wollte. Es wurden dann solche Stellen mit Unwissenden, Nichtswürdigen besetzt, oder wenn ja ein geschickter Mann, durch sein gutes Herz, durch seinen Hang zu diesem edlen Geschäfte oder durch Armuth getrieben, sich entschloß, ein Lehrer des Landvolks zu werden, so schnitt ihm seine Lage die Mittel ab, seine Talente weiterzuentwickeln, und er mußte wohl gar, um leben zu können, nebenher irgendeine rauhe, niedrige Handarbeit treiben. Zu Abschaffung dieses Unwesens wurde nun so wenig Anstalt gemacht, daß die Lehrer des Volks gar nicht unter genauerer Aufsicht der Regierung standen, welche sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgab. Sie waren dagegen einer Classe von Leuten untergeordnet, die sich mit Gewalt in den Besitz gesetzt hatten, für die wahren Priester der Gottheit zu gelten. Da Diesen nun daran gelegen war, das Volk dumm und voll von Vorurtheilen zu erhalten, so läßt sich leicht begreifen, daß sie die Aufklärung und weise Erziehung so viel möglich hinderten. Sie setzten daher zu den Lehrern des Landvolks mehrentheils ihre Creaturen, welche ihre Pläne bey dem Unterrichte der Kinder befördern mußten, oder die allerdümmsten Menschen an. Auch war eine Form vorgeschrieben, nach welcher der Unterricht eingeleitet werden mußte, und statt die guten Kinder auf die Süßigkeit der gesellschaftlichen Pflichten und auf die Schönheiten der wohlthätigen Natur aufmerksam zu machen, mußten sie fünfzehn Jahre lang gewisse, von eigennützigen und listigen Menschen zum einträglichen Betruge zusammengeflickte, unverständliche Systeme auswendiglernen. Und wehe dem Knaben, der hier seine Vernunft gebrauchen wollte! Wehe dem Lehrer, der nach einer andern Methode verfuhr! Er wurde im Namen der barmherzigen, gütigen, duldenden Gottheit bis in den Tod verfolgt. Wirklich war auch mein Hauswirth schon in das schwarze Register dieser Bonzen eingeschrieben und mußte allen Ruf seiner Rechtschaffenheit, alle seine Klugheit aufbiethen, den Schlingen zu entgehn, welche man seiner Heterodoxie (das heißt dort so viel wie gesunde Vernunft) legte. Die Vorschriften, nach denen das ganze große Land leben mußte und welche jene Bonzen erfunden und dem Erif selbst zur Befolgung aufgezwungen hatten, gingen so weit, daß man an gewissen Tagen nicht einmal allerley genießen noch sich mit nützlichen Dingen beschäftigen durfte.

Ein Stamm der Unterthanen allein sonderte sich von diesen Gebräuchen ab. Die Glieder desselben waren einmal in dem Besitze, ihre eigne Überzeugung bey Regierung ihrer Handlungen zu Rathe ziehn zu dürfen. Aber dafür wurden sie auch auf die grausamste Weise gedrückt, mußten beynahe von der freyen Luft, welche sie einathmeten, eine Abgabe entrichten, wurden allgemein verächtlich, niedrig behandelt und unfähig gehalten, irgendeinen Stand ergreifen zu dürfen. Man würde sie, glaube ich, Alle ausgerottet haben, wenn nicht der Eigennutz seine Rechnung bey diesen Leuten gefunden hätte, denn, so sehr man sie auch drückte, so blieben sie doch im Lande, lebten still, in den Sitten ihrer Väter, mischten sich in keine Staatshändel, ertrugen alles geduldig, waren höchst arbeitsam, fleißig, mäßig, und es gab feine, witzige und tiefdenkende Köpfe unter ihnen. Es war natürlich, daß sie keine große Liebe zu dem übrigen, größern Theil des Volks bekommen konnten, indem sie so unedel gemißhandelt wurden. Ich habe selbst gesehen, daß, als einst Reisende von diesem Stamme, welche in einem andern Lande so unglücklich gewesen, ihr ganzes Vermögen zu verlieren und desfalls fortgegangen waren, eine andre Heymath zu suchen, daß, als Diese durch dies Land nur durchreisen wollten, man ihnen für diese Erlaubnis eine große Abgabe abforderte. Die armen Leute hatten kein Geld, baten daher um Erbarmen; aber nein! Wenn sie kein Geld hatten, so hatten sie doch Kleider auf dem Leibe. Man zog ihnen das Unterkleid aus, um sich wegen der verordneten Abgabe bezahlt zu machen, und ließ sie mit bloßem Oberkleide, halb nackend, weiter wandern. Ein Andrer von diesen Leuten gerieth einst auf der Gasse einer kleinen Stadt mit einem Knaben, der Seiner spottete, in Streit. Der arme Mann ertrug allen Hohn und wollte dem Buben ausweichen. Allein dieser ergriff einen Stein und zielte nach des Menschen Kopfe. Was war natürlicher, als daß der Arme sein Haupt niederbeugte, um dem tödlichen Wurfe zu entgehn? Aber nun flog zum Unglück der Stein in das Haus eines reichen Bürgers und zerbrach daselbst ein kostbares Gefäß. Der Eigenthümer stürzte sogleich heraus, ergriff – nicht den Knaben, sondern den gekränkten Mann, schleppte ihn vor Gericht, und dies verurtheilte denselben unerhörter Weise, das zerbrochne Gefäß zu bezahlen.

Nun war es wohl begreiflich, warum diese unbrüderliche Behandlung eines Völkchens, das einerley Ursprung mit dem übrigen Theile der Nation, ja! aus dessen Mitte diese ihre größten Helden aufzuweisen hatte, daß eine solche Behandlung die Unglücklichen aufbringen und erbittern und sie oft zu gegenseitigen, unedlen Handlungen verleiten mußte. Es ist wahr, daß fast kein Diebstahl geschah, woran nicht jemand aus diesem gedrückten Stamme Antheil gehabt hätte, und daß sich diese Leute mehrentheils vom Wucher nährten; das war aber gar nicht zu verwundern, nachdem man ihnen alle Mittel zu ehrlichem Erwerbe und alle öffentliche Achtung geraubt hatte.

Ich habe Euch vorhin erzählt, daß die Bedienungen und Stände nicht nach dem Grade ihrer Nützlichkeit, sondern nach gewissen Vorurtheilen und Meinungen geschätzt wurden. So gab es zum Beyspiel eine Absonderung eines Standes, welcher nächst dem Fürsten der vornehmste war und welchen man den Stand der Schiefnasigen nannte. Es gab nämlich gewisse Familien und Stämme, die sich darauf etwas zu gut thaten, schiefe Nasen zu haben und beweisen zu können, daß ihre Vorfahren seit einigen Jahrhunderten in ununterbrochener Reyhe fort schiefe Nasen gehabt und nur schiefnasige Mädchen geheyrathet hätten. Vermuthlich hatten irgendein paar Stammväter dieser Familien, denen von Ungefähr die Nase ein wenig auf die Seite gebogen war, große Verdienste um den Staat gehabt, und hatte man sie vorzugsweise die edlen Schiefnasigen genannt. Das Ansehn, in welchem sie bey dem Volke gestanden, die gute Erziehung, welche sie ihren Kindern gaben, vielleicht auch der Reichthum, den Fleiß und Tapferkeit ihnen erworben hatte, dies alles machte, daß die Achtung für sie sich auch auf ihre Nachkommen vererbte, und die Mütter versäumten nicht, um das Bild der großen Ahnherrn in ihren Kindern wieder aufleben zu sehn, ihnen gleich bey der Geburth die Nase schief zu drücken. Aber bald artete dieser Vorzug aus. Die spätern Enkel, stolz auf die geerbte öffentliche Achtung, glaubten der Verdienste nicht zu bedürfen, wenn sie nur ihre schiefnasige Abkunft beweisen konnten; und durch eine unbegreifliche Verblendung ließ man diesen unwürdigen Nachkömmlingen nicht nur die den Vätern eingeräumten ökonomischen Vorrechte (das hätte sich noch vernünftig erklären lassen), sondern man räumte ihnen auch solche politische und moralische Vorzüge ein, die offenbar nur dem wahren Verdienste und Talente gebühren. Zu den ersten, einträglichsten und wichtigsten Stellen im Staate, ja! selbst zu denen, welche offenbar handwerksmäßige oder tiefe Kenntnis einer einzelnen Wissenschaft oder Kunst voraussetzten, wurde man nur vermittelst einer schiefen Nase erhoben, und der verdienstvollste, gelehrteste alte Mann mit grader Nase mußte, bey kümmerlichem Auskommen, oft einem unwissenden Schiefnasigen gehorchen, welcher reichlich für das bezahlt wurde, was er – nicht that. Da nun diese Classe von Menschen sich über die Andern so sehr erhoben hielt, so glaubten sie auch, sich durch einen äußern Glanz auszeichnen zu müssen; und da kam es dann mehrentheils, daß der größte Theil dieser Leute, ungeachtet aller ihnen eingeräumten Vortheile, in sehr zerrütteten Vermögensumständen war. Aber so groß blieb das Vorurtheil und die Verblendung, daß dennoch der reichste und klügste Mann mit grader Nase sich vor einem höchst unwissenden armen Schiefnasigen bis auf die Erde bückte. Es herrschte aber auch ein solcher auf gegenseitige Vertheidigung ihrer Albernheit gestützter esprit de corps unter ihnen, daß sie in ihren Gesellschaften nur ihres Gleichen duldeten, und eitle Leute waren schwach genug, sich oft noch in ihren alten Tagen die Nase schief schlagen zu lassen, um nur in diese leeren Gesellschaften, in welchen mehrentheils Unwissenheit, Hochmuth und prahlerische Betteley herrschten, Zutritt zu erlangen. Andre sahen sich der Wohlfahrt ihrer Familien wegen zu diesem Schritte gezwungen, obgleich sie selbst die ganze Albernheit davon fühlten – Die Fürsten hatten seit Jahrhunderten dies Vorurtheil unterstützt, Einige, weil sie selbst fühlten, wie wenig die Natur sie durch wahre Verdienste zu dem Posten berechtigte, den sie bekleideten, weswegen sie dann Leute um sich her versammelten, die auch nicht klüger noch besser waren, weil ihnen die Gesellschaft der wahrhaftig Edlern ein beständiger stillschweigender Vorwurf gewesen seyn würde. Die schlauen Regenten aber wollten deswegen das Vorurtheil nicht abschaffen, weil ihnen eine nichts kostende Operation an der Nase eines Menschen Gelegenheit gab, die listigsten Köpfe zu gewinnen und zu Ausführung ihrer despotischen Pläne zu nützen. Indessen muß man doch bekennen, daß es auch sehr würdige Männer mit schiefen Nasen gab, und Diese wurden dann, als Ausnahmen von der Regel, eben ihrer Nase wegen, doppelt geachtet. Ihr wißt, meine Freunde! daß auch mir die Natur zufälligerweise ein schiefes Riechwerkzeug gegeben hat, und ich konnte anfangs, ehe ich die Verfassung kannte, nicht begreifen, weswegen jedermann mir mit so vorzüglicher Höflichkeit begegnete. Als ich aber mit meinem ehrlichen Schulmeister durch die Straßen der Stadt zog, da schien man mich zu bedauern oder vielmehr es mir zum Vorwurf zu machen, daß ich mich nicht mehr zu meines Gleichen hielte. Man fing an, meine echte Abstammung zu bezweifeln – So mächtig war das eingewurzelte Vorurtheil, daß man verlangte, ich sollte den wahren Genuß des Lebens, den Nutzen, den man aus dem Umgange mit weisen und guten Menschen zieht, und die edle Anwendung einer Zeit, über welche man einst Rechenschaft geben soll, dem beständigen Anblicke schiefer Nasen aufopfern – Ja! meine Freunde! uns Europäern kömmt so etwas unglaublich vor; aber es ist nun einmal nicht anders, und ich kann Euch noch ganz andre Thorheiten erzählen.

So herrschte z. B. hier ein sonderbarer Contrast zwischen gewissen Nationalgefühlen und Nationalgewohnheiten. Nahe an das große Land, in welchem ich itzt war, grenzte ein andres, welches Vent-i-ti hieß und von einem Volke bewohnt wurde, das in seinen Sitten und seinem eigenthümlichen Character sehr weit von jenem unterschieden war. Hierzu kam noch, daß das fremde Volk schon sehr oft, mit Beleidigung aller natürlichen und vertragsmäßigen Rechte, in dies Land eingebrochen war, es verheert und beraubt hatte. Folglich herrschte ein sehr gegründeter Widerwille zwischen den Si-mi-schi-räs (So hieß das Volk, unter dem ich lebte) und den Vent-i-tihern; und von der andern Seite waren die Vent-i-tiher eine so übermüthige Nation, daß sie alle andren, und vorzüglich ihre Nachbarn, sehr verachteten. Wenn sie einen Tölpel beschreiben wollten, so sagten sie, er sey ein rechter Si-mi-schi-rä. Dennoch waren diese Si-mi-schi-räs so sclavisch gesinnt, daß sie alles gutfanden, alles nachahmten, was nur die Vent-i-tiher unternahmen, sprachen, trieben. Diese, welchen ein solcher Nachahmungsgeist viel Spaß machte, versäumten nicht, jeden Tag neue Thorheiten zu erfinden und dann herzlich zu lachen, wenn die si-mi-schi-räischen Fürsten und Vornehmen sich augenblicklich beeiferten, dieselbe Thorheit zu begehn. Das ging so weit, daß der verworfenste Vent-i-tiher in Si-mi-schi-rä immer sicher war, wenn er nur dahin wanderte, eine große Rolle zu spielen. Die Fürsten und Schiefnasigen hier redeten nicht anders als in vent-i-tischer Sprache, ja! sie lernten nicht einmal ihre Muttersprache, durften dieselbe von Jugend auf nicht reden. Die Vent-i-tiher hatten die Gewohnheit, ihre kleinen Kinder in Tücher zu wickeln. Nun war kürzlich in Vent-i-ti ein kleiner Erif geboren worden. Da nun Fürsten sowohl wie andre Menschen ihre natürlichen Ausleerungen haben, so konnte es nicht fehlen, daß der Knabe seine Tücher täglich beschmutzte. Da ließ nun der Erif von Vent-i-ti einen Befehl ergehn, jedermann sollte Kleider tragen, welche die Farbe von diesen beschmutzten Tüchern hätten – ›Gebt Acht‹, sagte er und lachte herzlich, als er den Befehl unterschrieb. ›Gebt Acht! die Si-mi-schi-räs werden bald Alle in meines Sohns Unflath gekleidet seyn.‹ Gesagt, geschehn! Es dauerte nicht acht Tage, so ließ sich die Fürstin von Si-mi-schi-rä die nassen Tücher des kleinen Prinzen ganz frisch ausbitten, sie durch einen eignen Gesandten abholen und sich ein Mäntelchen daraus machen. Ein andermal sang die Amme des Prinzen ein Wiegenlied, das so elend wie möglich war. Der alte Erif hörte es und befahl sogleich, es solle ein Gesandter nach Si-mi-schi-rä gehn und das Lied dort am Hofe singen. Seit dieser Zeit wurde es eingeführt, daß niemand in Si-mi-schi-rä den Andern begrüßte, ohne dabey dies Liedchen zu trillern. Auch hatte der alte Fürst von Vent-i-ti ein Hausthier, welches einst, als er es auf seinem Schoße streicheln wollte, ihn gewaltig beschmutzte. Sogleich zog er sein Gewand aus und verkaufte es an den Fürsten von Si-mi-schi-rä, der Befehl ertheilte: wer eine Bedienung haben wollte, der sollte sich in diese Farbe kleiden – O, meine Freunde! und was für andre Thorheiten mußte ich nicht erleben! Wie oft seufzte ich nach Europa zurück und rief dann aus: Wäre ich doch erst wieder in meinem lieben teutschen Vaterlande! Da geht es doch anders her.«


 << zurück weiter >>