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X. Kapitel

Als Summerhay auf ihre Worte hin das Zimmer verließ, preßte sich Gyps Herz zusammen. Den ganzen Vormittag hatte sie versucht, ihre verzweifelte Eifersucht im Zaum zu halten, und nun, bei der ersten Gelegenheit, war sie dennoch ausgebrochen. Es ging über ihre Kraft. Tag für Tag in der Gewißheit zu leben, daß er in London entweder das Mädchen sah, oder sich zwang, es nicht zu sehen! Und dann, bei seiner Heimkehr, die gleiche für ihn zu sein, die sie gewesen, sich nichts anmerken zu lassen, – wird ihr das je möglich sein? Liebte er sie wirklich, wie konnte er auch nur eine Sekunde zögern? Mußte ihn nicht sogar der Gedanke an das Mädchen abstoßen? Er hätte ihr das gezeigt, es nicht nur unter anderen wilden Worten gesagt. Worte waren sinnlos, wenn sie durch die Tat widerlegt wurden. Sie, die mit jeder Faser ihres Lebens liebte, vermochte nicht zu begreifen, daß ein Mann eine Frau wahrhaft lieben und begehren und sich dennoch von einer anderen angezogen fühlen kann.

Wäre das Leben weniger entsetzlich, wenn sie ihn verließ, nach Mildenham zurückkehrte? Ein Leben ohne ihn?! … Unmöglich! Das Leben mit ihm? Offenbar ebenso unmöglich. Sie hatte einen Punkt der geistigen Qual erreicht, da ihr Geist nicht mehr wirklich arbeitete, sondern hilflos von einer Alternative zur anderen jagte, keinen Entschluß fassen Konnte. Sie fuhr fort, sich mit Kleinigkeiten zu beschäftigen, stopfte einen seiner Handschuhe, sortierte Rechnungen und Briefe, bürstete den alten Ossy, rieb ihn mit Salbe ein.

Um fünf Uhr, da sie wußte, die kleine Gyp werde bald von ihrem Spaziergang zurückkehren, und sie sich unfähig fühlte, die Heiterkeit des Kindes zu ertragen, verließ sie das Haus und strebte dem Fluß zu. Die Windstille war vorüber, von neuem stöhnte der Südwest durch die Bäume, am blaßblauen Horizont ballten sich dichte Wolken. Sie stand am Fluß, betrachtete das graue Wasser, auf dem Blätter und abgerissene Zweige schwammen, die windgeschüttelten Äste der Weiden. Und jählings erfaßte sie Sehnsucht nach dem Vater; er allein konnte ihr helfen – freilich nur ganz wenig – durch seine Ruhe, seine Liebe, seine bloße Gegenwart.

Sie wandte sich um und schritt zurück, dachte angestrengt nach. Konnten sie nicht wegfahren – eine Reise um die Welt machen? Wird er dafür seine Arbeit aufgeben? Darf sie es wagen, ihm diesen Vorschlag zu machen? Aber wird nicht auch das nur ein Hinausschieben sein? Wenn sie ihm jetzt nicht genügt, wie wird es erst sein, wenn er seiner Arbeit beraubt ist? Dennoch war es ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.

Sie erreichte das Ende der Felder, die sie die »Wildnis« nannten. Rosiges Licht färbte die weißen Wolkenmauern, die sich im Osten über dem Fluß türmten; über ihnen zeigte sich am blauen Himmel, blaß und gespenstisch, der Mond. Alles leuchtete in seltsam wilden Farben. Die Eichen hatten noch nicht alle Blätter verloren, schimmerten im Scheine der untergehenden Sonne golden mit grünen Reflexen, die halbkahlen Buchen flammten kupfern, die Eschen glühten rot. Ein einzelnes windverwehtes Blatt wirbelte vor Gyp auf, kreiste, flog im Sturme höher und immer höher, bis es schließlich verschwand.

Der Regen hatte das hohe Gras durchfeuchtet, sie schickte sich an, heimzugehen. Bei dem Tor, neben der Ruine, stand ein Pferd. Es wieherte ihr entgegen: Heißsporn, gesattelt, gezäumt, ohne Reiter! Weshalb? Wo war er? … Hastig öffnete sie das Tor und sah Summerhay im Schlamme liegen – auf dem Rücken, mit weit offenen Augen, Stirn und Haar blutüberströmt. Gott! O Gott! Einige Blätter waren auf ihn herabgefallen. Seine Augen waren gebrochen, kein Atem kam über seine Lippen, sein Herz klopfte nicht. Die Blätter waren sogar auf sein Gesicht gefallen – in das Blut, das seinen armen Kopf überrann. Gyp versuchte ihn aufzuheben – er war steif, eiskalt. Sie schrie auf, umschlang mit allen Kräften den erstarrten Körper, küßte ihm Lippen und Augen, die geschundene Stirn, drückte ihn an sich, wollte ihn wärmen, ihr eigenes Leben in ihn überströmen lassen, bis endlich auch sie hinsank, den Körper an seinen kalten Körper gepreßt, im Schlamm und zwischen den abgefallenen Blättern. Der Wind rauschte im Efeu und trug mit sich den Geruch des Regens. Unruhig neigte das Pferd den Kopf über Gyp, beschnüffelte sie, sprang zurück, wieherte auf und galoppierte wild davon …

Der alte Pettance, der auf Summerhays Rückkehr wartete, hörte das ferne Wiehern und schritt zum Gartentor, starrte mit den kleinen Augen in die untergehende Sonne. Er sah ein reiterloses Pferd in der »Wildnis« galoppieren, wo kein Pferd etwas zu suchen hatte, und dachte: »Der schlaue Teufel ist dem Herrn ausgebrochen. Jetzt muß ich ihn fangen.« Er ging zurück, holte etwas Hafer und machte sich auf die steifen Beine. Es war charakteristisch für den alten Reiter, daß er an keinen Unfall dachte. Der Herr war zweifellos abgestiegen, um das schwere Tor zu öffnen. Das Pferd war doch ein rechter Gauner! Er hatte ihm seine Mucken noch immer nicht verziehen.

Eine halbe Stunde später stürzte er in die erhellte Küche, keuchend, zitternd, Tränen rannen über seine gefurchten Wangen in die Winkel des Regenspeiermundes. »O mein Gott! Holt den Farmer – eine Tragbahre. O mein Gott! Betty, Sie und die Köchin – ich kann sie nicht von ihm fortbekommen. Sie sagt kein Wort. Ich habe sie angerührt, sie ist ganz kalt. Kommt doch rasch, ihr Schlampen, rasch! Der arme Herr! Das Pferd muß direkt in die Ruine hineingaloppiert sein, hat ihn getötet. Ich habe die Spuren auf dem Teufelspferd gesehen, es hat sich die Schulter an der Mauer verletzt. O mein Gott! Kommt – kommt! Bringt eine Tragbahre, sonst stirbt sie auch dort, neben ihm, im Schlamm. Legt das Kind zu Bett, holt einen Arzt und telegraphiert dem Major nach London, er soll sofort kommen. Hol euch der Teufel, verliert doch nicht den Kopf! Was nützt da Jammern und Heulen!«

Der Mondschein und das Licht einer Laterne fielen auf das raunende Feld, die alte Steinruine, das Tor, den Morast, die goldenen Blätter und die zwei verschlungenen reglosen Gestalten. Gyp hatte das Bewußtsein verloren, es war kein Unterschied zwischen ihr und ihm. Nach einer kleinen Weile schritt im Wind und im Mondlicht ein Zug über das Schilfgras – zwei Tragbahren, die eine von zwei Männern, die andere von zwei Frauen und einem Mann getragen, hinter ihnen der alte Pettance, der das Pferd führte …


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