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Fünftes Buch.

Gleißende Gefahr.

Ein halbes Jahr war seit dem Ableben der Fürstin Madeleine von Etelvary verflossen. Die Familie legte die Volltrauer ab, die schwarzen Spitzen machten weißem Aufputze Platz. An demselben Tage wurde auch das Testament der Fürstin durch die Amtspersonen in Gegenwart der Zeugen und der berufenen Erben eröffnet und publizirt.

Die Fürsorge der Fürstin erstreckte sich auf Jedermann. Auch Madame Corysande konnte zufrieden sein; es war ihr eine lebenslängliche Jahresrente ausgeworfen.

Für Livia war durch eine großartige Stiftung Sorge getragen. Die Fürstin hatte das Patrocinium über das Nonnenkloster zur heil. Elisabeth zu Zajna geübt. Diesem Konvente nun vermachte sie ein namhaftes Legat unter der Bedingung, daß mit der eben erledigten Würde der Oberin ihre fromme Ziehtochter Livia bekleidet werde. Sie machte das heilige Mädchen zur Aebtissin.

Unmittelbar nach Livia war von Napoleon Zarkany die Rede. Livien pochte das Herz wie im Fieber. Die Fürstin hatte ihr Testament selber diktirt. Es waren ihre eigenen Worte, die da verlesen wurden.

Sie athmeten Zärtlichkeit und Liebe; Verfügung war indessen keine getroffen; sie empfahl Leon einfach der Liebe ihres Gemahls. Diese war ihr einziges Vermächtniß an ihn. Sie machte keinerlei, auf Raphaela bezügliche Anspielung; sie kannte die stolze Natur ihrer Tochter; sie wußte, daß diese wohl im Stande sei, aus eigener Wahl, aus Liebe sich zu eigen zu geben, daß sie sich aber nimmermehr verschenken lassen würde, von Niemandem, selbst von einer Todten nicht.

Livias Herzklopfen ließ nach und an die Stelle ihres Bebens trat wieder Muth.

»So wären wir denn beide Bräute,« sprach Raphaela seufzend, als sie mit Livien in ihr Zimmer zurückkehrte. »Mein Bräutigam ist nur ein irdischer Fürst, der Deinige ist der König des Himmels. Ich habe mich mit meiner Zukunft bereits abgefunden ... Und Du?« Livia antwortete nicht, aber sie schüttelte verneinend den Kopf. »Wie? Du nicht? Du nimmst das Legat, die glänzende Stellung nicht an? Du willst nicht Aebtissin werden? Du weisest die Würde von Dir?«

»Ich fühle mich weder befähigt, noch auch tugendhaft genug für diese Stellung. Verstoßen Sie mich! – Ich will nicht Nonne werden!«

Auf diese Worte schloß Raphaela Livien mit leidenschaftlichem Ungestüm in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ich Dich verachten, weil Du nicht Nonne werden willst? Weil Du auf die glänzende Stellung verzichtest, um welche sich Hunderte von den Töchtern vornehmer Familien wetteifernd bewerben? Ich liebe, ich umarme Dich um dieses Wortes willen; Du weisest die Wohlthat des Testamentes zurück. – Je nun, ich sage Dir Dank für diesen Entschluß! Du hast durch denselben eine große Last von mir genommen. Im entgegengesetzten Falle hätte ich es eigens unternehmen müssen, Dich zur Resignation zu bewegen, und es würde mich keinen geringen Kampf gekostet haben, eine reine Seele davon zurückzuhalten, daß sie sich dem Himmel weihe, und sie hierher zurückzuführen in unsere sündige Welt. Es ist gut, o, es ist sehr gut so! Du willst selber nicht ins Kloster gehen, selbst als Aebtissin nicht; Du willst Dich vielmehr, wenn die Zeit gekommen sein wird, dem Berufe des Weibes unterziehen, allen seinen Lasten, seinen Leiden, seinen Enttäuschungen; Du willst lieber Entbehrungen aller Art erdulden, Du willst Dich, wenn es sein muß, lieber selber opfern. – So liebe ich Dich.«

Und ihre Küsse bewiesen, wie sehr sie die Gespielin liebte. »Siehst Du, ich werde auch heirathen,« fuhr Raphaela seufzend fort; »wenn ich mir aber so überdenke, was da meiner wartet, so überwältigt mich beinahe das Verlangen, selber die Stelle einzunehmen, welche Dir bestimmt war, und mich Deinem Bräutigam anzutrauen.«

Dann versank sie, den schönen Kopf gedankenvoll gesenkt, in langes Schweigen. Sie blickte zum Fenster hinaus und seufzte. »Nur noch drei Monate lang soll ich hier bleiben. Dann soll unsere Hochzeit sein. Ich bin's zufrieden; ich werde mich in Alles finden. Ich will von meinem Gatten nicht verlangen, daß er ein Engel sei, und was Andere für Fehler halten, will ich für menschliche Angewöhnung nehmen. Ich will gehorsam sein und anspruchslos. Ich will mich bestreben, unwissend zu bleiben und will keinerlei Zwischenträgern mein Ohr leihen. So werde ich mir Ruhe sichern. Mein eigenes Schicksal bekümmert mich nicht eben sehr; was aber soll aus meinem Vater werden, wenn ich von seiner Seite gehe? Ich war bisher das einzige Wesen, welches sein Dasein erheitert. Er vermag keinen Abend einzuschlafen, wenn er mich nicht zuvor geküßt hat. Ich bin nicht erzogen worden, wie andere Kinder vornehmer Häuser, die ihr Vater nur an besonderen Feiertagen zu Gesichte bekommt, mit denen die Eltern nur ab und zu und immer nur zu dem Behufe ein Gespräch führen, um zu kontroliren, welche Fortschritte sie mit der Gouvernante im Englischen gemacht haben. Ich hing schon als kleines Kind immer an meines Vaters Halse. Er nahm mich überall hin mit sich, wenn er verreiste; er zog mir alle Morgen selbst die Schuhe an. Er selbst lehrte mich das ABC. Er bewahrte jedes meiner Kleidchen auf, dem ich entwachsen war; sie hängen sämmtlich noch heute gleich einer Sammlung von lieben Andenken in einem Schranke beisammen. Seine Melancholie wurde nur dann erträglicher, wenn ich in sein Zimmer trat. Da er des Nachts nur sehr wenig schlafen konnte, pflegte er den Entgang durch Nachmittagsruhe zu ersetzen. Diese brachte ihm aber wieder in der Regel allerlei Traumgesichte; die Träume der Herzkranken sind stets entweder wonnevoll oder schreckhaft. So mußte ich denn an seinem Lager wachen und auf sein Mienenspiel, seine Athemzüge, seine abgebrochenen Worte lauschen, um daraus zu erkennen, was er träume, ob ihn nicht etwa Schrecken und Entsetzen peinigten, und ihn in diesem Falle zu wecken. Wer soll ihn nun hinfort wecken, wenn ihn beängstigende Träume quälen?«

Raphaela ließ sich nun tief bekümmert am Schreibtische nieder, auf welchem das Bild ihres Vaters stand. »Wenn er sich selber überlassen bleibt, lebt er kein Jahr lang mehr,« flüsterte sie vor sich hin.

Die folgenden Tage ging häufig die ganze Familie zusammen im Park spazieren: Raphaela, Livia und der verwittwete Fürst.

»Wir wollen Beide meinen guten Vater führen,« pflegte Raphaela zu sagen und dann nahmen sie Beide, die Eine rechts und die Andere links seinen Arm. Sie suchten Herbstveilchen unter dem gefallenen Laube; ab und zu waren deren bereits einige aufgeblüht; sie sammelten alle, die sie fanden, zu einem Sträußchen und Raphaela steckte sie dem Fürsten ins Knopfloch. »Ist mein Vater nicht ein allerliebster kleiner Dandy, Livia?«

Endlich traf Alienor ein. Er kam von Wien und hatte Raphaelen Geschenke mitgebracht. Raphaela nahm ihm übel, daß er nicht auch Livien bedacht habe und bestand darauf, die Sachen mit ihr zu theilen. Denselben Tag Abends fand eine Familien-Conferenz zu Dreien, ohne Livia, statt. Des andern Morgens stiegen alle Vier zu Wagen und fuhren nach dem alten Schlosse hinüber, um die Familiengruft zu besuchen. Das Marmor-Denkmal der Fürstin Madeleine war bereits errichtet. Auf dem steinernen Sarkophage war die Statue der Verewigten, in liegender Stellung, ein Meisterwerk der Bildhauerkunst, sichtbar. Sie beteten und weinten am Grabmale. Der Fürst küßte die Stirne der Statue.

Raphaela und Livia trugen jede eine weiße Rose im Haar; die Prinzessin nahm sie aus Beider Haaren und legte sie in die übereinandergefalteten Hände der Statue. Dann küßte sie die Hände und Livia that desgleichen.

Abends war Madame Corysande übler Laune und sprach einige Worte, die sie zufällig an Livia richtete, in unwirschem, befehlendem Tone – wie das übrigens von jeher so ihre Gewohnheit war. Des anderen Tages am frühen Morgen erschien Herr Dumka bei Madame Corysande, übergab ihr in einer schönen neuen Lederbörse einen ganzjährigen Betrag des Gnadengehaltes, welchen ihr das Testament der Fürstin aussetzte und meldete ihr, daß der Reisewagen zu ihrer Verfügung stehe, sobald sie das Schloß verlassen wolle. Madame Corysande war nicht wenig betreten; als den Urheber der fürstlichen Ungnade hatte sie aber weit mehr Alienor in Verdacht, als irgend jemand Anderen; als sie bei der Prinzessin erschien, um sich zu verabschieden, fand sie außer Livia auch Alienor daselbst; gleichwohl beherrschte sie sich, verrieth keinerlei Empfindlichkeit, sprach einige wohlgesetzte Dankesworte und verschonte die Gesellschaft mit jedweder theatralischen Scene. Livia empfand Bedauern mit ihr; sie wollte ihr folgen, als sie ging; sie fühlte, daß es der Scheidenden wohlthun werde, wenn sie Jemanden von Denen umarmen könne, die hier blieben; allein Raphaela ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.

Als kurz darauf die Damen in Alienors Begleitung die Treppe hinabgingen, verrenkte sich Alienor fast die Beine vor lauter Bestreben, bei jeder Wendung Livien zur Rechten gehen zu lassen. Livien fiel es auf, daß Alienors bisherige kokette, galante Manier plötzlich in ehrfurchtsvolle Aufmerksamkeit umgeschlagen war.

Im Laufe des Tages ritten die Herrschaften aus; alle Vier: Raphaela, Livia, der Fürst und Alienor. Raphaela ließ ihrem Vater und Livien den Vortritt. »Wie prächtig das liebe Geschöpf zu Pferde sitzt –« bemerkte sie hörbar genug zu Alienor.

Bei Tische erschienen nur die vier Familienglieder. Weder der Arzt, noch der Probst, noch Herr Dumka waren heute geladen. Die Conversation ging ziemlich schleppend von Statten. Wer irgend ein Thema anschlug, hatte dasselbe augenscheinlich nur nothgedrungen aufgegriffen, Denken und Sinnen war offenbar bei ganz anderen Dingen. Alienor verstieß nicht weniger als dreimal gegen das Verbot, von den Kriegsgerüchten zu sprechen, und jedesmal unterbrach ihn ein sanfter, aber entschiedener Wink der Prinzessin; man durfte den Fürsten durch derlei Nachrichten nicht aufregen.

Nach Tisch erhielt Alienor die Erlaubniß, sich irgendwohin zurückzuziehen, um eine Cigarre zu rauchen. In den Gemächern war das Rauchen nicht gestattet. Die Stunde unmittelbar nach Tisch war für den Fürsten die glückliche Zeit, wo ihn der Schlaf überkam, der ihn des Nachts mit seltenen Ausnahmen zu meiden pflegte. Der Fürst pflegte dann das müde Haupt auf die Rücklehne des Armstuhles zu neigen, ein eigener Mechanismus legte die Lehne zur Hälfte nach rückwärts um, so daß der Sitzende nunmehr in halb liegender Stellung schlafen konnte. Es sind das kostbare Augenblicke, die sorgsam wahrgenommen werden müssen. Die beiden Mädchen blieben an seiner Seite.

Abends wurde eine Whistpartie arrangirt. Als man sich eben an den Spieltisch setzen wollte, lief an Alienor ein Telegramm von seinem Vater ein, in welchem dieser ihm befahl, sofort mit Separatzug nach Hause zu kommen. Es sei Gefahr im Verzuge. Alienor mußte sich demnach augenblicklich reisefertig machen.

»Das Spiel erleidet dadurch keine Störung,« sagte Raphaela, als ihr Bräutigam Abschied nahm (als ob das der größte Verlust wäre, den seine Abreise hätte bringen können). »Wir spielen zu Dreien, mit einem Strohmann.«

Der Fürst freute sich über den Antrag wie ein Kind. »Ja wohl, wir spielen zu Dreien!«

»Mein Partner ist der Strohmann.« Der Fürst seufzte. – Selbst in einem Seufzer kann Sarkasmus liegen. Dieser wollte offenbar besagen: »Das fürchte ich auch!«

»Du und Livia spielet zusammen.«

Der Fürst mischte die Karten, ließ aber dabei das ganze Spiel zu Boden fallen. »Ah was Du doch ungeschickt bist im Kartenmischen.«

Die Bekümmerniß des Fürsten, um derentwillen er zuvor geseufzt hatte, war im Augenblick bereits gegenstandslos geworden. Raphaelen war es nicht mehr anheimgestellt, den Strohmann zu wählen, oder abzuweisen. Den entführte bereits sein erlauchter Vater auf Nimmerwiederkehren. Die entwendete Depesche hatte bereits ihre Wirkung gethan. Die Verlobung wird gelöst werden. Alienor hat zur Stunde bereits begründete Aussicht, zwei fürstliche Wappen vereint zu führen: eine Wogennymphe in dem einen, einen wilden Mann in dem andern; Beide harren mit Sehnsucht des Augenblicks, einander in die Arme zu sinken.

Als der Fürst die Karten zu Boden fallen ließ, beugte sich zunächst Raphaela nach denselben nieder; das wollte natürlich Livia nicht geschehen lassen und bemühte sich ihrerseits sie aufzulesen – was aber wieder der Fürst nicht zugeben konnte. So fanden sich denn im Augenblicke alle Drei – unter dem Tische zusammen, eine Situation, über welche sie dann alle Drei recht herzlich lachten. – Sonst wäre es vom Fürsten geradezu eine Vermessenheit gewesen, sich zur Erde niederzubeugen; heute wandelte ihn dabei nicht einmal ein leiser Schwindel an.

Das Spiel dauerte heute lange. Dem Fürsten machte es außerordentliches Vergnügen, daß er und Livia Raphaelen und ihrem Strohmann eine hübsche Summe Geldes abgewannen. Schließlich mußte Raphaela ihren Vater darauf aufmerksam machen, daß es wohl bereits Zeit sei, an die Nachtruhe zu denken. Als sie endlich von einander gingen, umarmte und küßte Raphaela ihren Vater mit vieler Liebe; mit denselben Aeußerungen der Zärtlichkeit schied sie auch von Livia.

Des andern Morgens weckte Raphaela Livien frühzeitig.

Als sie vom Frühstücktische aufstanden, schlang Raphaela ihren Arm um Livia's Schultern und nahm sie mit sich in ihr Zimmer; daselbst nöthigte sie sie, sich auf den Balzac niederzulassen.

»So. Und nun setze Dich mir gegenüber. Du darfst aber nicht lachen – ich will sehr ernsthaft mit Dir reden. Und vor Allem nenne mich nicht Prinzessin.«

»Gut denn; also Mamachen.«

»Nichts da, nicht Mamachen. Du bist kein kleines Kind mehr; Du bist ein erwachsenes, heiratsfähiges Mädchen. Und ich will Dich verheirathen.«

»Ah! –«

»Mache mir doch kein so kindliches Gesicht, sonst fällt mein ganzes Projekt über den Haufen. Wenn Du lachst, werde ich traurig. – Glaubst Du mir, daß ich Dich liebe?«

»O, das weiß ich gewiß, Prinzessin!« »Schon wieder ›Prinzessin‹!« »Liebe Raphaela!« »So recht. Also wie liebe ich Dich?« »Wie eine liebe Schwester.« »Nicht genug; ich liebe Dich mehr! Ich liebe Dich, wie eine theure Mutter! Livia – ich – will Dich zu meiner Mutter machen.« »Prinzessin!« »So nenne mich mit meinem Namen. – Ich gebe Dir meinen Vater.«

Livia verlor bei diesem unerwarteten Blitzschlage all' ihre Gedanken.

»Du hast mich wohl nicht verstanden? Ich will, daß Du die Gattin meines Vaters werdest ... Warum wirfst Du mir so entsetzensvolle Blicke zu? Habe ich denn einer so ungeheuerlichen Idee Ausdruck gegeben? Mein Vater ist fünfzig Jahre – Du bist zwanzig alt; Du könntest seine Tochter sein, wie ich es bin. Ich könnte einen Mann, wie er ist, wohl mit allen Kräften meiner Seele lieben. Ist es denn aber Liebe, was ich von Dir verlange? Mit nichten – ich bitte Dich ja nur um Zärtlichkeit für ihn. Alle Welt, mein Vater selbst kennt den Wahrspruch der Aerzte. Er ist vor dem Tribunale der Wissenschaft zum Tode verurtheilt. Das Verdikt lautet: Bei normalem Verlaufe der Dinge könne er noch ein Jahr lang leben, bei besonders sorgsamer, zärtlicher Pflege vielleicht auch noch zwei Jahre lang; dagegen könne ihn ungewöhnliche geistige Aufregung, jede heftigere seelische Bewegung binnen wenigen Stunden tödten. Kann ich sonach an irgend etwas Anderes denken, als wie ich sein theures Leben erhalte? Sei Du seine Wohlthäterin, ein Engel dem Armen und Elenden. O, nimm meinen armen Vater zum Gemahl!«

Livia dachte, der Himmel müsse über sie hereinstürzen, die fallenden Gestirne müssen sie zerschmettern. Sie fühlte sich wehrlos wie ein Kind einem Riesen gegenüber.

Raphaela erwartete übrigens keine Antwort; sie fuhr fort: »Ich weiß, daß ich Dich mit diesem meinem sehnlichen Wunsche überrascht habe, ich sehe Deine Zweifel, Deine Bedenken, – ich habe ja selber auch mit ihnen gekämpft. Erinnere Dich, was ich Dir sagte, als ich Dich unmittelbar nach dem Tode meiner guten Mutter wieder sah. Schon damals habe ich daran gedacht, was aus meinem armen Vater werden solle, wenn dereinst auch ich ihn verlasse. Weshalb, meinst Du wohl, richtete ich meinen Blick auf Dich? Es giebt doch ebenbürtiger Frauen genug in der Welt, die mit beiden Händen nach seiner Hand greifen würden; vielleicht auch sollte er eine Gattin suchen, deren Alter dem seinigen angemessener wäre. Allein ich kenne die unfriedfertige Natur unseres Geschlechtes; alle die Frauen meiner Bekanntschaft wären für ihn die Hölle auf Erden, sie würden ihn mit ihren Launen quälen und eine Frau, die seine makellose Ehre nicht sorgsam wahren wollte, würde er tödten. Ihn kann nur ein Wesen besitzen, welches einem Altarbilde gleich eingeht in sein Heiligthum; nicht ein Weib, sondern eine Schutzheilige. Und das bist Du. In Dir vereinigen sich alle Vollkommenheiten, von Dir sind alle Mängel fern. Du hast niemals auch nur mit einem Seufzer verrathen, daß Dein Herz irgend einen geheimen Wunsch hege. Du hast mir ja selber gesagt, ich sei Dir mehr, denn eine Schwester, ich sei Dir eine Freundin gewesen. Liebtest Du Jemanden, so hätte ich eher darum wissen müssen, als Du wohl selbst. Ich halte Dich so ganz ungeheurer Verstellung ganz unfähig, daß Du mir ein solches Geheimniß hättest verhehlen können. Das wäre ein Schmerz für mich, den ich Dir niemals verzeihen könnte.«

(Ach, kann denn ein Mädchen einem andern, welches es für seine Nebenbuhlerin hält, gestehen, daß es liebe? Und Livia hält Raphaelen zur Stunde noch für ihre Nebenbuhlerin!)

»Ich dachte,« fuhr Raphaela fort: »das ist ein weibliches Wesen, wie es nicht wieder zu finden ist, es wäre denn, man betete es sich unmittelbar vom Himmel herab; für jeden seiner Gedanken von seiner zartesten Jugend an vermag ich zu bürgen. Ein Mädchen, welches auch bisher ein Glied unserer Familie, auch bisher der Liebling meines Vaters gewesen ist. Wenn ich unartig war, pflegte er zu sagen: ›Sieh doch, wie brav Livia ist!‹ Er liebt Dich. Als ich ihm meine Idee vortrug, küßte er mich dafür und sagte: ›Du hast Recht. Es würde sich doch nur ihr Titel ändern. Die Welt würde sie für meine Gattin ansehen und ich bliebe doch ihr Vater auch fortan. Ueberdies würde sie ja ihre Bande nicht lange tragen. – In ihrem schönsten Mädchenalter würde sie wieder frei sein. Fragt sich nur, ob sie nicht durch eine glückliche Erinnerung gebunden ist?‹«

Livien schwindelte; die ganze Welt flimmerte ihr vor den Augen.

»Rede nicht. Ziehe nicht die Augenbrauen zusammen, sinne nicht, was Du antworten sollst. Ich kenne alle Deine Bedenken. Ich ringe ja auch selbst seit Monaten mit denselben. Sieh diese Briefe, welche ich an unsere Verwandtschaft, an meine Tanten geschrieben habe, und lies die Antworten darauf. Ich habe vornhinein erkundet, wie es die Gesellschaft wohl aufnehmen werde, wenn mein Vater seine Pflegetochter heirathet. Du magst lesen, was man darauf erwiderte; Du sollst wissen, wie man über Dich denkt. Offene, aufrichtige Achtung ist bereit, Dich in den hohen Kreisen der Geburtsaristokratie zu empfangen. ›Der hohe ungarische Adel kennt eine Scheidewand nur gegenüber einem unedlen Vorleben‹ – sagt das eine dieser Schreiben. Ein anderes führt Beispiele an, welche zur Nachahmung ermuthigen. Mehrere unserer weiblichen Anverwandten aus gräflichem Geblüte hast Du in der letzten Zeit selber in unserem Schlosse gesehen – sie waren Alle zur Brautschau hier; und Du hattest keine Ahnung davon, daß sie gekommen waren, Dich zu beurtheilen. Sie sind sammt und sonders für Dich eingenommen von hier gegangen und haben mir Glück gewünscht zu dieser meiner Eingebung ... Die Letzten, denen ich den Plan mitgetheilt habe, waren die Nornensteins. Vorgestern brachte uns Alienor die Antwort seines Vaters. Der stolze Pracz von Nornenstein ist gerne bereit, sich mit Ehrerbietung vor dem Adel des Herzens zu beugen; Fürst Oktavian wünscht, daß ich bereits den Segen einer Mutter mit mir nehme, – Deinen Segen, – wenn ich mit seinem Sohne vor den Altar trete.«

Livien schwanden die Sinne; sie sank ohnmächtig vom Sopha zu Boden.

Als ihr das Bewußtsein wiederkehrte, fand sie sich in ihrem eigenen Zimmer im Bette; Raphaela und der Arzt standen neben ihr.

Als sie die Augen aufschlug, küßte Raphaela sie zärtlich auf Stirne und Lippen.

»Was Du doch ein Kind bist!« sprach sie in verweisendem Tone. »Nicht wahr, Herr Doctor es wird weiter keine Folgen haben?«

Der Arzt gab die Versicherung, der Fall sei durchaus nicht besorgnißerregend. Eine häufige Erscheinung bei jungen Mädchen: eine Unregelmäßigkeit in der Blutzirkulation. Derlei braucht gar keine Arznei; es geht von selbst wieder vorüber.

»Bitte, Herr Doctor, gehen Sie doch zu meinem Vater und beruhigen Sie ihn.«

Als sie dann mit Livien allein war, fragte sie: »Wünschest Du etwas, Liebe?«

»Schlafen!« stammelte das Mädchen.

Raphaela ließ selber die Vorhänge an den Fenstern herab und legte ihr die Kissen unter dem Kopfe zurecht. Livia faßte Raphaela's beide Hände und drückte sie an die Lippen.

Raphaela sprach kosend: »Heute küssest noch Du mir die Hand; morgen bereits ich Dir.« Dann ließ sie sie allein, damit sie schlafen könne.

Doch das arme unglückliche Mädchen vermochte nicht zu schlafen. Sie konnte nur, das Gesicht wider das Kissen gepreßt, weinen, in Verzweiflung die Hände ringen und den dünnen Platinareifen vom Finger ziehen, um sich bei ihm Rathes zu erholen und ihn mit Küssen zu bedecken.

Des andern Morgens, als Raphaela Livien in deren Zimmer aufsuchen wollte, um sie zu ihrer gewohnten Najaden-Excursion abzuholen, fand sie das Gemach leer und auf Liviens Tisch einen Brief, der an sie adressirt war.

Sie löste rasch das Siegel und las: »Angebetete Prinzessin! Verstoßen Sie mich und tilgen Sie mich aus Ihrem Andenken. Ich kann nicht länger bleiben – ich muß fliehen. Erachten Sie mich gleich einer Gestorbenen. Ich bin unglücklich, aber nicht undankbar. –«

Weiter kein Wort.

Wann sie gegangen war, welchen Weg sie genommen hatte? – Niemand wußte es zu sagen.

*


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