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Der Trauerschleier der Prinzessin.

Noch zwei Tage vor der Zeit des Rendezvous mit Madame Corysande war Leon wieder in Wien.

Am Nachmittage traf er seinen alten Freund, den Eisenkakadu. (Den wahren Namen des Mannes brachte niemals Jemand über die Lippen.) Leon drohte ihm schon von Weitem mit dem Finger.

»Daß Du mir nicht etwa damit anfängst: ›Napoleon ist bei Sedan gefangen worden.‹«

Der spaßige Alte erwiderte damals mit traurigem Gesichte: »Fällt mir nicht ein! Siehst Du das hier?«

Damit nahm er den Hut vom Kopfe und hielt ihn Leon hin. Es war ein vielerprobter weißer Cylinder, der schon manch eine Sommer-Campagne mitgemacht hatte; er war mit einem breiten Trauerflor umwunden. »Weißt Du, was das zu bedeuten hat?«

Leons spottsüchtiges Naturell ließ ihn niemals eine Gelegenheit zu einer Spöttelei versäumen.

»Nun, daß Dein Hut abgetragen ist.«

Der alte Herr drohte ihm mit dem Finger. »Leon, mit Deiner Spöttelei wirst Du Dir noch einmal den Mund verbrennen.«

»Also ernsthaft: Du trauerst? Um wen denn?«

»Wahrhaftig nicht um jenen Napoleon, der bei Sedan in Gefangenschaft gerathen ist, sondern um den da, den ich soeben gefangen habe. Der Trauerfall berührt Dich, mein Junge, mein großer Mann – Fürst Maximilian Etelvary ist gestorben ... Seit heute morgen schon trage ich den schwarzgesiegelten Brief da bei mir herum und suche Dich an allen Orten und Enden. Wo steckst Du denn nur? Da nimm, er ist aus Helgoland unter Deiner Adresse eingelangt. Komm, wir wollen einmal in das kleine Gasthaus dort drüben einkehren. Du wirst einen solchen Brief doch nicht hier auf offener Straße lesen wollen.«

Im Gasthause ließ der alte Diplomat unter dem Vorwande, er wolle nach der Küche sehen, um Bestellungen zu machen, seinen Schützling allein. Er mochte ihm den ersten Eindruck, den das Schreiben auf ihn machen würde, nicht vom Gesichte ablauschen. Leon konnte allein und ungestört lesen. An den Schriftzügen erkannte er sofort Raphaela's Hand. War es möglich, den Inhalt nicht zu verstehen? Konnte er noch irgend eine Frage an irgend ein Orakel zu richten haben, nachdem er die Schrift erkannt hatte? Waren die Worte nicht sanktionirt durch die Hand, welche sie niedergeschrieben hatte?

Welch schwere Gedanken lagen in diesen Zeilen! Welch ein Prognostikon eines neuen Lebens, dessen Endziel sich in unabsehbarer Ferne, hoch in den Wolken verlor. Und all diese ermutigenden Worte hatte sein ewiger Wohlthäter durch Raphaela niederschreiben lassen; die mit zitternder Hand geführten Buchstaben seiner Namensunterschrift verewigten die letzten Schläge seines Herzens.

Der alte gute Freund saß längst schon ihm gegenüber am Tische und er starrte noch immer wortlos hinbrütend in das Blatt, welches er in der Hand hielt. Die Buchstaben nahmen Menschengestalt an vor seinen Augen. Der Kellner setzte einen Braten auf; da mit einem Male fiel er hastig, als ob er nur darauf gewartet hätte, mit Messer und Gabel über das Gericht her und begann hastig zu essen, ungefähr wie die Passagiere auf einer Eisenbahnstation »einzuhauen« pflegen. »Du eilst, wie ich sehe, um den Südbahnzug nicht zu versäumen?« bemerkte der Alte. Leon nickte nur mit dem Kopfe. »Ich rathe Dir, über Hamburg zu gehen und ein amerikanisches Dampfboot zu nehmen.«

»Du weißt, daß ich nach Helgoland reisen muß?«

»Jawohl, um die Leiche und die Familie des Fürsten in die Heimat zu geleiten. Ich weiß auch noch Manches Andere, was Dich interessirt; doch dazu ist es noch nicht an der Zeit. Du reisest noch heute?« »Noch heute.« »Kann ich Dir dabei in irgend etwas behülflich sein?« »Ich danke. Ich bin stets reisefertig. Aber um eine andere Gefälligkeit möchte ich Dich ersuchen.« »Verfüge über mich.« »Du erinnerst Dich der Dame, die mir damals den Brief nach Paris nachgeschickt hat?« »Madame Corysande? Ei wie denn nicht! Was ist mit ihr? Soll ich sie etwa heirathen und Dir zu Liebe ihrem Töchterchen Vater sein?«

»Besten Dank. Sie hat keine Tochter und braucht keinen Mann. Ein solches Opfer verlange ich nicht. Sie ist die Dame, deren Wohnung Du ausgekundschaftet hast; ich habe ihr aber mein Ehrenwort gegeben, ihre Schwelle insolange nicht zu betreten, als sie selber es mir nicht gestattet. Diese wackere Dame (sie ist in der That ein achtenswerthes Geschöpf) hat mir dagegen versprochen, mich übermorgen Mittags auf einer Bank im Stadtpark zu erwarten und mir von gewissen Verhältnissen Nachricht zu geben. Nun kann ich mich aber übermorgen nicht einstellen und möchte doch nicht, daß sie vergeblich auf mich warte.«

»Ich verstehe. Man müßte sie wissen lassen, daß Du aus sehr dringenden und unabweislichen Gründen verreisen mußtest.« »Man könnte ihr geradezu auch mein Reiseziel selber nennen: die Bahre des Fürsten Etelvary.« »Ich begreife. ›Nur‹ die Bahre.« »Was willst Du damit sagen?« »Jenun, Du holst ja außer dem Sarge auch noch etwas Anderes heim: die Prinzessin.« »Das weiß sie dann schon von selber. Sie hat die Familie des Fürsten genau gekannt.« »Ah, also wirklich eine Dame von Distinktion! Nun, verlaß Dich auf mich. Ich will Alles besorgen.«

»Wie gedenkst Du es aber anzustellen? Sie ist ein überaus stolzer und unnahbarer Charakter. Wenn Du damit anheben wolltest: ›Leon Zarkany schickt mich mit dieser oder jener Post,‹ so würde sie Dir den Rücken zukehren, Dich über die Achseln ansehen und fragen: ›Was kümmert mich denn ein Herr dieses Namens?‹«

»O das laß Du meine Sorge sein. Wäre ich denn alt geworden und wüßte noch immer nicht mit Weibern umzugehen? Ich weiß die Sache anzufassen in jedem Genre. Ich habe schon mit Frauen zu thun gehabt, die nur Stolz heuchelten und mit solchen, die wahrhaft stolz waren. Ich ordne Dir die Geschichte vollständig. Unter Anderem – Sei doch so gut und laß mir einen kleinen Dispositionsfond zurück. So etwa vier Stück Tausendfrancs-Billets.«

»Mit Vergnügen. Ich frage nicht, wozu? aber auf Eines will ich Dich aufmerksam machen: wenn Du etwa die Idee hast, der Dame auf irgend eine Weise in meinem Namen Geld zukommen zu lassen, so kannst Du dessen gewiß sein, daß man es Dir vor die Füße wirft.«

»Gieb mir doch keine Rathschläge, sondern Geld, und dann spute Dich, sonst versäumst Du den Zug. Ich will sogleich nach einem Miethwagen schauen, Du lege mir mittlerweile die Banknoten zurecht. Im Uebrigen verlaß Dich auf meine bewährte Findigkeit.«

Leon mußte sich ohne Verzug auf den Weg machen. Das Geheiß des Verstorbenen geht allem Andern, selbst dem Rufe der Liebe voran. Und dieser Todte wird gar Vielen hier im Lande gestorben sein!

Des andern Tages früh Morgens schellte der Eisenkakadu an der Thür zu Madame Corysandens Wohnung. Er trug ein Packet Stoffe, in Papier eingeschlagen, unter dem Arme. Er hatte zu diesem Besuche sein gewöhnliches Aussehen ganz und gar verändert: der Kakadu war nach der Mode in der Mitte abgetheilt und zu beiden Seiten glatt niedergekämmt, der Schnurrbart war schwarz gewichst; der Mann trug grüne Augengläser und hatte die zwei Reihen schöner Zähne, ein Meisterstück der Zahntechnik, daheim gelassen, so daß sein bester Bekannter sich nicht zu entsinnen gewußt hätte, diesem eingefallenen Gesichte jemals begegnet zu sein.

Auf das Glockenzeichen fragte eine nicht eben einladende Stimme innerhalb der Thür: »Wer ist da?«

»Die schwarze Rose,« gab der alte Herr mit honigsüßer Stimme zur Antwort.

Der Name that eine wunderbare Wirkung. Der Schlüssel drehte sich im Thürschlosse und ein Frauenkopf, bis an die Brauen in eine unter dem Kinn gebundene Haube gehüllt, kam zum Vorschein. »Was wollen Sie hier?« fuhr die Besitzerin der Haube den Besucher an.

»Unterthänigster Diener, Madame!« sprach der alte Herr, machte einen schlurfenden Kratzfuß und zog mit ehrerbietiger Höflichkeit den Hut. »Sie waren dieser Tage so gütig, bei der ›schwarzen Rose‹ um eine Stickerei-Arbeit anzufragen. Damals lag im Augenblicke eben nichts vor; seither aber haben wir eine größere Bestellung bekommen; unser Chef hatte Madames Adresse notirt und schickt hier den Stoff; wenn wir handelseinig werden können, so ...«

»Ich bitte, mein Herr!« sprach Madame Corysande, nunmehr mit feierlicher Herablassung und ließ den artigen Gast, der sich fortwährend auf das Manierlichste verbeugte, durch das kleine Vorzimmer in das innere Gemach eintreten.

Madame Corysandens Wohnung war überaus nett eingerichtet und gehalten. Darein setzte sie einen gewissen Stolz. Wer zum Besuch kam, durfte nicht merken, daß sie keinen Dienstboten hielt; daher glänzte der Fußboden des Zimmers immer in tadelloser Frische: sie bürstete ihn jeden Morgen selber auf.

»Pamina!« rief Madame Corysande voraus in das Zimmer. Der Ruf sollte eine Mahnung an das Schoßhündchen sein, das Gebelle zu unterlassen, welches der kleine Kläffer aufzuschlagen pflegte, so oft er eines Fremden ansichtig wurde. Gleichwohl entstand daraus ein kleines Quiproquo; der alte Herr begrüßte nämlich mit dem Namen, den er soeben gehört hatte, die junge Dame, die am Fenster saß. »Unterthänigster Diener, Fräulein Pamina!« Die beiden Damen lachten über den Irrthum so herzlich, daß Madame Corysande vor lauter Heiterkeit kaum im Stande war, dem artigen Fremden begreiflich zu machen, daß auf den Ruf nicht so sehr die junge Dame höre, die dort am Stickrahmen saß, als vielmehr das kleine Bologneser Favoritchen; daraufhin glaubte nun der sonderbare alte Herr nicht das Fräulein, sondern das Hündchen um Entschuldigung bitten zu müssen; er habe es seines einzigen unbestreitbaren Eigenthums: seines Namens, durchaus nicht berauben wollen. Die Exkuse mußte die Damen begreiflicherweise in noch weit heiterere Stimmung versetzen.

Und das war es ja eben, was der alte Herr erzwecken gewollt hatte. Er wußte ganz wohl, wie die Damen beide hießen, er hatte nur der Komödie, die er beabsichtigte und deren Text durchaus ein gar tragischer ist, durch einen etwas komischen Grundton ein minder düsteres Kolorit verleihen wollen.

»Meinen Handkuß, meine Damen. Ich bin die ›schwarze Rose‹; meinerseits zwar schon eine einigermaßen ›graue Rose‹. – Hehehe! Habe eben bereits vierzig Jahre lang die Ehre, dem Hause zu dienen. Unsere Firma ist die älteste Firma in ganz Wien und ohne Frage die bekannteste Trauerwaaren-Handlung. Ohne uns kann sich ein Todter von Stand, der etwas auf sich hält, gar nicht begraben lassen. Wir sind im Stande, binnen vierundzwanzig Stunden von A bis Z herzustellen, was zu einem vollständigen Trauergepränge gehört; bei hervorragenden Todten, die eine Woche zur Besichtigung ausgesetzt bleiben, leisten wir vollends das Unglaubliche. Sie erinnern sich wohl an die Leichenfeier des Fürsten Metternich, Madame – Sie waren damals noch ein ganz kleines Mädchen.« (Die Bemerkung klang nicht wenig schmeichelhaft für Madame Corysande, die »damals« offen gesagt, schon sehr bedeutend ein großes Mädchen war.) »Diese ganze Trauerfeier haben wir ausgestattet. Ja, ja, im Ernst, ob Sie es nun glauben oder nicht. Sieben Tage lang beschäftigten wir neununddreißig Stickerinnen. Ich erschien Tag für Tag bei Jeder derselben, um einen Handkuß und einen Blumenstrauß zu überbringen. An das großartige, goldgestickte Bahrtuch, welches über den Katafalk gebreitet lag, erinnern Sie sich gewiß. Das war eine Arbeit! Allenthalben hatte man bis dahin behauptet, derartiges herzustellen sei nur Paris im Stande. – Nun, wir haben gezeigt, daß wir es eben so gut im Stande sind. In ganz Paris giebt es keine Stickerin, die ein Stück Arbeit herzustellen wüßte, wie es das Fräulein eben da im Rahmen hat. Ein wahres Kunstwerk! Doch ich verplaudere da die Zeit, und dem Fräulein ist doch jede Minute kostbar und auch ich selber habe heute noch hunderterlei Gänge zu laufen. Es ist eine großartige Bestellung eingegangen; ein Fürst ist gestorben, ein fast eben so bedeutender Mann, wie der Fürst Metternich war, und noch reicher als dieser. Die ›schwarze Rose‹ hat die Herstellung des ganzen Trauerpompes für den verstorbenen Fürsten übernommen. Dem Fräulein wollen wir die Anfertigung des Trauerschleiers übertragen, den die Tochter des Fürsten tragen soll. Eine ungeheuer reiche Erbin! Die Damen können sich vorstellen: für diesen Schleier allein – na, das kann ich nicht sagen, was die ›schwarze Rose‹ für den Schleier bekommt, das ist Geschäftsgeheimniß. – Aber die ›schwarze Rose‹ bezahlt dem Fräulein viertausend Francs.«

Die beiden Damen vermochten kaum zu verbergen, wie angenehm sie überrascht waren. Das war ja eine Quinterne in der Lotterie!

»Es wird mir ganz leicht von Statten gehen.«

»Zu eilen brauchen Sie mit der Arbeit durchaus nicht, Fräulein, der Fürst ist im Auslande gestorben; die Leiche muß erst zu Schiff und mittelst Eisenbahn nach Hause gebracht werden; das dauert mindestens vierzehn Tage, dann erst findet die Begräbnißfeier statt, zu welcher der Schleier gebraucht wird. Drum arbeiten Sie nur bei Tage; des Nachts, bei Lampenlicht dürfen Sie sich nicht die Augen verderben. (Diese wunderbaren, blauen Augen.) Die Nachtarbeit, besonders bei Trauerstickereien, hat außerdem, daß sie die Augen verdirbt, auch noch den Nachtheil, daß sie der Stickerei selber anzumerken ist; und die Prinzessin, für die der Schleier gehört, ist sehr heiklich, ganz außerordentlich schwer zufriedenzustellen! Deshalb dürfen Sie nur bei Tag daran arbeiten. Ich weiß, ich weiß – wenn die Arbeit früher fertig wird, so kommen Sie früher zu dem Gelde. Nun, dafür wollen wir auch Rath finden. Ich bin ermächtigt, den Stickerinnen Vorschüsse zu geben; Ihnen gegenüber, meine Damen, bin ich aber sogar bereit, noch weiter zu gehen: ich will Ihnen sogar den ganzen vereinbarten Betrag ausbezahlen. Ihr respektables Gesicht, Madame, diese Unschuld strahlenden Augen, mein Fräulein, sind mir Garantie genug, daß die ›schwarze Rose‹ bei der Vorausbezahlung nichts riskirt.«

Dieses überschwängliche Vertrauen erweckte in Madame Corysanden einiges Mißtrauen. »Mein Herr, wir gehören nicht zu Jenen, die Vorschüsse zu verlangen pflegen.«

»Madame!« sprach der alte Herr und richtete sich stolz gerade auf; »beleidigen Sie die Firma der ›schwarzen Rose‹ nicht durch übelangebrachte Prüderie. Die ›schwarze Rose‹ ist ein wahres Asyl für tugendhafte Arbeiterinnen. Die Administration leitet ein im Geheimen wirkender Frauenverein, dessen Ausgabe es ist, junge Damen von tugendsamer, sittlich-tadelloser Aufführung, die von Handarbeit leben, zum Ausharren auf dieser Bahn zu ermuntern. Das ist ein öffentliches Geheimniß, Madame. Die Reichen sterben, damit die Armen zu leben haben. – Sie verstehen mich. Ein kleines Ersparniß, zumal wenn es selbst erworben, auf ehrbare Weise erworben wurde, ist ein schätzenswerther Fonds für ein junges Mädchen. Uebrigens, wenn Sie Bedenken tragen, das Geld zu nehmen, so kann ich's ja auch wieder zurückgeben.«

Madame Corysande entschloß sich doch lieber zur Annahme. Der alte Pseudo-Commis zählte die viertausend Francs auf den Tisch.

»Bitte aber das Geld nicht hier auf dem Tische herumliegen zu lassen. Nicht einen Augenblick! Hier in Wien muß man sehr vorsichtig sein. Wollen Sie die Banknoten nur gleich in den Kasten sperren, Madame. So, und nun möchte ich um eine kleine Quittung bitten, wenn Sie so gütig sein wollen.«

Madame Corysande setzte sich an ihr Schreibtischchen, holte ihr kleines Schreibzeug hervor und schickte sich an, die Quittung auszufertigen. Nach der ersten Zeile hielt sie inne. »Es ist wohl nöthig, in dem Reçu auch zu bemerken, für wen die vorausbezahlte Arbeit gehört, nicht wahr mein Herr?«

»Wie, ich habe Ihnen den Namen noch gar nicht genannt? – Ah, da seh' doch ein Mensch einmal an! – Und nun fällt er mir wieder nicht ein. So geht es einem alten Kopfe; von daheim bis hierher vergesse ich den Namen. Ich glaube doch die Adresse in die Tasche gesteckt zu haben. – Hab' sie auch zu mir gesteckt, aber nachträglich habe ich einen andern Rock angezogen. – Na, es hat weiter nichts zu sagen; ich will einen Sprung nach Hause machen und die Adresse holen. Ei ei – kann ich mir selbst eines Fürsten Namen nicht mehr merken! Nun ich eile nach Hause; in einigen Minuten bin ich wieder da.«

Damit schoß er zum Zimmer hinaus und lief auf und davon, als wenn er gestohlen hätte. Madame Corysande eilte ihm nach und rief die Treppe hinab: »Nehmen Sie doch das Geld an sich!«

Der Eisenkakadu besorgte, man werde ihn am Ende noch arretiren, wenn das Geschrei von Geld hinter ihm her fortdauere. »Ich danke, danke, Madame!« rief er zurück. »Ich nehme nichts. Entschuldigen Sie, aber ich darf kein Trinkgeld annehmen. Ich nehme nie Geld. Sie beleidigen mich damit.« Dank dieser List kam er unbeirrt die Treppe hinab. Jedermann dachte, der arme, charaktervolle Commis nehme vor einem Douceur Reißaus, welches man ihm geben wollte.

Das Geld hatte er also glücklich in die rechten Hände eskamotirt. Wo war aber die Nachricht geblieben, die er zu überbringen hatte? Nun, die sollte Madame Corysanden auch zu Ohren kommen. Sie wartete geduldig auf die Rückkehr des Commis: sie wartete bis Mittag; dann nahm sie die angefangene Quittung und sagte zu Livia, sie wolle zur ›schwarzen Rose‹ gehen.

In dem großartigen Etablissement kannte man Madame Corysanden bereits; sie kam häufig dahin, für eine Stickerin Arbeit zu suchen, und war ungehalten, wenn sie keine Aufträge bekam. »Nun mein Herr,« sprach Madame Corysande zu dem Chef des Geschäftes und legte die Quittung auf das Schreibpult – »sagen Sie mir doch, wie der verstorbene Fürst heißt, für dessen Leichenbegängniß Sie die Trauerrequisite liefern?« Der Chef der ›schwarzen Rose‹ nannte ihr bereitwillig den Namen. »Fürst Maximilian Etelvary.«

»Fürst Etelvary ist gestorben?« stammelte Madame Corysande. Sie verlor auf dieses Wort so sehr alle Besinnung, daß sie zur Thür des Comptoirs hinauslief und eine ganze Menge von Leuten vom Trottoir auf den Fahrweg hinabstieß, bis sie wieder so weit zu sich kam, um sich der vollen Wucht dieser Trauerkunde bewußt zu werden. Ihr erster, vernünftiger Gedanke, nachdem sie die Besinnung wiedergefunden hatte, war, zur ›schwarzen Rose‹ zurückzueilen. Der Chef des Geschäftes stand in der Thür. »Sie haben eine Quittung vergessen, Madame.«

»Jawohl,« erwiderte Madame Corysande in entschlossenem Tone, machte einen Riß in die Quittung und steckte die Hände in die Tasche. »Mein Herr, Fräulein Livia kann und wird den Trauerschleier für die Prinzessin Raphaela Etelvary nicht sticken – um keinen Preis. Ich gebe Ihnen das Geld zurück.«

Der Chef zog fragend die Schultern empor und steckte die Hände in die Tasche. »Von uns war Niemand bei Ihnen, weder mit einer Bestellung, noch mit Geld.«

»Wie? Ein alter Herr, ohne einen Zahn im Munde, mit weißem, in der Mitte gescheiteltem Haar und schwarzem Schnurrbarte.«

»Madame, meine Commis sind durchweg junge Leute und ihr einziges Malheur ist, daß sie weit mehr Zähne haben, als sie nach Wunsch zu beschäftigen vermögen.«

»Wer war denn aber dann der Mensch?«

»Irgend ein Gauner. Gehen Sie zur Polizei. Hat er Sie bestohlen?«

»Behüte! Im Gegentheil, er hat Geld bei mir gelassen.«

»Na, dann gehen Sie nicht zur Polizei.«

Madame Corysanden fuhr ein lichter Gedanke durch den Kopf. »Wer hat denn die Bestellung bei Ihnen gemacht?«

»Ich will sogleich im Fakturenbuche nachschlagen lassen. Bitte einzutreten, Madame. – Da steht der Name: Peter Dumka, herrschaftlicher Güter-Director; wohnt im fürstlichen Hotel.«

»Ich danke mein Herr.« Damit eilte sie fort.

Madame Corysande traf Herrn Dumka zu Hause. Er war ganz in Trauer gekleidet, noch seit dem Tode der Fürstin her. Auch Madame Corysande trug noch Trauer um diese Letztere. »Ach liebe Madame Corysande, sehen Sie nur, was für Trauertage wir nun wieder erleben. Der Fürst ist todt.«

»Er ist glücklich, denn er ist wieder mit Derjenigen vereint, die er geliebt hat,« bemerkte Madame Corysande, eine Anschauung, welcher Herr Dumka nur zum Theil beipflichtete.

»Im Himmel sind sie sicherlich bereits vereint, hier auf Erden aber wird es Zeit und Mühe kosten, bis sie nebeneinander ruhen. Von Helgoland bis Etelvar ist ein langer Weg.«

»Die Leiche des Fürsten soll also nach Etelvar gebracht werden?«

»Natürlich; in die Familiengruft. Dort findet die Trauerfeier statt. Die Ceremonie wird in höchst einfacher Weise vor sich gehen.«

»Aber desto prächtiger werden die Toiletten sein. So viel ich weiß, kosten die Stickereien an dem Trauerschleier der Prinzessin allein viertausend Francs.«

»Ah das ist Stadtgeschwätz. Ich weiß davon nichts.«

»Ich habe aber doch selber mit dem Herrn gesprochen, der die Arbeit bei einer meiner Bekannten bestellt hat. Er hat auch den Betrag sofort ausbezahlt.«

»Von mir hat er das Geld dazu nicht bekommen.«

Madame Corysande beschrieb Herrn Dumka den kleinen alten Herrn vom Kopf bis zu den Füßen. »In meinem Leben habe ich ein solches Männchen nicht gekannt. Zahnlos mit gescheiteltem Haar à la bon enfant! Muß sonderbar genug ausgesehen haben, der Mann!« Herr Dumka wußte also auch von nichts.

Nun begann Madame Corysande allmälig auf die richtige Spur zu gerathen. Sie schöpfte auf Leon Verdacht. »Vielleicht hat die Prinzessin die Bestellung selbst gemacht?«

»Nicht doch, Madame; die Prinzessin ist viel zu viel von Schmerz und von Furcht occupirt; sie muß zu Schiff mitten durch die Blokade hindurch und kann möglicherweise auch noch gefangengenommen werden. Sie hat andere Dinge im Kopfe als ihre Trauertoilette! Uebrigens liebt sie ja überhaupt die Einfachheit.«

»Ist ihr denn Niemand entgegengereist, um sie nach Hause zu geleiten?«

»O doch. Der selige Fürst hat in einem eigenen Schreiben Herrn von Zarkany um diesen traurigen Dienst ersucht.«

»Und ist Herr von Zarkany abgereist?«

»Heute habe ich ein Telegramm aus Hamburg von ihm erhalten, in welchem er mir anzeigt, daß er sich auf einem englischen Dampfboote, der ›Waternymph‹ eingeschifft habe, um die Leiche des Fürsten und seine Familie zu holen.«

Da hatte nun Madame Corysande mit einem Male so Vieles erfahren, daß ihr der Stoff zum Nachdenken auf dem ganzen Wege bis in ihre Wohnung nicht ausging, obgleich sie diesen Weg zu Fuße machte. Ueber die Hauptsache freilich: wer das Geld und die Bestellung geschickt haben mochte? war sie jetzt erst recht im Dunkel. Ihre verweinten Augen verkündeten ihr Geheimniß schon von Weitem. Welche der beiden Trauernachrichten sollte sie Livien zuerst mittheilen? Den Tod des Fürsten oder die Abreise Leons?

Die eine muß dem armen Herzen eine tiefe Wunde schlagen, die andere wird ätzendes Gift in dieselbe träufeln.

»Armes, armes Mädchen!«

Mit diesen Worten stürzte sie daheim zur Thür hinein, warf sich Livien an den Hals und weinte zunächst eine Strophe. Dann erst erzählte sie die Geheimnisse, in der Reihenfolge, wie sie sie selber vernommen hatte. Das Mädchen hörte mit staunenswerther Seelenruhe zu. Madame Corysande bewunderte sie. Livia ließ den angefangenen Schleier in den Schooß fallen und die Hände auf den Schleier sinken. Sie starrte schweigend das dunkle Gewebe an. Dann seufzte sie tief auf, faltete den Stoff zusammen und legte ihn weg. Sie preßte beide Hände wider das Herz und sprach: »Gott verleihe ihnen seinen Segen!«

»Was wollen Sie nun beginnen?«

»Ich will der Prinzessin den Brautschleier sticken ...«

*


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