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Drittes Buch.

Im Lager der Getreuen.

»Lieber Freund,« sprach Alienor zu Leon, als sie sich im Wagen zurückgesetzt hatten, »soll es denn heute wirklich noch ein Trinkgelage geben? Ich habe gegen alle meine Gewohnheit schon so viel getrunken, daß ich den Kopf nur mehr mit Mühe und Noth aufrecht zu halten vermag, etwa wie Atlas die Weltkugel. Ich kann nicht mehr!«

Er hätte gern geschlafen, aber da vergingen keine fünf Minuten, ohne daß ihm Einer oder der Andere vom Banderium mit aller Kraft einer gesegneten Kehle sein » Eljen a Lion ur!« in die Ohren gebrüllt hätte; und darauf hob dann jedesmal die ganze Reiterschaar das » A Lion ur«-Lied an. Der Volksmund hatte sich nämlich das etwas exotisch klingende » Alienor« in » A Lion ur« (wörtlich »der Herr Lion«) zurechtgelegt und sang nach der alten Kortes-Melodie:

»Herr Aljonur laßt uns sagen:
Auf ihr Leut' zu Roß und Wagen! –
Nur ein Wort und alle Mann
Rucken wir zu seiner Fahn'!
Viva–a–t der Prinz!«

Die zweite Strophe war wie gewöhnlich auf den Gegenkandidaten gemünzt:

»Der Karakan, der ist ein Feiner,
Achtung Leut' und traut ihm Keiner;
Großes Maul und leere Taschen –
Der Teufel soll den Kopf ihm waschen.
Viva–a–t der Prinz!«

Alienor sprach gegen Leon die Besorgniß aus, ob Karakan das Lied nicht übel nehmen werde, wenn es ihm zu Ohren käme. »Schlaf Du nur in Frieden,« tröstete ihn Leon. Dazu schickte sich denn nun Alienor ernstlich an und versank alsbald trotz Pferdegetrampel und Gesang und Eljenrufen in jenen unerquicklichen Schlummer im Wagen, der bekanntermaßen mehr ermüdet, als ob man die Zeit über zu Fuß gegangen wäre.

Mit einemmale weckte ihn furchtbares Schlachtgetümmel. Mörser dröhnten, Gewehr- und Pistolenfeuer knatterte und knallte und als er die Augen aufschlug, fand er sich mitten drin in dem entsetzlichen Tumult. Die Mörser brüllten von einem benachbarten Hügel herab ihre Salven, rings um den Wagen her tummelten sich lärmende Reiter und brannten in lebensgefährlichem Leichtsinn ihre Pistolen ab, ohne Wahl bald in die Luft, bald kreuz und quer über die Köpfe der Insassen des Wagens weg, bald unter die Bäuche der Pferde; hinter allen Zäunen hervor krachte das Pelotonfeuer von Flinten, die des ärgeren Spektakels wegen bis an die Mündung mit Kleie geladen waren; dazwischen hinein rasselten und schmetterten Trommeln und Trompeten und tausend und aber tausend Stimmen ließen aus voller Kehle einen eigenthümlichen Schlachtruf ertönen.

Der Candidat schrickt aus dem Schlafe auf und vor seinen Augen ragt der Triumphbogen in die Lüfte, der ihm zu Ehren an der Grenze der Gemarkung errichtet war. Der Bau war bis in die höchsten Spitzen hinauf mit Lampions illuminirt, die man kunstreich aus den dünngeschabten Schalen überreifer gelber Kürbisse gefertigt hatte. Ein genialer Gedanke, in wessen Haupte immer er zuerst aufgedämmert sein möge! Die Lampions nehmen sich zur Nachtzeit aus, als ob grinsende Menschenschädel da oben hingen, zwischen deren Zähnen gelbschimmernde Lichter hervorblinkten. Aus der » Eljen« jubelnden Menge taucht allmälig die Gestalt des Festredners auf, dem man mit Mühe und Noth zwischen den Pferden hindurch eine Gasse bis an den Wagen bricht, da der Candidat nicht zu bewegen ist, abzusteigen. Das hinderte indessen die vielgetreuen Anhänger nicht, den Wagen, sobald er still stand, von allen Seiten zu besetzen, auf den Kutschbock zu klettern, auf den Fußtritten und den Rädern Posto zu fassen und von diesen ihren Standpunkten aus dem Prinzen seinen eigenen Namen in die Ohren zu schreien, damit er nicht etwa vergesse, wie er heißt; auf der Höhe des Triumphbogens aber waren die Jungfrauen der Ortschaft postirt, die sich in erfolgreichster Weise bemühten, ihm den Wagen mit Kränzen und Sträußen von Georginen und Rosen und brennender Liebe und all den Kindern Florens vollzuwerfen, mit deren Herrlichkeit Gottes Hand ihre Flur geschmückt.

Schließlich gebot die Stentorstimme eines Kortes, der sich am Bock postirt hatte, Ruhe: »Hört den Orator!«

Der »Orator« war ein alter geistlicher Herr, den die Last der Jahre bereits arg mitgenommen hatte. Zu verstehen war von seiner Ansprache höchstens jedes dritte Wort und auch dieses war immer in so jammerndem Tone gesprochen, daß die Festrede eher einem Leichensermon an der Bahre eines hoffnungsvollen Jünglings glich.

»Abends um diese Zeit ist der Alte schon immer ordentlich benebelt,« erklärte der großmäulige Kortes vom Kutschbock herab. »Bursche, schreiet Eljen, sonst nimmt das Ding heute kein Ende mehr!« Und zu Alienor gewendet, setzte er hinzu: »er ist taub wie eine Kanone.«

In der That war es das Ende vom Liede, daß das ungeduldige Publikum die griesgrämige Begrüßungsrede mit Eljenrufen todtschrie; den Orator aber hoben zwei handfeste Bursche auf die Schultern und befreiten ihn so aus dem end- und grundlosen Gewirre seiner Diktion. Und nun strömte die Menge ins Dorf hinein; an den Wagen des Candidaten klammerten sich mit Händen und Füßen so viele Menschen, als daran eben Raum fanden; das Eljengeschrei machte sich durch die dazwischen hineinpuffenden Flintenschüsse noch lebhafter und die Musikbande bemühte sich redlich, den Spektakel so viel als möglich noch zu erhöhen.

Die Gesichter der Parteigänger ließen durchwegs erkennen, daß dieser Abend nur der Beschluß eines thatenreichen Tages, und die leeren Fässer, welche in langer Reihe im Hofraume des Wirthshauses lagen, nicht so ganz ohne Bedeutung seien. Die Begleitung des Candidaten, obschon sie den Tag über bereits bei zwei Gelagen redlich das Ihrige gethan, hatte angesichts des dritten so gut als gar nichts vor Jenen voraus, welche den Zug hier erwartet hatten.

In der Ortschaft Batok wohnen keine vornehmen Herrschaften; es giebt daselbst kein sogenanntes »großes Wirthshaus« mit geräumigem Tanzsaale; wohl aber ist ein riesiger Schuppen da, der vor Zeiten, als die Grundherrschaft noch Tabak im Großen baute, zum Trocknen der Blätter diente; seit der Auflösung des Urbarialverbandes, zumal seitdem bei der Segregation und Commissation das Objekt der Gemeinde zugefallen war, steht der ganze Bau leer. Dieses Gebäude nun hatte man für heute als Festhalle hergerichtet. Es finden darin an drei langen Tischen mindestens fünfhundert Gäste ganz bequem Platz. Die Wände sind mit Reisern und Fahnen geschmückt, das Gebälke ist mit Blumenkränzen malerisch umwunden.

Einen kleinen Uebelstand hat die Lokalität allerdings; in der Bretterung und dem Gebälke liegt hundertjähriger Tabakstaub und zwar so tief eingenistet, daß trotz allem Fegen und Scheuern der erste Eindruck, den man beim Eintritte empfängt, ein unwiderstehlicher Nießreiz ist; wenn sich nun da eine Anzahl von Menschen zu regen und zu bewegen beginnt, oder wenn es den Leuten wohl gar einfällt, zu stampfen und zu tanzen, so ist voraussichtlich der vielen »Zur Gesundheit!« kein Ende.

Auf einer Tribüne an einem Ende der Tafel ist die Zigeunerbande placirt, durchaus wackere Dorfkünstler, die das Lied vom » Kerekes Andràs« und sonstige volksthümliche Weisen gar meisterhaft executiren. Allein der »Primas« ist ein Bursche voll hochstrebender Ambition; heute, wo ihm ein leibhaftiger Prinz ins Gehege gelaufen ist, läßt er sich den Ruhm und die Genugthuung nicht nehmen, hart hinter dem Rücken der hohen Gäste den Auszug der Oper »Robert der Teufel« von der ersten bis zur letzten Note zu spielen – ein höllischer Hautgout für Alienors in Sachen der Musik nicht wenig empfindsame Nerven.

Doch – man beginnt aufzutragen und das Erscheinen der Speisen drängt jedweden Konversationsstoff in den Hintergrund.

In einer irdenen Schüssel von der mäßigen Peripherie eines mittelgroßen Mühlsteines eine Fluth zinnoberrother Brühe und mitten darin eine hochaufgethürmte Pyramide von Fleischstücken. Was mag das wohl sein –?

»Pörkölt, gnädigster Prinz!« offerirte der Kortes mit der Stentorstimme. »Das habe ich selber gemacht!« Damit hielt er ihm die riesige Schüssel unter die Nase.

»Ah, also Sie sind der Koch,« bemerkte Alienor. Auf dem Gesichte des Großmäuligen verschwand das bisherige Lächeln hinter den Wolken mürrischer Betroffenheit.

»Kein Koch,« beeilte sich Leon den Mißgriff zu verbessern; »Herr Csajkos ist Grundbesitzer hier im Orte. Er war einzig und allein aus Verehrung für den Kandidaten so freundlich, sich der Mühe zu unterziehen, das Nationalgericht selber zu bereiten.«

»Ah, also ein Nationalgericht?« machte Alienor; er war nun nur neugierig, wie man mit dem ungeschlachten Holzlöffel aus der Riesenschüssel etwas herauskriegen könne, und was an dem ganzen Gange eigentlich das Genießbare sei. Schließlich erbarmte sich Herr Csajkos (da wir nun seinen Namen wissen, haben wir keinen Grund mehr, ihn anders zu nennen) der Unbeholfenheit des Kandidaten, ergriff den großen Löffel und legte Alienor eine Partie von dem Paprikas vor, die als Proviant für einen Tagelöhner in Kukuruzfeldern mehr als hinreichend gewesen wäre. Gleichzeitig präsentirte ein anderer Kompatriot von der andern Seite eine Schüssel in Essig eingemachter grüner Paprikaschoten mit dem Bemerken: das seien ungarische Ananas. Ehrenhalber mußte sich Alienor auch davon ein Stück auf den Teller legen. Ein Bissen von dem »Nationalgericht« genügte Alienor vollkommen. Als er wieder zu Athem kam – denn ein paar Minuten lang war ihm derselbe vollständig ausgeblieben – sagte er zu Leon: »Du, mir kommt es genau so vor, als ob ich ein Stück in Vitriol gesottenen Klapperschlangenfleisches gegessen hätte. Das Thier beißt sich mir irgendwo an der Seite durch.«

»Versuch' einmal eine von den ungarischen Ananas dazu zu kauen.«

Alienor betrachtete die grünen Früchte nicht ohne Mißtrauen; als er aber sah, daß Leon eine derselben mit sichtlichem Wohlbehagen verzehrte, faßte er ein Herz und kostete gleichfalls davon. Erst als er das trügerische Gewächs zu kauen begann, machte er die Erfahrung, daß er da eigentlich ein Stück glühende Kohle in einer grünen Hülse vor sich habe. Fortzuwerfen, was er davon bereits im Munde hatte, das ging nicht gut an, denn Aller Augen hingen unablässig an ihm; es hieß Courage haben und wenn es das Leben kosten sollte! Mit einiger Selbstüberwindung gelang es ihm denn auch, die Schote hinabzuschlingen; er beeilte sich, einen tüchtigen Schluck darauf zu trinken, bevor sie ihm noch den Magen durchgebrannt hätte.

Als aber Alienor nach seinem Glase griff, involvirte das eine direkte Aufforderung an den zu seiner Rechten sitzenden geistlichen Herrn, den Redner von vorhin, sich zu erheben und also das Wort zu nehmen: »Ich beeile mich, die Worte meines hochgeehrten Herrn Vorredners, unseres durchlauchtigen Kandidaten zu erwidern.« (Taub, wie er war, meinte der gute Mann nicht anders, als so oft der Kandidat trinke, spreche er auch jedesmal einen Toast dazu.) Und nun begann er eine Paraphrase der Geschichte vom biblischen Josef herabzulamentiren, der seinen Brüdern zur Zeit der Noth Speise und Trank gereicht. Zuzuhören bezeugte das Auditorium allerdings keine besondere Lust, denn der Toast war ungeheuer lang, und ungeheuer fromm, das Publikum aber war ungeheuer rosenfarbener Laune. Man schrie Eljen dazwischen – der Redner ließ sich dadurch nicht beirren; am andern Ende der Tafel perorirte bereits ein Anderer, die Musik stimmte den Louisen-Csardas an – der Hochwürdige aber recitirte seinen Text unermüdlich fort und Leon, der ihm gegenüber saß, hörte andächtig zu und bekundete durch zustimmendes Kopfnicken und Augenblinzeln, wie seine Anschauungen so ganz vollständig mit den Ausführungen des geistlichen Herrn übereinstimmten. Die Geschichte würde ewig kein Ende genommen haben, wenn nicht schließlich Herr Csajkos dem unverwüstlichen Orator mit einer neuen Schüssel vom Umfange eines breitkrämpigen slovakischen Bauernhutes einen sanften Rippenstoß versetzt hätte. Der Redner warf einen Blick auf das neuaufgetragene Gericht und schloß nun plötzlich seinen Toast mit der unerwarteten rhetorischen Wendung: »Topfennockerl! Ah – die müssen wir uns zu Gemüth führen!« – Und damit setzte er sich.

Ein prachtvolles Essen waren sie, die »Topfennockerl«, das muß wahr sein; fein gezupft, gelblich weiß anzusehen, wie der Teint eines zarten Fräuleins, schwammen sie völlig in der fetten Sahne und überall blinkte, mit würzigem Dillenkräutlein untermischt in kleinen Körnern der blendend weiße Topfen daraus hervor und darüber her lag die reiche Schicht kleingewürfelter, duftiger Speckgrieben.

»Was ist denn nun das wieder?« stammelte Alienor zu Leon gewendet. »Feuersteine mit frisch gelöschtem Kalk und Fliegenbeinen untermischt und mit zerstückten Stiefelsohlen aufgeputzt.« – Um keinen Preis hätte er das Wagestück zuwege gebracht, das unbekannte Etwas zu kosten; er besorgte, es könnte ihn gleichfalls zwicken und beißen wie die früheren Gerichte, zumal als er eines der Nockerl, welches er aufspießen wollte, so konsistent fand, daß es ihm unter der Gabel davonsprang. Leon dagegen wußte sich auch mit dieser Schüssel meisterhaft abzufinden; er aß, als ob er den ganzen Tag über die Sense geschwungen hätte und eben jetzt zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden einen gekochten Bissen vor die Zähne kriegte. Dafür flogen ihm aber auch Aller Herzen zu. Wer ordentlich ißt und trinkt, der ist ein rechter Mann! Was soll Einem auch ein Gast, der in dem Besten, was man ihm vorzusetzen hat, nur mißmuthig mit der Gabel herumstochert!

Mitten unter die Tafelfreuden hinein tönten die begeisterten, gewaltigen Trinksprüche. Was hier geredet wurde, fixirte kein Stenograph; es wäre auch nicht gut möglich gewesen, denn man hörte von einem Ende des Tisches bis zum andern kein verständliches Wort, man konnte dem Redner höchstens am Munde absehen, was er sprach. Ohne Zweifel wünschten die Oratoren sammt und sonders Alienor alles erdenkliche Gute; bekanntermaßen ist es bei solchen Anlässen alte gute Gepflogenheit, mit dem Redner nicht blos anzustoßen, sondern auch Kuß und Umarmung mit ihm zu wechseln. Alienor öffnete heimlich unter dem Tische ein Flacon mit Eau de Cologne, welches er immer bei sich zu führen pflegte, schüttete sich einige Tropfen in die Hand und strich sich damit über die Stirne, als ob er seine Gedanken sammeln wollte.

Er war nachgerade mißlaunig geworden von dem vielen wässerigen Rothweine, mit dem er den Abend über die Welt gefoppt hatte. Leon bemerkte seine Verstimmung, und flüsterte Herrn Csajkos einige Worte zu. »Das ist wahrhaftig wahr!« rief dieser, sprang auf und verschwand alsbald unter dem Schwarme der Frauen, die ringsumher standen.

Eben setzte man den Krautstrudel auf, in der Original-Backpfanne, zu einem riesigen Wirbel zusammengerollt, gleich einer ruhenden Schlange. »Da kommt die Boa constrictor!« rief Leon in komischem Schrecken. »Na – das ist nichts für uns; das ist eine Näscherei für Weiber, die lassen wir den Tänzerinnen.«

Bei diesen Worten kamen aus der Zuschauermenge heraus acht junge Frauen auf den freien Raum vor der Musikbande gesprungen, durchweg »heurige« Weibchen, das heißt, die erst im letzten Fasching geheirathet hatten, prächtige, lebhafte, elastische Gestalten mit rothen Wangen und feurigen Augen, in die ewig schöne Volkstracht gekleidet; das schwarze Leibchen mit breiten, rothen Achselstreifen, darüber ein weißes Spitzentuch, am Kopfe die Haube mit Goldtressen und flatternden Bändern besetzt, über den faltenreichen bunten Röcken hellfarbige Seidenschürzen. Sie begannen mit einander zu tanzen, Frau mit Frau; jede hielt die eine Hand an die Hüften gelegt, die andere auf der Schulter ihrer Tanzgenossin ruhend. Es war ein eigenthümlicher, nur in jener Gegend heimischer Tanz, den sie aufführten: » A nök toborzója« – »Frauenwerbung« – genannt, ein wahrhaft idealisch schöner Tanz, sanft und schwärmerisch. Auch die eigentümliche Weise weiß kein anderer zu spielen, als die Zigeuner jener Gegend.

Alienor war entzückt. »Nun, lohnt nicht dieser Tanz allein die Mühe, von Budapest nach Batok zu reisen?« sprach Leon zu ihm.

So ein Tanz blos von Frauen aufgeführt, ist nun allerdings eine schöne Sache; aber dennoch macht sich's unleugbar weit schöner, wenn sich der Reigen durch die Theilnahme eines Mannes ein wenig bunter gestaltet. Freilich gehört dazu ein flotter Bursche, löwenherzig genug, mitten hineinzustürmen unter die Schönen, und die Feenphalanx zu sprengen. Aus den Reihen der Zuschauer stieß man denn auch Einen um den Andern von den jungen Leuten vorwärts und eiferte ihn an, mit einem kühnen Satze in die Arena zu springen. Allein es hatte noch Keiner von Allen genug getrunken, um das zu wagen.

Da mit einem Male erscholl ein hell aufjauchzendes »Ujuju!« zum Zeichen, daß sich Einer gefunden, der kühn und unternehmend genug ist, den Tanz zu wagen und in demselben Augenblick sah die staunende Gesellschaft einen der Gäste, zu dem sich dessen wohl Niemand versehen haben würde, vom Tisch aufspringen.

Es ist Herr Dumka, der fromme, der ruhige, der gesetzte Mann. Er wirft mit einem Male den silberbeschlagenen Säbel, von dem er sich bisher um keinen Preis getrennt hätte, auf den Tisch und die Mente von den Schultern, setzt mit einem kühnen Sprunge auf den Tanzplatz und nimmt, die eine Schulter hoch emporgezogen, die andere tief herabgesenkt, Stellung; er klatscht in die Hände, schlägt wider seine Stiefelschäfte, neigt den Kopf bis an die Brust, um ihn sofort mit einem kühnen Ruck wieder zurückzuwerfen, ruft den Zigeunern unermüdlich das » Hogy volt, hogy?« – das ungarische » Da capo« – den Tänzerinnen aber die neckische Aufforderung zum Tanze zu: » Ucza czucza Szük az uteza!«

Und damit stand er auch schon mitten drinnen in der Gruppe der Frauen, hatte eine derselben erfaßt und drehte und wirbelte und hob und »schupfte« sie hoch auf und rings im Kreise, mit einer Energie und einem Uebermuthe, die ihresgleichen suchten. Und während er mit den Sporen an den Füßen lustig den Takt schlug, sang er jauchzend den Text der Tanzweise dazu.

Herrn Dumka's Beispiel brachte Alienor ins Feuer. Die Courage ist ansteckend. Er hätte nie geglaubt, daß der alte Herr in irgend Etwas kühner und unternehmender sein könnte, als er. Der Wetteifer treibt den Menschen zu manchem bedeutsamen Schritte. Alienor verstieg sich zu dem tollkühnen Unternehmen, sich ein schmuckes Weibchen aus der Mitte der Anderen herauszuholen, sie um die Taille zu fassen und mit ihr einen feurigen Csardas anzuheben.

Und das Weibchen war nichts weniger als scheu. Sie drehte und wirbelte ihn fast herzhafter herum, als er sie, sie schmiegte sich fest an ihn, wenn er sie an sich schloß und schlug durchaus nicht die Augen nieder, wenn er ihr ins Gesicht schaute. Das Publikum klatschte und jubelte ihm Eljen zu; die Musik that gleichfalls das ihrige:

Schließ sie an Dich fest und dicht –
Ist ja Deine Mutter nicht!

Und so war es gekommen, er wußte selbst nicht wie, daß Alienor mit einem Male seiner schönen Tänzerin einen herzhaften Kuß auf die rosige Wange gedrückt hatte. Davor erschrak er aber nun denn doch selber nicht wenig. Er erinnerte sich, einmal ein Volksstück gesehen zu haben, wo sich aus einer solchen Kußgeschichte volle haarsträubende drei Akte entwickeln und der freche Kußräuber schließlich unbarmherzig todtgeschlagen wird. Allein im Leben ist's eben anders. Für Alienor hatte der Kuß himmelweit verschiedene Folgen: kaum hatte er seine bisherige Tänzerin losgelassen, so faßte ihn eine andere, und er bekam einen – zweiten Kuß; und dann kam eine Dritte und so wanderte er unausgesetzt von Hand zu Hand. Sie wirbelten ihn im Tanze herum und küßten ihn. Er ist ja »unser Kandidat«; – »unserem Vertreter« einen Kuß geben, ist ja doch eigentlich nichts weiter, als sich selber küssen.

Uebrigens war Alienor ein bildhübscher Junge, der Ehre ganz ohne Frage werth. Er konnte wahrhaftig zufrieden sein, wurde er ja doch mit den untrüglichsten Zeichen der Liebe überhäuft. Unter Umständen freilich können die Zeichen der Liebe auch minder angenehm werden. Nachdem er die Reihe der jungen Weiber glücklich durchgemacht hatte, begann die Unterhaltung eigentlich erst so recht in Fluß zu gerathen. Die wackeren, hand- und ehrenfesten Hausfrauen und Matronen wandelte die Lust an, die Geschichte fortzusetzen, Allen voran Frau Csajkos selbst, die Mama des jungen Weibchens, bei welchem die Küsserei begonnen hatte, eine korpulente Dame, mit beiden Armen kaum zu umspannen, mit einem Teint gleich einer rothen Rübe, und kugelrundem, glänzendem Gesichte. Sie nahm unsern Kandidaten zunächst in die Hand und von nun ab erfuhr er, was es für einen Kandidaten besagen will, einen Kuß zu rauben: er bekommt für den einen deren hundert ungeraubt. Und was für Küsse?! Mächtige, aus vollem Herzen, in voller Aufrichtigkeit gegönnte, überströmende Küsse; Küsse von den Exhalationen kräftigen Lauches, vom Dufte des gelungenen Krautstrudels durchweht; schmatzende, energische Küsse, von denen dem Empfänger die Ohren gellen und der Kinnbacken aus Rand und Band geräth. Alienor, der Aermste, war nahe daran, Orpheus' Schicksal zu theilen, und in der That rettete ihn nur die Schreckenskunde, welche plötzlich irgend Jemand zur offenen Thür hereinrief: »Feuer im Dorfe!«

Und in demselben Augenblicke fiel auch schon der röthliche Feuerschein durch die Fenster in den Festsaal. Sofort veränderte sich die ganze Physiognomie der Gesellschaft. »Das haben die Leute des Karakan gethan,« erscholl Herrn Csajkos' Stimme durch den Tumult und nun stürzte Alles drängend und stoßend und ringend nach dem Ausgange.

»Habt nur auf den Kandidaten Acht!« ermahnte Leon die Leute. An der Thür hatte sich die Menge gestaut und jede weniger kräftige Konstitution lief da Gefahr zu Tode gedrückt zu werden. Schließlich faßte Leon seinen Pflegebefohlenen und nahm ihn huckepack auf den Rücken. »Na jetzt sehen wir aber auch genau so aus, wie sie uns in ihrem Witzblatte abkonterfeit haben.«

So schaffte Leon Alienor aus dem Getümmel, wie weiland Aeneas seinen Vater Anchises aus dem Brande von Troja; er stand nicht eher still, als bis er ihr Quartier am Pfarrhause erreicht hatte. Der geistliche Herr selber hatte sich nur mit dem Verluste der halben Reverenda aus dem Tumulte gerettet. Und schließlich stellte sich heraus, daß das Ganze nur ein blinder Lärm gewesen. Eine Kukuruz-Kotarka draußen im Felde war durch die Unvorsichtigkeit einiger Hirtenbuben in Brand gerathen. Herr Csajkos erschien persönlich mit der beruhigenden Meldung. Alienor war todmüde. So viel Liebe und Anhänglichkeit durchzukosten, ist eben allzu viel für einen Tag, zumal für einen Menschen, der sich selber das Zeugniß gab, daß er einer der größten Faulpelze auf Gottes Erdboden sei. Zehn Meilen weit fahren, umgeworfen werden, drei Festessen und Festtrinken mitmachen und schließlich noch tanzen und alte und junge Frauen küssen, – dazu gehören andere Nerven!

»Nun wollen wir aber auch schlafen gehen,« meinte Alienor.

»Nein, lieber Freund, das geht dermalen noch nicht. Da sitzt noch Herr Csermö draußen am Gange, der verdienstvolle Ortsrichter von Batok. Er wartet hier seit unserer Ankunft auf Dich. Selbst bei dem Festgelage ist der wackere Mann nicht erschienen, um nur ja nüchtern zu bleiben. Er will Dir mit einigen Worten die wesentlichsten Beschwerden und Anliegen der Gemeinde Batok vortragen. Du mußt ihn noch anhören. Er ist übrigens ein braver verständiger Mann.«

»Nun, so laß ihn denn in Gottes Namen kommen!« machte Alienor gähnend, warf sich der Länge nach auf den Divan hin und streckte die Beine bequem von sich.

Herr Csermö, der Ortsrichter, war in der That ein wackerer, verständiger Mann, der auch etwas gelernt hatte. Aber gerade diese Eigenschaften waren es, deren wegen ihn Alienor im Verlaufe der nächsten halben Stunde mehr als einmal in den Abgrund des tiefsten Brunnens in Batok verwünschte. Genau eine halbe Stunde hielten nämlich die »einigen Worte« vor, in denen Herr Csermö dem Herrn Abgeordneten-Kandidaten die brennenden Fragen der Gemeinde Batok auseinanderzusetzen versuchte.

Alienor gähnte vergebens ein über das andere Mal; der wackere Richter fürchtete sich nicht, daß er verschluckt werden könnte; von seinen Lippen floß der Vortrag ununterbrochen fort, gleich einem plätschernden Bache. Er beherrschte seinen Stoff derart, daß weit und breit kein Advokat im Stande gewesen wäre, eine gelungenere Information zu liefern. Und was er darlegte, war nicht etwa leeres Gewäsche. Er citirte die einschlägigen Gesetze Ludwigs II. und Maria Theresia's zutreffend nach der Jahres- und Paragraphenzahl: er berief sich auf die diesbezüglichen Gesetzartikel vom Jahre 1836 und 1842, welche »dem geehrten Kandidaten ja ohnehin wohl bekannt sind;« er führte die Aerarial-Dekrete und allerhöchsten königlichen Reskripte ins Treffen, welche in dieser Angelegenheit erflossen waren.

Alienor war nahe daran, aufzuspringen, den wackern, braven, studirten Mann am Kragen zu packen und ihn zur Thür hinauszuwerfen. Endlich erbarmte sich Leon seiner denn doch und machte dem Vortrage ein Ende.

»Nun, es ist gut, lieber Herr Richter. Lassen Sie Alles noch einmal in Form einer Petition zu Papier bringen und schicken Sie es nach Budapest hinauf. Dermalen werden Sie einen Abgeordneten im Hause sitzen haben, der mit den Leuten von der Regierung zu reden weiß. Und wenn sie nicht hören wollen, so werden wir mit ihnen schon fertig zu werden wissen. Jetzt aber wollen wir unsern Kandidaten ein wenig sich selber überlassen. Sie wissen ja, welch eine wichtige Aufgabe ihn heute noch erwartet.«

Herr Csermö war wie gesagt ein verständiger Mann. Er wußte die angedeuteten Gründe zu würdigen und empfahl sich mit vieler Lebensart und – dem Versprechen, später wiederkommen zu wollen.

Mit argwöhnischer Besorgniß schlug Alienor bei Leon auf den Strauch: »Du, hör' einmal – das war doch hoffentlich nur ein Vorwand, daß heute noch eine große Aufgabe meiner harre; denn ich schlafe schon.«

»Lieber Freund, vom Schlafen laß Dir nur nichts träumen. Es steht uns allerdings noch Großes bevor: die Krone des ganzen Tages.«

»Ich bedanke mich schönstens. – Ich mag von keiner Krone wissen. Was da noch übrig ist, müssen die guten Leute wahrhaftig auf morgen verschieben.«

»Ja, es ist aber eine Programm-Nummer, die sich eben nicht auf morgen vertagen läßt, denn sie kann absolut nur in finsterer Nacht ausgeführt werden.«

»Was um Himmelswillen ist denn also eigentlich noch los?«

»Was denn sonst als der Fackelzug?! Wie kannst Du Dir denn überhaupt nur denken, daß ein solcher Tag ohne Fackelzug schließen sollte? Das würde ja doch genau so aussehen, wie etwa eine Kirchweih ohne Lebkuchen. Wenn man uns keinen Fackelzug brächte, würden morgen alle Zeitungen schreiben, man habe uns zum Tempel hinausgejagt. Das Loch, welches uns die Funken in den Hut brennen, die von den Pechfackeln sprühen, ist die Authentikation unseres Triumphes, die unwiderlegliche Signatur: ( L. S.) › Locus sigilli.‹ Oh, den Fackelzug mußt Du noch über Dich ergehen lassen – da hilft keine Widerrede! Horch! die große Trommel! Es naht das unerbittliche Schicksal!«

Gleichzeitig mit den Musiktönen brach auch der Fackelschein, der die Straße hell erleuchtete, zu den Fenstern herein, und einer Meeresfluth gleich wogte die Menschenmenge daher. Der Zug bot einen imposanten Anblick die ganze Dorfgasse entlang. Voran kamen die sämmtlichen Haus- und Hofhunde vom ganzen Dorfe in tollen Sätzen über einander hergesprungen; hintendrein die gesammte mobilisirbare männliche Dorfjugend, ein wirres Rudel Buben, deren jeder einzelne mit besonderer Virtuosität nach der Ehre rang, das kühnste »Zigeunerrad«, den tollsten Purzelbaum zu schlagen. Dann folgte die Musikbande mit der großen Trommel, hinter welcher endlich die »sehr viel hundert« Fackelträger einherzogen, in ihrer Mitte, von Fahnenträgern umgeben, der mit der Begrüßungsrede schwangere Sprecher; zu beiden Seiten der Gasse, den Zäunen entlang, drängte sich das Weibervolk des Ortes.

Als der Festzug vor dem Pfarrhause anlangte, wo der sehr geehrte Herr Abgeordneten-Kandidat einquartirt war, brauste aus hundert und hundert Kehlen ein Sturm von begeisterten Eljenrufen in die Lüfte. Was den Hausherrn anbelangt, so mochte er seinetwegen brausen, so viel er wollte: Se. Ehrwürden hatte sich längst zur Ruhe begeben und schlief, von Alienor nicht wenig beneidet, den Schlaf des Gerechten. Die Herren aber, denen die Ehrenbezeugung galt, kannten ihre Schuldigkeit; man muß bei solchen Anlässen vor dem Publikum erscheinen: sie gingen also hinaus. Vor dem Gassenthore lag, mit dem Boden nach aufwärts gekehrt, ein Kahn in steter Bereitschaft, denn die Gemarkung war häufigen Ueberschwemmungen ausgesetzt. Auf dieses Rostrum stellte Leon den Kandidaten, damit sich Jedermann nach Herzenslust an seinem Anblicke ergötzen könne. Der Redner verlangte, um hie Gleichheit im Niveau herzustellen, einen Stuhl als Tribüne. Der Stuhl wurde gebracht, der Sprecher stieg hinauf und hielt dem Abgeordneten in spe einen gewaltigen Vortrag über die Bedeutsamkeit der europäischen Wirrnisse, über die Hegemonie Deutschlands, den französischen Imperialismus und das gegen Großbritannien gerichtete Bündniß der beiden genannten Mächte; über die Ausbreitung Rußlands durch chivanisches Gebiet gegen Afghanistan hin, über das Testament Peters des Großen und die gefährlichen Komplikationen, welche im Grunde desselben das türkische Reich bedrohen; über die nordamerikanische Bankkrisis, die beängstigenden Fortschritte der Freimaurerei und über die verschiedenen Wahlverwandtschaften derselben, insbesondere die Sekte der Nazarener. Nebenher that er denn auch Ungarns Erwähnung, welches berufen sei, von den fünf Welttheilen mindestens zwei von ihren ererbten Uebeln zu befreien.

Die Rede war wunderschön, nur war sie endlos lang und dabei stand leider ganz und gar nicht zu erwarten, daß eine wohlthätige Heiserkeit den Orator zum Schlusse drängen werde. Der Mann hatte ein Stimmwerk, wie eine Wasserorgel. Nachgerade dauerte die Geschichte auch dem Publikum schon zu lange.

»Mach' ein Ende, Jancsi! Die Fackeln brennen uns schon fast auf die Finger nieder!« rief Herr Csajkos dazwischen. Allein sein Herr Schwiegersohn spielte den Tauben und ging unbeirrt auf die Darlegung Alles dessen über, was die fünf Welttheile von dem Manne erwarten, den der Etelvarer Bezirk zu seinem Abgeordneten wählt. Und hier nahm er nun Gelegenheit, den durchlauchtigen Prinzen Alienor von Nornenstein herauszustreichen, ihn, wie man zu sagen pflegt: über den grünen Klee zu verherrlichen und ihm Weisheit und Tugend aller erdenklichen Art in die Schuhe zu schieben. Gott weiß wo und wann die Geschichte ein Ende genommen haben würde, wenn nicht ein fatales Incidens dazwischen gekommen wäre. Ein riesiger Wolfshund war unruhig hin und her schnüffelnd unter die Fackelträger gerathen, hier aber so lange gehetzt und getreten von einer Stelle zur andern gejagt worden, bis das arme Beest endlich in den freien Raum hinausflüchtete; dort ward er aber mit den Fahnenstangen gleichfalls so unfreundlich empfangen, daß er sich schließlich in das letzte enge Asyl: unter den Stuhl hineindrängte, auf welchem der Redner stand. Da ihn aber auch hier seine Verfolger nicht lange in Ruhe ließen, stürzte er wieder hervor und – nahm dabei den Sessel mit. Der Redner bewegte sich in diesem Augenblick eben auf der Höhe von Gibraltar, von dort stürzte er zur Erde herab. Es ist nur natürlich, daß er sich dabei die Nase einschlug.

Doch was thut das? Derlei ist eben Soldatenloos. Sofort stand Leon bereit, auf die meisterhafte Ansprache mit einer noch meisterhafteren Improvisation zu antworten.

Er folgte dem Vorredner auf Schritt und Tritt nach Großbritannien, nach Rußland, in die Türkei; er setzte mit ihm über den stillen Ocean; er citirte Aussprüche berühmter englischer und arabischer Staatsmänner; er verbreitete Licht über die Lehren des Socialismus und Saint-Simonismus, beschäftigte sich eingehend mit dem Atheismus und ging dem Streben Englands nach Monopolisirung auf allen Gebieten scharf zu Leibe; er verbreitete sich über die brennendste Frage Ungarns: das jus placeti und die Mittel, durch welche dasselbe seinem Dafürhalten nach abzuschaffen wäre. Und nachdem er schließlich seine Ansichten über die schöne Zukunft des Proletariats und die Nothwendigkeit der Tugendbunde auseinandergesetzt hatte, kam er endlich auf unsern geehrten Kandidaten zu sprechen. Er glorifizirte vor Allem den Vater und den Großvater und die sämmtlichen Vorfahren und Agnaten desselben, brachte seine Genealogie mit der berühmten Familie Crouy Cherell in Verbindung und leitete dadurch seine Abkunft direkt von Arpad her; dann zählte er die schönen und guten Thaten und Eigenschaften auf, welche vom Kandidaten selbst allbekannt seien. Er erzählte von Alienor, wie tapfer er auf dem Schlachtfelde, wie weise er im Rathe sei; er redete von seinem Rufe als Dichter und zählte die gelehrten Gesellschaften auf, deren Mitglied er sei. Weiter sei er wohlthätig über die Maßen, sei Präsident zahlreicher Kleinkinderbewahr-Anstalten, Begründer unzähliger Krippenvereine und verwende alle seine Revenuen zur Bekleidung der Nackten und Dürftigen in der neuen und der alten Welt.

»Soll das noch lange so fort gehen mit den unverschämten Lügen?« brummte ihm Alienor ins Ohr.

»Nur bis die letzte Fackel ausgebrannt hat.«

Und er hielt in der That Wort; er zog den Speech so lange hinaus, bis auch der letzte Fackelträger den Pechklumpen fortwarf, weil ihm die Flamme bereits die Finger zu verbrennen begann und die hochgeehrte Wählerschaft bereits im Finstern stand.

Nun erst schloß er mit den Worten: »Na, und jetzt wünsche ich Allen miteinander eine geruhsame gute Nacht, – insbesondere aber unserem geliebten Vaterlande! Eljen!«

Alienor lebte der festen Ueberzeugung, nach einer solchen Rundreise im Wahlbezirke müsse man eine Haut haben wie Juchten: einmal von Staub und Sonnenbrand, und dann von all der unverdienten Verhimmelung, die einem fortwährend coram publico angethan werde.

»Es wird schon auch anders kommen, nur Geduld!« tröstete ihn Leon.

Nun war es aber hoch an der Zeit, nach den Mühen des Tages die Ruhe zu suchen.

Alienor warf sich auf das Bett und meinte, er werde sofort einschlafen. Nun findet sich aber der Schlaf gerade dann am schwersten, wenn wir über die Maßen erschöpft sind. In seinem Kopfe brausten und brodelten die Erlebnisse des heutigen Tages in wüsten Bildern durcheinander. Musiktöne und Gejauchze und Salutschüsse wurden jetzt erst so recht lebhaft in seinen Ohren flott, wie die eingefrorenen Töne in dem Jagdhorne weiland von Münchhausens. Leon lag im Nebenzimmer schon längst in tiefem Schlafe, während er sich noch immer ruhelos in der glühenden Martergrube wälzte, die man Federbett nennt; und als es endlich doch den Anschein gewann, als wollten sich die wilden Horden von Gespenstern, die in seinem Gehirne wider einander stritten und tobten, versöhnen, als würde er in den Schlaf der Erschöpfung versinken, – da erhob sich mit einem Male draußen vor dem Fenster ein entsetzliches Getöse; so schildern uns Ferdinand Coopers weltberühmte amerikanische Romane den Moment, wenn die furchtbaren Oneida-Indianer des Nachts meuchlings das Lager in tiefem Schlafe liegender Weißen überfallen und plötzlich aus fünfzig blutdürstigen Kehlen zumal ihr Kriegsgeschrei erheben.

Alienor sprang in tödtlichem Schrecken aus dem Bette ... Das Erste, was er that, war, daß er die Kerze ausblies. (Er pflegte nach Weiberart immer bei brennendem Lichte zu schlafen.) Dann stürzte er im Finstern in Leons Zimmer hinüber, rannte daselbst wider das Nachtkästchen und warf es sammt Leuchter und Uhr und Wasserflasche über den Haufen. »Was suchst Du denn da?« fuhr Leon auf.

»Meinen Revolver. Hörst Du denn nicht – die Gegenpartei hat das Haus angegriffen!«

»Was Dir nicht einfällt. Leg' Dich doch ruhig aufs Ohr. Das ist ja die Liedertafel des Ortes. Sie singen Dir ein Notturno – hörst Du denn nicht?«

Es war in der That ein »Notturno,« so eine Art festländischer Barcarole, was draußen gesungen wurde. »Ruhe sanft ... Ruhe sanft ... Sanft und süß ... Pianissimo: Sanft ... und ... süß ...« Und dann auf einmal wieder im Fortissimo hinauf bis in den siebenten Himmel: »Ruhe sanft ...!!!« daß selbst ein Opiumtrunkener davon hätte erwachen müssen.

»Es wäre aber dennoch gut, mit dem Revolver ein paar Mal zum Fenster hinaus zu schießen: vielleicht nehmen sie dann Reißaus, unsere – Verehrer da draußen,« meinte Alienor.

Leon hatte ein Einsehen und redete die Liedertafel zum Fenster hinaus an: »Geehrte Freunde! Der Kandidat schläft nicht in diesem Zimmer, sondern im rückwärtigen, welches nach dem Garten geht. Wollten Sie nicht gefälligst dorthin entschweben, um Ihre herrlichen Lieder an die richtige Adresse zu säuseln?«

Doch die Liedertafel ist nicht auf den Kopf gefallen. Die Herren lachen zu dieser Behauptung, denn sie wissen recht gut, daß im Gartenzimmer Frau Rebekka schläft, des Pfarrers Haushälterin; Frau Rebekka aber ist über jeden Verdacht erhaben: sie hat anderthalb Mal das kanonische Alter, sechszig Jahre, wohl noch darüber. Die Sänger behaupteten daher ihre Position und begannen, als das erste Lied verklungen war, sofort neuerdings zu stimmen: » Cis ... e ... d ... gis ...!«

»Hörst Du's, Alienor. O, die machen so bald kein Ende. Ich kenne ihr Repertoire; sie haben es auch mir schon einmal abgesungen von A bis Z, als ich noch Stuhlrichter war. Jetzt kommt das »Komm du schmucker Fischerknabe, komm o mein Fidelio!«, dann kommt »Einem Traume gleich huscht das Leben hin ...« und darauf das schöne Lied »Auf der Wahlstatt, wo der Kriegsgott ...« vorausgesetzt, daß sie es noch nicht vergessen haben. Den Schluß aber bildet zuverlässig das wundervolle »Nachtwächterlied«:

Wenn alle Thiere schlafen,
Und auch die Menschen ruh'n,
Und nur die Gespenster schwärmen
In grauenvollem Thun,
Da nehm' ich meinen Spieß zur Hand,
Umwandle unseres Städtchens Rand,
Und ruf: Hu – hu!
Hu – hu – hu – hu!
Hu – hu!
Hu – hu!

Alienor sank vernichtet auf Leons Bett, gleich einem erschlagenen Manne. Hier bekam er die Ehrenbezeugung wenigstens nicht so unmittelbar aus erster Hand, wie in seinem eigenen Zimmer. »Ich will Dir was sagen,« sprach Leon. »Wir wollen eine Kerze anzünden; hier im Nachtkästchen findet sich jedenfalls ein Spiel Karten – wir sind ja beim Pfarrer. So lange die Geschichte da draußen dauert, wollen wir ein paar Partien Piquet machen.« Alienor war es zufrieden. Man zündete die Kerze an, die Karten fanden sich in der That und nun fingen die Beiden in Einem Bette liegend – Jeder mit dem Kopfe am Fußende des Anderen – auf der Decke zu spielen an. Sie hatten genau sieben Partien gemacht, bis draußen die letzte Nummer an die Reihe kam.

Als der einlullende Refrain »Hu-Hu-Hu!« zum letzten Male erklang, sank Alienor richtig, vom Schlafe überwältigt, mit dem Kopfe Leon zu Füßen; in der nächsten Minute war auch Leon eingeschlafen und in der dritten erlosch die ausgebrannte Kerze. Ein Genrebild, des Pinsels eines Munkacsy würdig: zwei Nachtschwärmer, die Beine kreuz und quer über einander hingeworfen, mit verstreuten Kartenblättern zugedeckt, von dem qualmenden, ab und zu noch einmal aufflackernden Dochte des tief in den Leuchter hineingebrannten Kerzenstümpfchens beleuchtet. –

Wenn das Fürst Oktavian hätte sehen können!

*


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