Emanuel Geibel
Klassisches Liederbuch
Emanuel Geibel

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An Lyde.

            Gott Merkur, du Meister, von dem Amphion
Durch sein Spiel selbst Steine zu rühren lernte,
Und du wohllautmächtige, siebensaitig
        Tönende Leier,

Stumm noch jüngst und wenig gesucht, doch heute
Froh begrüßt bei Mählern und Götterfesten,
Gib ein Lied mir, welchem das Ohr der harten
        Lyde sich neige,

Die nach Art dreijähriger Füllen wild noch
Schweift und zaumlos, keine Berührung duldend,
Süßer Brautlust fremd und dem Wunsch des feurig
        Werbenden spröde.

Du vermagst ja reißend Getier und Wälder
Nachzuziehn, du hemmest im Lauf den Sturzbach,
Ja den Torwart drunten am Styx, den grausen
        Cerberus zwangst du,

Dir entzückt zu lauschen, wiewohl von hundert
Nattern rings sein Furienhaupt umstarrt war,
Und der dreifach züngelnde Rachen gräßlich
        Geifer und Qualm schnob.

Selbst Ixions, Tithos' finstre Züge
Überflog's wie Lächeln, es stand mit trocknen
Eimern plötzlich Danaus' Schar, vom süßen
        Zauber gefesselt.

Hör, o Lyde, höre der Schwestern Untat
Und das Los, das ihnen dafür am leeren
Faß verhängt ward, welchem die Flut nach unten
        Ewig entrieselt.

Ihre Schuld abbüßen sie dort, die Argen,
Die verrucht in nimmer erhörtem Frevel,
Die verrucht ihr Eisen ins Herz der eignen
        Gatten gestoßen.

Eine nur von allen, der Hochzeitfackel
Würdig, brach, hochsinnige Falschheit übend,
Ihrem falschen Vater das Wort, und ewig
        Preist sie die Nachwelt.

Auf! so weckt' ihr Ruf den verfemten Jüngling,
Auf, damit nicht ewiger Schlaf, von wannen
Du's nicht ahnst, dir nahe! Den eignen Schwäher
        Fürcht' und die Schwestern,

Die entmenscht, wie Löwinnen junge Stiere,
Mann für Mann hinwürgen, doch sieh, ich kann's nicht;
Keinen Mordstahl hab' ich für dich und keine
        Bande, Geliebter.

Mag mich schwer mit Ketten der Zorn des Vaters,
Weil ich dein mich, Ärmster, erbarmt, belasten!
Mag er fern mich über das Meer ins Land der
        Wüste verbannen!

Flieh, o flieh mit eilendem Fuß und Segel!
Noch sind Nacht und Liebe dir hold; es schütze
Dich ein Gott, und meinem Gedächtnis schenk' einst
        Tränen der Wehmut.


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