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Ein Narrenglück.

Leons dringendste Sorge war nunmehr, seine Wechsel zu Gelde zu machen, und dann die Bürde dieses Geldes wieder los zu werden. Zu diesem Behufe mußte er vor Allem seinen Eisen-Kakadu aufsuchen, dem er das unbequeme Fideikommiß zurückzustellen hatte. Der Mann war anderwärts kaum zu finden, als in der Hofkanzlei. Leon dachte, der Portier daselbst werde ihm wohl Auskunft zu ertheilen wissen.

An der Ecke der Bankgasse angelangt, fühlte er plötzlich, wie ihm Jemand um den Hals fiel und ihn von rechts und von links küßte und herzte; er blickte auf und erkannte – seinen Eisenkakadu.

Der Alte war tadellos als vollendeter Cavalier gekleidet. Er trug einen weißen Figaro aus dem Kopfe, einen blauen Frack und porzellanfarbige Inexpressibles am Leibe.

»Servus Leonchen, Bruderherz! Gottwillkommen! Wohin des Weges? In die Hofkanzlei, wie? Bleib Du für jetzt weg von dort.«

»Ich wollte ja eben nur hinauf, um Dich zu suchen. Nachdem ich Dich nun hier getroffen habe, so hat es weiter keine Noth: ich lasse die schöne grüne Petersilie unzertreten, die an der Schwelle der Hofkanzlei wuchert.«

»Nun denn, wenn Du ungestört plaudern willst, so komm' mit mir; ich weiß da unten in der Rothenthurmstraße ein gemüthliches Wirthshäuserl, wo man superbe Beefsteaks und ein herrliches Gläschen Wein bekommt. Dort wollen wir uns in ein kleines Extrazimmer zusammensetzen und discouriren nach Herzenslust; dort stört uns Niemand.« Der alte Herr war ein ganz gewaltiger Gourmand.

Leon war es zufrieden und sie gingen hinter einander her. (Die Gassen der inneren Stadt Wien sind nämlich dadurch bemerkenswerth, daß zwei Bekannte, die mit einander gehen wollen, vor- und hintereinander gehen müssen; Arm in Arm gehen nur Leute, denen es ein absonderliches Vergnügen macht, Rippenstöße zu empfangen. Leute die hier versirt sind, spazieren meist in der Weise, daß der Eine auf dem rechten, der Andere auf dem linken Trottoir der Gasse geht.) Erst am Eingange des kleinen Gasthauses trafen die Beiden wieder zusammen. Der kleine alte Herr schien hier bereits ganz einheimisch zu sein: das Kellnerpersonal empfing ihn mit eigenthümlichem, vertraulichem Lächeln. Es hatte den Anschein, daß er ein Geschäft daraus machte, fremde Gäste hierher zu bringen.

»Jean! Sperren Sie Nummer 4 auf. Hernach zwei Beefsteaks englisch. Du hast sie doch auch gern englisch, Leon, wie? Pikant, wie ein Epigramm! Und keine Kartoffeln dazu. Kartoffeln machen dumm. Kartoffeln sind nichts weiter, als eine riesige Lüge, mit der sich die Leute den Magen betrügen. Fleisch ist Nahrung, alles Andere ist Formalität.«

Mittlerweile war das kleine Kabinet aufgeschlossen worden. Der Eisenkakadu zog Leon mit sich hinein. Der Tisch wurde gedeckt und alsbald präsentirte sich auch der faustgroße Knirps, der den Gästen Wein und Bier zuzutragen pflegt. »Na Relli, was macht denn Deine Geliebte? Was bringst Du uns denn heute? Eine Bouteille Chablis zum Vorstimmen, wie? Oder ist Dir Liebfrauenmilch lieber, Bruderherz? Oder vielleicht Steinheimer Kabinet? Oder versuchen wir's mit Chateau Margaux?«

»Hör' einmal, Alterchen, bestelle Du keine theuren Weine, denn ich muß behutsam umgehen mit dem Gelde.«

»Ah!« – Der alte Herr war ganz erstaunt. – »Na, da bringst Du uns also zwei Pfiff Vöslauer, mein Junge,« sagte er zu dem Kellnerburschen.

Als sie allein waren, beugte er sich über den Tisch zu Leon hinüber und sprach flüsternd: »Donnerwetter! so lustig hast Du in Paris gewirthschaftet, daß Du schon schwarz bist?«

»Das weniger. Im Gegentheil, ich habe die ganze Summe zurückgebracht. Ich habe Dich eben zu dem Zwecke aufgesucht, um sie Dir wiederzugeben. Hier ist sie.« Damit nahm er das Packet aus seiner Brieftasche und legte es vor den alten Herrn auf den Tisch hin. Der Ex-Diplomat schüttelte energisch den Kopf und zuckte die Achseln. »Ich bitte Dich, was soll das heißen? Ich verstehe keine Silbe davon.«

»Es ist das Geld, welches Du mir gegeben hast, und das ich Dir jetzt zurückbringe.« Der alte Herr schlug mit beiden Händen auf den Tisch und lachte so unbändig, daß er dadurch verrieth, daß seine beiden Zahnreihen falsch waren. »Na, das ist aber eine gute Geschichte! So hat mich doch noch nie Jemand zum Besten gehalten, seit ich auf meinen zwei Beinen stehe! Ich bitte Dich, wo willst Du den Menschen suchen, der Dir glaubt, wenn Du ihm sagst: ich hätte Dir eine solche Unmasse Geld gegeben? Du müßtest höchstens im Stande sein, Schwarz auf Weiß eine Gegenquittung zu produziren.«

Das Gespräch erlitt hier eine Unterbrechung, denn eben trat der kleine Relli mit den bestellten zwei Pfiff Wein in die Stube. Ein riesiges Glas, dessen Boden etwa zwei Finger hoch mit Wein bedeckt ist: das nennt der Wiener einen »Pfiff« Wein; er füllt sich das Glas bis an den Rand mit Wasser und bleibt hübsch nüchtern dabei.

»Was soll das?« fuhr der alte Diplomat auf. »Du Pagat Ultimo von einem Kellnerbuben, mit zwei Pfiff Wein willst Du uns traktiren? Hast Du mich denn nicht verstanden? Habe ich Dir nicht gesagt, zwei Flaschen Chablis und eine Liebfrauenmilch sollest Du bringen? Deinen Vöslauer da magst Du selber trinken!«

Der kleine Ganymed sah ihn verdutzt an. Der alte Herr nahm das Paket Banknoten vom Tische und blätterte es dem kleinen Relli vor der Nase auf. »Hast Du in Deinem Leben schon so viel Geld auf einem Haufen bei einander gesehen – he? Das Alles gehört mir.« Bei diesen Worten vergaß der Bursche alle Ehrerbietung, brach in ein lautes Gelächter aus und lief so ausgelassen hastig davon, daß er beinahe die Thür mit fortgenommen hätte.

»Na, lieber Leon, nun gieb einen Fünfer davon her und das Uebrige stecke wieder ein.«

»Lieber Alter,« sprach Leon, »ich bin derzeit durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt. Im Gegentheil, mir ist, als ob ich mich aufmachen müßte, um an allen Ecken und Enden aller Welt die Wahrheit zu sagen, bis man mich irgendwo todtschlägt. Laß also alles Komödiespielen bei Seite. Du hast mir diese Summe Geldes zu dem Zwecke übergeben, damit ich sie bei einer diplomatischen Sendung als Mittel gebrauche; ich habe diese meine Mission nicht erfüllt, es ist sonach nur natürlich, daß ich Dir das Geld zurückstelle – ich lasse mich nicht aus dem Dispositions-Fonds erhalten.«

»Ich schwöre Dir, daß dieses Geld nicht aus dem Dispositions-Fonds herrührt.«

»Mag es wo immer herrühren, – ich habe die Aufgabe, zu deren Lösung es verwendet werden sollte, eben nicht gelöst.«

Der alte Herr biß sich auf die Lippen und lächelte. Dann gab er Leon einen Klaps auf die Hand und sagte: »Du hast Deine Aufgabe sehr gut gelöst. Sei so gut und laß mich ausreden. Du kommst soeben vom Lande, aus der Einöde, aus einer Gruft, wie? Du weißt so gut als gar nichts von Allem, was seither vorgegangen ist. Du hast ja ein Meisterwerk geliefert, Du Genie Du! Du Glückskind! Ja, ja, ein wahres Sonntagskind bist Du! Du hast Alles vollführt wie ein Seher, – Du hast Dich ja als wahren Hexenmeister erwiesen. Du bist offen, mit vollem Eifer Deiner Mission gerecht geworden: die Diplomaten, in deren Hand die Geschicke der Welt gegeben sind, durch ›wahrheitsgetreue‹ Schilderung der Lage zur Friedfertigkeit, zur Nachgiebigkeit zu stimmen. Du hast keinen Weg, kein Mittel unversucht gelassen. Du hast Dich auf jenem schlüpfrigen Parquet so recht als ebenbürtiger Gegner Deiner Widersacher bewegt, – Zeugniß dessen, daß das gegnerische Lager allenthalben geschäftig war, Deine Anschauungen zu widerlegen, die Stimmung, welche Du zu Stande gebracht hast, zu paralysiren, die Lage in ›falschem‹ Lichte erscheinen zu lassen. Was nur immer menschenmöglich war, hast Du redlich gethan und zwar mit vieler Findigkeit. Du hast Memoranden geschrieben, in den Journalen Korrespondenzen veröffentlicht, hast Dich mit entfernten Prinzipiengenossen ins Einvernehmen gesetzt, nach allen Richtungen hin Verbindungen angeknüpft, hast selbst bei den Friedensmeetings der Arbeiter Reden gehalten. Deine Emissäre durchwanderten das ganze Land, Deine Berichte über jedwede Frage waren pünktlich und wahrheitsgetreu. Der meisterhafteste, der genialste von allen Deinen Einfällen aber war der – Paris so urplötzlich zu verlassen. Du hattest offenbar Wind bekommen von den Dingen, die sich überall vorbereiteten. Daß zwischen den zwei Mächten, welche die Idee des Kampfes auf Leben und Tod bereits zur ›nationalen Ehrenfrage‹ erhoben hatten, von friedlichem Einvernehmen nicht mehr die Rede sein könne, darüber mußtest Du nachgerade bereits im Klaren sein. Auch das sahest Du voraus, daß die Einmischung auch nur eines einzigen dritten Staates in diesen fürchterlichen Kampf ganz Europa in Feuer und Flammen setzen müßte, und nicht minder war Dir klar, daß Dein armes, kleines, eben in der Regeneration begriffenes Vaterland am allerwenigsten Ursache habe, diese Feuerprobe zu bestehen. Worauf aber die Strebungen der Anderen abzielen, das sahest Du vor Augen. In so kritischen Zeiten entscheidet nicht menschliche Meinung, nicht die Wahrheit, nicht die Logik, sondern die Ereignisse, die großen Zufälligkeiten der Weltgeschichte.«

Leon hörte mit Erstaunen, wie ein Anderer seinen eigensten Gedanken Worte lieh.

»Der Gang der ganzen Geschichte war doch folgender: Am 7. Juli empfingst Du das Telegramm, in welchem von Wien aus das Gerücht von der Mobilisirung der Artillerie dementirt wurde. (Nun, wie derlei amtliche Dementis gelesen sein wollen, das weiß am Ende alle Welt.) Am nächsten Tage reiste Prinz Alienor Nornenstein nach Süddeutschland ab; an demselben Tage Abends traf Fürst Oktavian Nornenstein in Paris ein. Dir sagte man freilich, er sei lediglich gekommen, seine Schwiegertochter zu besuchen, Du wußtest ganz wohl, daß es ihm einzig und allein dringend darum zu thun war, eine große Anleihe abzuschließen, ohne welche die Liga nicht in die Action treten konnte. Er mußte über Paris nach Brüssel gehen, denn in Deutschland war seine Personsbeschreibung derzeit schon ein gesuchter Artikel. – Damals war alle Welt am auffälligsten bemüht, Dir zu schmeicheln; man arrangirte Dir zu Ehren Soiréen, schöne Weiber stellten Dir süße Schäferstunden in Aussicht. Man hatte eben noch für einige Tage Deine Thätigkeit im Interesse des Friedens nöthig; man brauchte Dein von felsenfestem Vertrauen strahlendes Gesicht, aus dem die Matadore der Finanzwelt den hellen Sonnenschein prognosticiren konnten. Aber Du wußtest ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Du wurdest um eine Woche früher gewahr, daß Deine Politik gefallen sei, bevor es noch eigentlich geschehen war. Natürlich bekamst Du ganz a tempo einen – zwar völlig indifferenten – Brief, den man Dir aber absichtlich und ostentativ in die Soirée nachtrug; Du lasest und erklärtest, Du müssest augenblicklich nach Hause reisen. Wie meisterhaft war diese Scene gespielt! Die ganze Gesellschaft hing an Deinem Angesichte! Man las die Worte der Depesche aus Deinen Mienen, von Deiner Stirne. Du wurdest bleich; Deine Lippen bebten; ein tiefer Seufzer entrang sich Deiner Brust. Jedermann erkannte klar und unbestreitbar, man mußte Alles das dahin deuten, daß Du gefallen seiest. – Nicht Du allein, sondern die ganze Mission, welche Dir übertragen war. Offenbar hatten Deine Feinde die Oberhand behalten, ihre Projekte waren in der Verwirklichung begriffen. Und Du triebest die Meisterschaft in Deiner Kunst noch überdies so weit (davon ganz abgesehen, daß Du im gegebenen Augenblicke mit einem Male heiser zu werden wußtest), daß Du ein Rendezvous mit einer sehr schönen Göttin fallen ließest, was ein Anderer in Deiner Lage wohl kaum gethan haben würde. Damit hattest Du die Illusion vollkommen gemacht. Als Du fort warst, räucherte man hinter Dir den Saal mit Carbolsäure aus, so stark war der Leichengeruch des gefallenen Diplomaten nach Dir zu spüren. Und doch konnte in dem Briefchen Alles in Allem kaum etwas Anderes gestanden haben, als: ›Fifine läßt Dich grüßen, – es ist ihr das Kleingeld ausgegangen.‹ Ich erinnere mich ganz wohl der Duenna, die das Briefchen ins Bureau brachte und bat, man möge es Dir nachschicken › ibi, ubi‹, da Dein Aufenthaltsort augenblicklich unbekannt sei. Sie wollte nicht einmal ihren Namen, noch auch ihre Wohnung nennen. Aber ich weiß nunmehr doch, wo sie wohnt.«

»Was Du weißt, behalte für Dich!« fiel ihm Leon hastig in die Rede.

»Wohl, wohl, ich verstehe,« sprach der Eisenkakadu mit pfiffigem Augenzwinkern. »Muß ein allerliebstes, ordentliches Mädchen sein, die Kleine. Ich habe sie zwar niemals zu Gesichte gekriegt, habe aber auf alle meine Erkundigungen die Auskunft erhalten, daß sie äußerst solid und wohlanständig lebe; sie geht niemals aus, arbeitet den ganzen Tag über, ja selbst bis spät des Nachts und empfängt Niemanden. Briefe bekommt sie absolut keine, also auch von Dir nicht. Das Letztere ist nun allerdings ein wenig grausam; indessen, – Du hast Recht: nichts kann ewig währen. Ich weiß Alles, ich erkenne alle Deine Wege. Du hast Deine Rolle, bis in die kleinsten Details ausgearbeitet, durchgeführt. Damit, daß Du Paris plötzlich verließest, ohne von irgend Jemandem Abschied zu nehmen, war noch bei weitem nicht Alles zu Ende. Auf der ganzen Heimreise folgten Dir Schritt für Schritt immer und überall gewandte und aufmerksame Beobachter – Deine simulirte Desperation ließ Dich auch nicht einen Moment im Stiche. Ein Meisterstreich aber war es insbesondere, Wien nicht einmal zu berühren. Damit hattest Du Deinen Sturz so zu sagen dokumentirt; von Gänserndorf ab konnte darüber weiter kein Zweifel mehr obwalten. Gleichwohl folgte man Dir noch immer weiter. Als Du im Posthause zu Dancsvar an Deinen Chef schriebst (es war eine Resignation so bitter und trocken, als nur immer möglich), war Jemand im Nebenzimmer verborgen, der Dir mit Hülfe eines Opernglases aus der Ferne die Worte aus der Feder las. Selbst auf den Weg nach St. Helena hinaus hatte man Dir einen Begleiter an die Seite gegeben und später wußte man genau, daß Du ganze Tage auf der Jagd verbringst und Abends ohne Wild zurückkehrst, daß Du Briefe weder schreibst noch empfängst. Kurz und gut, Du hast Deine Gegner in der vollendetsten Bedeutung des Wortes – zu Narren gehalten.«

Leon hörte und staunte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie dasjenige, was er in seiner Verzweiflung gethan oder nicht gethan hatte, sei es in Gestalt einer That, sei es in Form einer Unterlassung, zu einem weltgeschichtlichen Motor werden konnte.

Der alte Diplomat erwies, trotzdem er ohne Unterlaß redete, gleichwohl dem Frühmahle und den vorzüglichen Weinen alle Ehre. Während er gemüthlich das goldene Naß schlürfte, sprach er mit vollem Wohlbehagen:

»Wahrhaftig, ein gutes Gläschen Rheinwein ist mehr werth, als der bestgefestete Rheinbund. Pah! Aber Du, Lieber, Du hast in der That schweigen gelernt. Was Du mir bisher von allen Deinen Erfahrungen im Auslande mitgetheilt hast, würde mir von einem Zeitungsschreiber keine drei Sechser eintragen. Und umgekehrt, von mir etwas zu erfahren, trägst Du gleichfalls kein Verlangen. Bist Du denn nicht neugierig zu hören, wie sich Jemand befindet, der Dich interessirt? Zum Beispiel – ein kranker Mann?«

»Fürst Max von Etelvary!«

»Wohl. Ihn meine ich. Ich denke, Du erkundigst Dich nur deshalb nicht bei mir nach ihm, weil Du ihn selber zu besuchen gedenkst? Je nun, dazu ist es zu spät; er ist gestern sammt der schönen Prinzessin verreist.«

»Wohin?«

»Weit, mein Freund: nach Helgoland. Und er wird schwerlich mehr zurückkehren. Er hat die letzten Tage in ununterbrochener Aufregung verbracht, er hat all seine Geistes- und Körperkräfte bis aufs Aeußerste angespannt, um die Politik des Krieges zu Falle zu bringen. Er war für sich allein ein Heerlager, welches einem Feldzuge die Stirn bot. Er hatte heftige Auftritte mit den Nornensteins, und nur die Intervention hochgestellter Persönlichkeiten vermochte ein bewaffnetes Rencontre zwischen den beiden Herren hintanzuhalten. Es ist Dir wohl bekannt, womit Nornenstein die Nothwendigkeit zu motiviren suchte, die Verlobung seines Sohnes mit Prinzessin Raphaela zu lösen? – Nebenbei gesagt, eine Beleidigung, wie man sie so leicht nicht zu vergeben pflegt. Was den Prinzen anbelangt, so hatte er der Prinzessin sehr gern den Hof gemacht, noch weit lieber aber, wie mir schien, ihrer Gesellschafterin. Diese, ein allerliebstes Kind, wurde das alsbald gewahr und dachte sich eine eigenthümliche Vertheidigungs-Methode aus. Sie hatte eine prachtvolle weiße Katze; so oft ihr Prinz Alienor in die Nähe kam, nahm sie das Thier auf den Arm. Den Prinzen aber wandeln bekanntlich alle möglichen Zustände an, wenn er eine Katze sieht. Der Katzen wegen sah er sich genöthigt, sein Verhältniß zu lösen. Fürst Maximilian ließ die Entschuldigung gelten. Um Dich aber hat er sich häufig erkundigt. Er nahm Tag für Tag Einsicht von Deinen Depeschen und war stets sehr befriedigt von denselben. Als man ihm die Nachricht brachte, Du seiest plötzlich aus Paris verschwunden, hörte man ihn plötzlich hell auflachen. Das war ein genialer Einfall, rief er ein- um das anderemal aus. Es war sein letztes Lachen im Leben gewesen. Die Ereignisse, die nun in rascher Folge hereinbrachen, gaben seiner Auffassung Recht. Nornenstein kam re infecta zurück; Alienor flüchtete irgendwo hin in die Schweiz und ist so zu Tode erschrocken, daß er den Heimweg durch die Türkei nehmen will. Seine Frau sitzt in Paris. Von Falbenheim hörte man vierzehn Tage lang nichts Anderes als giftiges Zähneknirschen und den Jammerruf: »Kein Mantel gerollt, kein Gamaschenknopf an seiner Stelle!« Der ganze Spaziergang ins Feld mußte unterbleiben. Fürst Etelvary aber sagte: »Unser Werk ist gethan!« Und damit brach er zusammen. Der Kampf hatte seine Lebenskraft aufrecht erhalten, der Sieg machte beiden ein Ende. Sein Arzt drängte ihn, je eher nach Helgoland zu gehen. Er wartete von Tag zu Tag – auf Dich. Er fand es zwar für vollkommen klug gehandelt, daß Du Dich sorgfältig von aller Welt zurückzogst, in den letzten Tagen aber wurde er nachgerade bereits ungeduldig darüber, daß Du noch immer nicht zum Vorscheine kamst. An Dich schreiben, das ging nicht an: es würde sofort alle Welt erfahren haben. Gestern nun bestand das ärztliche Consilium mit aller Entschiedenheit darauf, daß er sich endlich zur Reise entschließe; er reiste ab und ließ einen Gruß an Dich zurück.«

»Ist es noch möglich, nach Helgoland zu gelangen?«

»Die französische Flotte ist zwar bereits in See gegangen, aber dessen ungeachtet findest Du in Hamburg oder in Bremerhaven wohl noch immer ein neutrales Schiff. Uebrigens thust Du für den Augenblick besser, wenn Du nirgends hingehst. Gieb mir Deine Adresse, damit ich Dich erforderlichenfalls zu finden wisse. Ich will Dir dafür etwas Anderes geben: die Adresse der kleinen Näherin, von der Du nichts wissen willst. Na na na! Nur immer hübsch ruhig Blut! Ich will sie in ein Couvert schließen und Dir versiegelt übergeben. So lange Du willst, brauchst Du das Ding nicht zu öffnen. Aber es kann auch kommen, daß es Dir lieb wäre, zu wissen, wo sie wohnt und dann hast Du die Adresse bei der Hand. Weißt Du, mir thut die Aermste leid; ich denke, Du wirst sie doch nicht so ohne weiteres verlassen wollen, ohne für sie zu sorgen. Mittel und Wege wirst Du wohl zu finden wissen – bist ja Cavalier durch und durch. – Nun, wie ist's? Willst Du das Papier haben? Oder soll ich mir die Cigarre damit anbrennen?«

Leon war diesem Menschen gegenüber keiner Verstellung fähig. Seine Lippen bebten, die Zunge versagte ihm den Dienst, als er sagen wollte: »Deine Entdeckung kümmert mich nicht.«

Er steckte das Couvert zu sich, welches das Blatt enthielt, aus dem er erfahren konnte, wo Livia wohne. Einen Tag und eine Nacht lang vermochte er es über sich, das Couvert nicht zu öffnen, und nicht wenigstens bis an das Hausthor zu gehen, um dort so lange herum zu lungern, bis er sie an einem der Fenster erblicken würde. Schon am nächsten Tage aber drohte ihm die Versuchung über den Kopf zu wachsen und er fand sehr zu besorgen, daß er schließlich sein gegebenes Wort noch mit Füßen treten werde; wenn er sich nicht selber mit einer neuen Idee zu Hülfe käme. – Er fand auch diese. –

Bis zum nächsten Morgen hatte sich Leon seinen Plan gemacht, was er die Woche über treiben wolle, bis ihm Madame Corysande von Livia Bescheid bringen würde.

Weit entfernt von hier, hinter jenen Gebirgszügen im Osten, wohnt eine glückliche Familie, die er in Verzweiflung zurückgelassen hatte, als er mit den Worten geschieden war, er wolle ihnen den Boden unter den Füßen, das Dach über dem Kopfe weg verkaufen. Die Thränen der Leutchen müssen getrocknet werden.

Er konnte nunmehr mit all dem Gelde frei verfügen, welches er bei sich trug; er durfte wohl hoffen, daß es ihm gelingen werde, gegen erklecklichen Gewinn sein Erbgut von dem Käufer zurückzulösen und dann mögen die neun Blondköpfe wieder wie früher Hand in Hand im Kreise singen: »Röslein, Röslein, Röslein roth.«

Mit Windeseile, wie es nur diplomatische Couriere zu Stande bringen, wenn sie Tag und Nacht ohne Aufenthalt ihre, die Geschicke von Völkern und Nationen entscheidenden Depeschen durch die Lande befördern, reiste Leon mit der frohen Kunde nach St. Helena zurück, die einer bescheidenen Familie ihre Glückseligkeit wiedergeben sollte. Er mochte unterwegs bei Löw Hirsch nicht einsprechen. Er wollte vor Allem seinen Gevatter mit der Neuigkeit erfreuen und eilte dem Gütchen zu. Durch die wohlbekannten Waldgründe lief ihm der Bach entgegen, allein das Wasser war heute so schmutzigroth gefärbt und die winzigen grünen und silberweißen Fischchen, deren Schatten sonst über den Kies des Bettes dahinhuschten, wenn die Sonne auf das Wasser schien, die spielten heute nicht in den Wellen. Gewiß hatte der neue Besitzer sich beeilt, das Gut auszunützen und hatte irgendwo Eisenerze aufgeschürft; nun trübten Rost und Schlacke den hellen Krystall des Baches. In der Nähe des Dorfes, wo der Weg thalwärts führt, stieg Leon selber ab, um den Hemmschuh an das Wagenrad zu legen und ging dann zu Fuß auf dem grasbewachsenen Seitenpfade neben dem Fuhrwerk her.

Als er an den kleinen Hügel gelangte, auf dem der Gottesacker lag, von dessen Hange ihm vor Kurzem der Schwarm der jauchzenden Kinder entgegengestürmt war, kam unsicheren, schwankenden Schrittes ein Mann, mit einer Haue auf der Schulter, den Fußsteig daher. Leon hatte Mühe, seinen Gevatter Seregely zu erkennen. Der Alte war ohne Frage ein tüchtiger Landwirth; daß er aber selber mit der Haue ins Feld ging, schien denn doch recht sonderbar. Sein Gesicht war so ganz verändert, als ob er gar nicht er selber wäre.

»Heda Gevatter!« rief ihn Leon an; »wo hinaus denn mit der Haue?«

Den Mann wandelte ein Husten an, als ob ihm das Wort nicht aus der Kehle wollte. »Da am Friedhofe war ich gewesen; hab den Grabhügel meiner Kleinen aufgeworfen.«

»Ah!« rief Leon betroffen aus. »Doch nicht die kleine Mariska?«

»Ja wohl, das kleinste. Sie war die letzte.«

»Die letzte? Mensch! Was redest Du da? Du willst doch nicht etwa sagen, die Kinder seien alle gestorben?!«

»Alle neun liegen sie hier unter dem Rasen.«

»Ja bist Du denn verrückt geworden? Vor acht Tagen noch haben sie alle frisch und gesund da um mich herumgetanzt.«

»Ja wohl. Und seither lagen Tag für Tag immer zwei neben einander im Sarge. Sind alle schön paarweise herausgewandert. Nur das letzte ist allein gekommen.«

»Ach geh doch, Du willst mich erschrecken! Was soll denn der gottlose Scherz! Seregely, so nimm doch Vernunft an, rede nicht so verrückt, sonst ... weiß Gott!« Leon hob die Faust, als ob er den Alten schlagen wollte. »Verrückt meinen Sie? Nun kommen Sie mit; es ist nicht weit hin; Sie können selber sehen.«

Und dann sprach er kein Wort weiter; er ging voran nach dem Friedhofe, Leon folgte ihm auf dem Fuße. Drüben am andern Ende, hinter den Gassen der alten, grasbewachsenen Gräber, erhob sich eine Reihe neuer, frisch aufgeworfener Grabhügel: vier größere und ein kleiner. An jedem stand zu Häupten das Grabkreuz: an vieren ein Doppelkreuz. »Lesen Sie! Sie haben ihnen selber die Namen gewählt: da stehen sie nun alle aufgeschrieben.«

Leon stand erstarrt vor den Gräbern. »Wie ist denn das gekommen?«

»Ich bin selber schuld daran,« sagte der Vater und fuhr sich mit der flachen Hand über die schweißtriefende Stirne. »Als Sie fort waren, ging ich in sündhafter Verzweiflung in die Kammer, wo sie schliefen und rief: »Mein Herr und Gott, wenn Du ihnen das tägliche Stückchen Brod von den Lippen genommen hast, so nimm sie nun selber auch zu Dir!« Er hat das Wort gehört. Des andern Tages brach im Dorfe das Scharlach aus, und acht Tage später waren neun Bettler weniger auf der Welt.« Leon vermochte kein Wort zu reden. Er wandte sich ab und ging. Als sie auf den Fußpfad gelangten, der vom Friedhofe nach dem Dorfe führte, faßte Seregely seine Hand. »Lieber, guter, gnädiger Herr, gehen Sie nicht so zu uns hinein. Betreten Sie dieses Haus nicht in diesem Augenblicke. Wozu wollen Sie denn das Weib sehen in seinem Jammer? Ich selber streife den ganzen Tag im Walde herum, um nicht mit anschauen zu müssen, was sie thut und treibt, und nicht zu hören, was sie redet, wie sie weint und singt, ohne Unterlaß. Bleiben Sie fort, es würde Ihnen wehe thun.«

Leon drückte ihm die Hand. »Nicht so, lieber Gevatter. Ich war es, der Euch betrübt hat, meine Pflicht ist es auch, Euch zu trösten. Es ist mein Schicksal, welches Euch schlägt. Es weiß es wohl, daß mich der Schlag nicht schmerzt, den es wider mich selber führt, daß es mich nur treffen kann, wenn es diejenigen schlägt, die ich liebe.«

Er ließ die Hand des Mannes nicht wieder los, bis sie an das Haus gelangten. »Wo ist die Frau?« fragte er.

»Wo sollte sie sonst sein!« erwiderte der Wirthschafter und öffnete die Thür, die nach der Kammer führte, wo die vier Bettchen standen. Die Frau saß auf dem Bänkchen am Ofen, neben sich hatte sie paarweise die kleinen Schuhe der neun Kinder stehen. Sie bürstete daran emsig und machte sie glänzen. Das neunte Pärchen, das kleinste, war aus Wolle gestrickt, mit rothem Bande geziert; sie band die rothen Maschen auf und wieder zu und ordnete die Schuhe alle schön der Reihe nach neben sich hin, und als sie damit zu Stande war, begann sie wieder von neuem. Dabei schaukelte sie mit dem Fuße behutsam eine Wiege und sang leise ein Schlummerlied dazu.

»Liebe Frau Gevatterin!« redete Leon sie an und trat an ihre Seite. Sie hörte ihn nicht und gab ihm keine Antwort.

»Da mag reden, wer da will, gnädiger Herr – sie hört nicht,« sagte der Mann. »Bei den ersten acht weinte sie sich fast zu Tode; als auch dann das neunte von dieser entsetzlichen Krankheit ergriffen war, da wurde sie wie wahnsinnig. Sie nahm den armen Wurm in den Schooß und barg ihn in den Armen. Sie haderte mit Gott und sagte: das eine, das letzte, das gebe sie ihm nicht hin. Wir durften ihr kein Feuer und kein Messer im Bereich der Hände lassen, sie wollte morden und sengen. – Endlich hat sie doch das letzte auch hingeben müssen.«

»Warum habt Ihr denn keinen Arzt rufen lassen?«

»Woher sollen wir denn hier einen Arzt nehmen? Und dann – was will der Arzt machen, wo Vater und Mutter selber mit dem lieben Gott gehadert haben, warum er ihnen so viele Kinder schicke?! Es hat so kommen müssen.«

Die Mutter stand auf, ohne zu den Männern zu reden, sie ging in den Garten hinaus und las von dem Rasen die Aepfel auf, die vom Baume gefallen waren; sie füllte ihre Schürze damit, kam wieder in die Stube zurück und vertheilte die Aepfel; sie legte sie auf die Kissen der leeren Bettchen, je einen rothen und einen gelben auf jedes Kissen, recht und gerecht jedem Einzelnen zugetheilt, damit es darob keinen Streit gebe unter den Kleinen. Leon vermochte dem Thun der Frau nicht länger zuzusehen. Er ging in das Schreibzimmer hinüber und rief Seregely mit sich.

In dem Zimmer war Alles an seiner Stelle, wie ehedem, nur die Bilder, Leons Handzeichnungen, waren von den Wänden genommen.

»Die Bilder habe ich herabgenommen,« sagte Seregely: »die braucht der Löw Hirsch wohl nicht mit in den Kauf zu kriegen.«

»Aus dem Handel wird nichts,« sagte Leon. »Ich will die kleine Besitzung niemals verkaufen; ich kaufe sie zurück und setze Dich als Pächter hier ein für zeitlebens; Du sollst hier Alles als Dein eigen betrachten. Ihr seid Beide noch jung – die Zeit wird Euren Schmerz heilen.«

»Armes Lieschen! Bis zum letzten Augenblicke wollte sie sich das schöne Portrait nicht wegnehmen lassen. Sie verlangte, damit begraben zu werden.«

»Fluch über das schöne Portrait! Fluch über das lebendige Urbild!« rief Leon leidenschaftlich erregt und faßte Seregely an beiden Schultern um ihn aus seinem Hinbrüten aufzurütteln. – »Mensch! Sei ein Mann und finde Dich selber wieder. Du warst ein gottesfürchtiger Mann Dein Leben lang. Du kennst die heilige Schrift, Du kennst die Geschichte Hiobs. Der Herr hatte ihm Alles genommen: seine Habe, seine Kinder, alle Freude seines Lebens. – Und siehe, er gab ihm Alles wieder: Hab und Gut, und Kinder und Freude. Gieb Dich doch selber nicht verloren. Sieh mir in die Augen und höre mich an. Ich setze Dich und die Deinen für immerwährende Zeiten in dieses Haus – arbeite und bete zu Gott, daß er Deiner Heimstatt wieder Gedeihen verleihe wie ehedem.«

Der tiefgebeugte Vater ermannte sich; die krampfhaft geballten Fäuste zeugten dafür, welcher Seelenpein er Schweigen zu gebieten wußte.

»Nein, gnädiger Herr,« erwiderte Seregely mit gebrochener Stimme, aber im Tone der Entschiedenheit und tiefer Erregung, »ich bleibe hier nicht! Jeden Tag, den Gott vom Himmel giebt, wenn ich des Morgens die Augen aufschlage, die Erdhügel dort drüben schauen mit den wehverkündenden Grabkreuzen! Vom frühen Morgen bis zum späten Abend Tag für Tag das herzzerbrechende Jammern dieser halbwahnsinnigen Mutter mit anhören, mit ansehen, wie sie vom Morgen bis zum Abend Wald und Feld durchirrt, ihre Kinder zu suchen, um dann heimzukehren und mich zu fragen: wo sind sie?! Hier, wo jede Ecke, jeder Winkel im Hause mich an sie erinnert, wo ich zu jeder Stunde ihre Spielgenossen fröhlich durch die Gassen jagen sehe, wo mir jeder Bissen Brod aus dem Munde fällt, wenn ich ihrer gedenke! Nein, hier bleibe ich nicht um alle Reichthümer der Welt! Seien Sie bedankt für Ihre Fürsorge; in Ihrer Herzensgüte vermögen Sie den Gedanken nicht zu ertragen, uns betrübt zu haben, allein – den Tag unserer Lebensfreude macht keine Menschenmacht je wieder dämmern. Wir ziehen fort von hier. Wir sind ja nur unser zwei – wir finden wohl irgendwo das bischen Nothdurft des Lebens. Kaufen Sie diese Besitzung auch nicht wieder zurück. Mit dem Tage, da Sie sie in die Hand des Fremden gegeben haben, ist Gottes Segen gewichen von dieser Flur! – Es ist nicht leeres Gejammer, was ich da rede. Sie haben vor acht Tagen die herrlichen Saaten gesehen. – Versprachen sie nicht alle eine reiche, gesegnete Ernte? Nun sehen Sie sie doch heute an; sehen Sie einmal, was eine achttägige afrikanische Dürre aus dieser Gemarkung gemacht hat? Die lustigen Stadtleute jubeln! Eine herrliche Badesaison! Wir aber seufzen: Es wächst uns kein Brod heuer! Der Boden giebt das Saatkorn kaum zurück! Die Eicheln im Walde dorren von den Zweigen und die Obstbäume brauchen nicht mehr gestützt zu werden; der Boden ist über und über bedeckt von welk abgefallenen Früchten und was noch am Aste hängt, ist wurmstichig. Selbst das Thier geht zu Grunde. Sehen Sie das Bienenhaus an: alle Körbe stehen leer, Volk und Weisel sind zu Grunde gegangen, nur die Raubbienen fliegen aus und ein zu den verlassenen Zellen. Die bittere Noth ist hereingebrochen über uns. Und all das ist nur erst noch der Beginn. – Lassen Sie die Besitzung nur immerhin dem neuen Herrn: Wer weiß – vielleicht ist es besser gerade deshalb, daß der Herr uns mit so schweren Schlägen heimsucht, weil alle unsere Grundbesitzer ihre Güter in fremde Hände gerathen lassen.«

Die letzten Worte sprach der Wirthschafter bereits im Hinausgehen. Weiter hatte er mit Herrn Napoleon von Zarkany nichts mehr zu reden.

Es war ein todkaltes Erwachen für den Mann, der eben noch in so glänzenden Träumen geschwelgt hatte. Du überredetest Dich selber, Du seiest ein großer Mann, weil Du mit Deiner tiefen Weisheit mitgethan hast, die Geschicke des Landes zu bestimmen – und dabei ließest Du die Obsorge für das kleine Fleckchen Erde außer Acht, welches Dein Eigen, welches Dein Erbe war. – Was bist Du doch ein so ganz kleiner, ein so ganz gewöhnlicher Mensch! Was bist Du doch so rein gar nichts!

Es war mittlerweile spät geworden. Heute rief Leon Niemand zum Abendbrode. Eine Magd kam schlaftrunken ins Zimmer, deckte den Tisch und trug mit unwilligem Gesichte zum einsamen Mahle auf, was ihre ungeschickte Hand bereitet hatte. Die Speisen mochten ganz gut sein – Leon berührte sie nicht. Die Magd trug Alles wieder fort, wie sie es gebracht hatte. Sie kam dann wieder und machte ihm das Bett zurecht. Leon legte sich sofort nieder; die Strapazen der häufigen, langen und forcirten Reisen äußerten nachgerade ihre Wirkung, er war müde und abgespannt.

Als aber erst von außen her das Geräusch des Tages verstummt war, wurden die geisterhaften Klagetöne des Hauses selber laut. Ununterbrochenes Weinen und Jammern, mit zärtlich gerufenen Kindernamen untermischt, erfüllte die Räume in dieser Behausung des Unheils. Ab und zu unterbrach eine milde, sänftigende Stimme das Wehklagen; dann trat eine anscheinend lange Pause tiefen Schweigens ein; aber nach einiger Zeit erklang immer wieder von Neuem das unterdrückte Schluchzen und Weinen und zerriß unheimlich die Stille der Nacht.

Von der Küche herein drangen die ruhigen Athemzüge der schlafenden Magd; ihre Ruhe störte kein Klagelaut von fremden Lippen. Leon aber hörte jedes Wort, welches im Nebenzimmer gesprochen wurde.

»Weine doch nicht,« besänftigte der Gatte die Frau. »Der gnädige Herr kann Deinetwegen kein Auge zuthun da nebenan.«

Ein scharfer, kreischender Aufschrei, der in schmerzlichem Wimmern lange ausklang – dann war wieder Alles still. Niobe's Thränen waren versiegt. Oder hatte die klagende Mutter das Haus verlassen und einen Ort aufgesucht, von welchem ihr Weinen nicht bis hierher zu hören ist?

Auf Leons Augen sank bleischwer der Schlaf hernieder.

Doch dieser Schlaf war nicht der wohlthätige Genius, der das Häßliche selbst verklärt, der dem Träumenden ein Eden vor die Seele gaukelt und dem Herzen das Selbstbewußtsein, dem Kopfe die Gedanken entrückt. Dieser Schlaf war erst recht ein Erwachen marternder Gedanken, des peinigenden Gewissens. Die entsetzlichen Visionen wurden häufiger und schrecklicher denn je zuvor. Auf dem leichenbedeckten Plane, im Feuerscheine des aufflammenden Horizonts, inmitten zertrümmerter Kanonen, hochaufgethürmter Waffenstücke, von Disteln überwucherter Ruinen saß die Gestalt der bleichen Jungfrau, an dem Saume eines ungeheuren Leichentuches stickend, welches ohne Rand und Ende zu sein, die ganze Welt zu bedecken schien; unter dem durchsichtigen Gewebe hob ein Sterbender, im letzten Todeskampfe zuckend, den Kopf empor. Vor ihr tanzte ein Schwarm lächelnder Kindergespenster, Hand in Hand zu einem Kreise verschlungen; und jedem der Kleinen flackerte glänzender Flammenschein auf dem Haupte und inmitten des Röchelns der Sterbenden und des fernen Kanonendonners sangen die Kinder: »Röslein, Röslein, Röslein roth. –«

Leon warf die Bettdecke von sich und sprang auf.

Es war nicht möglich, in diesem Hause zu bleiben. Er stand auf, kleidete sich an und trat aus dem Gemach ins Freie. Der Mond, im Abnehmen begriffen, tauchte eben hinter den hohen Berggipfeln empor. Leon weckte seinen Kutscher und hieß ihn sofort anspannen. Er selber wolle vorausgehen; der Wagen solle ihm so rasch wie möglich folgen. Der Mond beschien die eine Seite des Thales: die andere Seite lag im Dunkel. Als Leon so einsam dahinschritt, klang ihm unaufhörlich der Sang der Kinder durch den Sinn; er murmelte das Lied auch selber leise vor sich hin und es schien ihm, als ob der Schwarm von Blondköpfen Hand in Hand zum Kreise verschlungen, unablässig um ihn her tanzte und ihn singend geleitete. Es drängte ihn fast, sie anzurufen: »Nun denn – wie geht das Liedchen weiter?«

Da mit einem Male gab die Stille der Nacht Antwort auf die Frage. Leise, wehmüthig klang es durch das Dunkel:

Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt es eben leiden!
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden.

Er blickte um sich. – Er ging eben am Kirchhofe vorbei. Drüben an den frischen Grabhügeln saß eine Frauengestalt im weißen Nachtgewande und sang ihren schlafenden Kindern ihr Lieblingsliedchen vor, als wollte sie sie wecken.

*

Der Wagen kam dahergerasselt. Leon stieg auf und fuhr davon.

*


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