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Im Spätsommer d. J. 1872 machte ein französischer Reisender, Gaston Bralieu, den Versuch, einen der höchsten Gipfel der Schweizer Alpen, den Mont Vierge, zu ersteigen. Wir theilen aus seinem Reisetagebuche die nachstehende Skizze mit. Am Morgen des 20. August brachen wir aus der Sennhütte, in welcher wir übernachtet hatten, nach der Spitze des Mont Vierge auf, von welcher unsere Raststelle noch durch ein gefährliches Eisfeld geschieden war. Während wir zwischen den übereinandergehäuften und geschichteten Trümmern aufwärts drangen, glitschte der Eine meiner Führer so unglücklich aus, daß er mit dem Kopfe wider die scharfe Kante eines Eisblockes schlug und bewußtlos liegen blieb. Der andere Führer, der Bruder des Verunglückten, war von dem Unfalle dermaßen betroffen, daß er in keiner Weise zum Weitergehen zu vermögen war. Er habe – sagte er – schon im vorhinein gewußt, daß uns Unheil begegnen würde, denn als er Morgens aus der Hütte ausgeschaut habe, sei ein weißer Steinbock vor ihm aufgestanden; dieses Thier aber ist das Gespenst der Alpenjäger; mit ihm zusammentreffen bedeutet sicheres Unglück. Da ich nun den Burschen mit keinerlei Versprechungen und Zureden zu bewegen vermochte, mit mir die prachtvolle Spitze vollends hinanzusteigen, so entschloß ich mich, allein weiterzugehen. Der Gletscher, den ich noch zu gewinnen hatte, strebte zweihundert Meter hoch steil vor mir empor; ich wollte nicht die Schande auf mir sitzen lassen, so nahe dem Ziele zurückgeschreckt zu sein. Ich ertheilte dem Führer die nöthigen Anweisungen, was er mit seinem Bruder zu beginnen habe, um ihn wieder ins Leben zurückzurufen, und dann sollten Beide an der Stelle meine Rückkehr erwarten, wenn sie es nicht etwa vorzögen, mir nachzukommen. Nach dreistündigem, angestrengtem Klettern gelangte ich endlich zur höchsten Spitze des Mont Vierge hinauf, von welcher aus das Auge ringsum das herrlichste Panorama der Welt erblickt. Allein es war nicht die großartige Rundschau, was bei dem ersten Schritt auf der letzten Höhe meinen Blick fesselte, nicht die mächtigen Gruppen der im Sonnenglanze funkelnden Eisberge mit ihren lichtblauen Schatten, nicht die weiß in weiß gezeichneten Abendlandschaften, nicht die in einander verschwimmenden, blauen Gebirgsketten, – sondern was unmittelbar zu meinen Füßen lag: zwei Leichen auf der Spitze des Felsens. Ein junger Mann und ein Mädchen. Das Mädchen mußte zuerst gestorben sein, denn ihr Kopf war an des Jünglings Brust gelehnt, der ihn mit dem einen Arm umschloß, während sein eigener Kopf auf seinem andern Arm ruhte. Das Gesicht des Mädchens lag wider die Brust des Jünglings gedrückt, sein Antlitz war dem Himmel zugewendet, dem Himmel, der hier ewig heiter niederlächelt. Ueber diesem Punkt der Erde schwebt niemals eine Wolke. Neben ihnen lagen zwei geleerte Phiolen, deren Inhalt ihren Tod herbeigeführt haben mochte. Das Mädchen lag da, als ob es schliefe, mit geschlossenen Augen, der Jüngling, als ob er über sie wachte, blickte offnen Auges gen Himmel. Wie lange mochten sie bereits schlafen? Die Körper sind von der ewigen Kälte zu Stein gefroren, Bildsäulen, die die Zeit nicht zerstört, im Tode verewigt, bestattet unter freiem Himmel! Welche Tragödie mag diesem Ende vorangegangen sein?
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