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XXI. Kapitel

Noch angenehm erhitzt von dem im Sattel verbrachten Morgen, begab sich Gyp am Mittag nach der Hütte. Es war einer jener Spätseptembermorgen, da die durchwärmte Luft von den Stoppelfeldern aufsteigt und die Hecken noch im Tau schimmern. Der kürzere Weg führte durch Felder, an der Dorfweide vorbei, wo auf dem blühenden Stechginster Wäsche trocknete. Die Straße überquerend, betrat sie den Garten, wo an den niederen roten Ziegelmauern und unter bereits gilbenden Pappeln Gänseblümchen und Sonnenblumen in großer Fülle blühten. Ein leerer Sessel, auf dem ein offenes Buch lag, stand vor dem einen Fenster. Das einzige Lebenszeichen war der aus dem Schornstein aufkräuselnde Rauch. Unschlüssig vor der halb geöffneten Tür stehend, empfand Gyp diese Stille fast unnatürlich, allzu tief. Sie hob die Hand, um den Türklopfer zu erfassen, doch ließ ein unterdrücktes Schluchzen sie innehalten. Sie blickte durchs Fenster, sah eine grün gekleidete Frau, offenbar Frau Wagge, vor einem Tisch sitzen und in ihr Taschentuch weinen. Im gleichen Augenblick kam auch vom oberen Stockwerk leises Stöhnen. Gyp trat ins Haus und klopfte an die Tür des Zimmers, in dem die grün gekleidete Frau saß. Es wurde geöffnet, und vor ihr stand Frau Wagge. Nase, Augen und Wangen des mageren, säuerlichen Gesichtes waren rot, in ihrem grünen Kleid und dem grünlichen Haar (denn sie begann zu ergrauen und färbte sich das Haar mit einer gelben Flüssigkeit, die nach Kanthariden roch) erinnerte sie Gyp an die kleinen grünen Äpfel, die in der Sonne so unnatürlich rot werden. Ihr Gesicht wies glänzende Streifen auf, und sie hielt noch das zerknüllte Taschentuch in der Hand. Es war schrecklich, so frisch und lebensglühend vor diese arme Frau zu treten, die offensichtlich bitteres Leid quälte. Der Wunsch, zu entfliehen, überkam Gyp. Es erschien ihr furchtbar, daß jemand, der mit ihm in Verbindung stand, überhaupt herkam. Sie sagte sanft: »Frau Wagge? Bitte, verzeihen Sie … aber … gibt es etwas Neues? Ich bin … Ich habe Daphne hergebracht.«

Die Frau vor ihr schien von widersprechenden Gefühlen hin und her gezerrt zu werden, schließlich erwiderte sie mit einem Aufschluchzen: »Es … es … heute morgen kam es zur Welt … tot.«

Gyps Atem stockte. Dafür so viel leiden zu müssen! … Ihr ganzes Muttergefühl empörte sich und trauerte; dennoch sagte ihre Vernunft: »Es ist besser so, viel besser!«

Sie fragte: »Wie geht es ihr?«

»Schlecht, sehr schlecht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll – meine Gefühle sind ganz durcheinander. Alles ist so schrecklich.«

»Ist meine Pflegerin bei ihr?« –

»Ja. Eine eigensinnige Person, doch tüchtig, das kann ich nicht leugnen. Daisy ist sehr schwach. Oh, wie schrecklich ist das alles! Und nun wird es ein Begräbnis geben müssen. Die Sache nimmt kein Ende. Und alles wegen dieses … dieses Mannes!« Frau Wagge wandte sich ab und weinte von neuem in ihr Taschentuch.

Gyp schlich leise hinaus. An der Treppe blieb sie stehen, überlegte, ob sie hinaufgehen solle oder nicht, schließlich stieg sie leise die Treppe hinan. Im vorderen Zimmer mußte das arme Mädchen liegen – das Mädchen, das noch vor einem Jahr mit so viel naiver Wichtigkeit erörtert hatte, ob es wohl seine Pflicht sei, einen Geliebten zu nehmen. Die Pflegerin öffnete einen kleinen Türspalt; sie trat auf den Korridor, als sie sah, wer gekommen war.

»Sie sind's, Liebste?«, flüsterte sie. »Das ist nett.«

»Wie geht es ihr?«

»Verhältnismäßig gut. Sie wissen?«

»Ja! Darf ich sie sehen?«

»Lieber nicht. Ich verstehe sie nicht. Sie hat keine Energie, nicht die geringste. Ich glaube, sie will gar nicht gesund werden. Daran ist wohl der Mann schuld.« Und Gyp ansehend, fragte sie: »Ist es das? Hat er sie satt?«

»Ja.«

Die Pflegerin betrachtete Gyp von oben bis unten. »Es ist eine Freude, Sie anzusehen. Sie haben schöne Farben bekommen. Vielleicht könnte es ihr doch gut tun, Sie zu sehen. Kommen Sie herein.«

Gyp folgte ihr. Mit geschlossenen Augen, das blonde Haar noch feucht auf der Stirn, die weiße Hand auf der Decke gegen das Herz gepreßt, so lag sie da, die zerbrechliche Madonna der Liebkosungen! … Die einzige Farbe auf dem ganzen Bett schien der goldene Trauring am vierten Finger.

»Schauen Sie, Liebste, ich bringe Ihnen lieben Besuch.«

Daphne Wings Augen und Mund öffneten sich, schlossen sich aber rasch wieder. Der Gedanke durchzuckte Gyp: Armes Ding! Sie hat geglaubt, er sei es, und nun bin nur ich es. Dann sagten die weißen Lippen: »Oh, Frau Fiorsen, Sie sind's? … Wie freundlich von Ihnen.« Und die Augen öffneten sich wieder, doch diesmal mit einem anderen Ausdruck.

Die Pflegerin ging hinaus. Gyp setzte sich ans Bett, berührte schüchtern die weiße Hand.

Zwei Tränen rannen langsam über Daphnes Wangen.

»Es ist vorüber«, sagte sie kaum hörbar. »Und jetzt bleibt mir nichts. – Sie wissen, daß es tot ist. Ich will nicht leben. Oh, Frau Fiorsen, weshalb läßt man mich nicht auch sterben?«

Gyp neigte sich über sie, streichelte ihre Hand, sie vermochte den Anblick der langsam herabrollenden Tränen nicht zu ertragen. Daphne Wing fuhr fort:

»Sie sind so gut zu mir. Wenn nur mein armes, kleines Baby lebte.«

Gyp hob den Kopf und brachte mühsam die Worte hervor: »Mut! Denken Sie an Ihre Arbeit.«

»Tanzen?!« Sie lachte schwach. »All das scheint so lange her.«

»Ja, – doch wird alles wieder zurückkommen.«

Mit geschlossenen Augen und Lippen, alabasterweiß, erschien das Gesicht vollkommen schön, geläutert von allem Kleinlichen und Vulgären. Seltsam, daß dieses weiße Blumengesicht von Herrn und Frau Wagge abstammte!

Daphne Wing öffnete die Augen. »Oh, Frau Fiorsen, ich fühle mich so schwach. Und verlassen. Jetzt gibt es für mich gar nichts mehr.«

Gyp erhob sich, die Stimmung des Mädchens erfaßte auch ihr Herz, und sie fürchtete sich, es zu zeigen.

»Als die Pflegerin sagte, sie brächte mir einen Besuch, glaubte ich zuerst, er sei es. Jetzt aber bin ich froh, daß er es nicht war. Wenn er mich angeblickt hätte, wie er es früher getan hat, – ich wäre sofort gestorben.«

Gyp neigte sich über sie und berührte ihre feuchte Stirn mit ihren Lippen. Ganz schwach strömte ihr Orangenblütenduft entgegen.

Als sie wieder im Garten war, eilte sie fort, ging aber nicht mehr durch die Felder, sondern an der Hütte vorbei in das kleine Wäldchen. Hier ließ sie sich auf einen Baumstumpf nieder, preßte die Hände gegen die Wangen und die Ellenbogen gegen die Brust; sie starrte in die sonnengebadete Lichtung, in der sich Fliegen tummelten. Liebe! War sie stets etwas Hassenswertes, Tragisches? Ein Hervorstürzen, ein Nehmen, ein Wiederforteilen? Oder ein Hervorstürzen und ein zu rasches Forteilen? Geschah es denn niemals, daß zwei zusammenkamen, sich aneinander klammerten, eins blieben für ewig? Liebe hatte das Leben des Vaters verdorben, Daphne Wings Leben! Sie kam niemals, wenn man sie rief, kam stets, wenn man nicht nach ihr verlangte. Ein bösartiger Dämon, den Geist vor dem Leib übersättigend, oder den Leib vor dem Geist. Es war besser, damit nichts zu tun zu haben –, viel besser. Welcher freie Mensch verlangte, zum Sklaven zu werden? Ein Sklave, gleich Daphne Wing, ihrem eigenen Gatten, in seinem Verlangen nach einer Frau, die ihn nicht liebte, dem Vater, gefesselt an eine Erinnerung! Und die Sonnenstrahlen auf der Lichtung betrachtend, dachte Gyp: Liebe, – bleibe mir fern!

 

Täglich ging sie in die kleine Hütte und mußte jeden Morgen eine Unterredung mit Frau Wagge erdulden. Die gute Frau hatte eine gewisse Zuneigung zu ihr gefaßt, hatte sogar der Pflegerin anvertraut, die es Gyp weitersagte, sie finde sie sehr »distinguiert« – und so schöne Augen habe sie, – ganz italienische. Frau Wagge gehörte zu jenen zahlreichen Leuten, deren Leidenschaft für »Distinguiertheit« stärker ist als ihre Leidenschaft für Respektabilität. Das hatte sie auch dazu bewogen, das Tanztalent ihrer jungen Tochter zu fördern. Niemand wußte, wie weit dies in unseren Tagen führen konnte. Sie erklärte Gyp, daß sie »Daisy als Dame erzogen habe – und nun sei das das Ergebnis!« Dabei betrachtete sie durchdringend Gyps Haare, Ohren, ihre Hände und Fesseln. Das Begräbnis verursachte ihr viel Sorgen. »Ich habe den Namen Daisy Wing angegeben; meine Tochter ist auf Daisy getauft worden und Wing ist ihr Künstlername, so sind sie beide vereinigt und ich bleibe damit bei der Wahrheit. Und niemand könnte einen Zusammenhang entdecken, nicht wahr? Und was den Namen des Vaters anbetrifft, konnte ich nicht den verstorbenen Herrn Josef Wing angeben? Er hat ja nie gelebt und ich mußte einen Namen angeben. Ich könnte es nicht tragen, daß die Leute die Wahrheit erraten; und auch Herrn Wagge wäre es äußerst peinlich. Das fällt ja in sein Geschäft. Oh, es ist schrecklich!«

Obgleich das Mädchen so totenblaß und gebrochen war, wurde es doch bald ersichtlich, daß es genesen werde. Mit jedem Tag kam ein wenig mehr Farbe und ein wenig mehr Vulgäres in sein Gesicht zurück. Daphne würde nach Fulham zurückkehren, von ihrer Leidenschaft geheilt, etwas härter, vielleicht auch etwas innerlicher geworden.

Am letzten Tag wanderte Gyp wieder in das Wäldchen und setzte sich auf den gleichen Baumstumpf. Das Licht fiel flach auf die sich färbenden Blätter, ein erschrockenes Kaninchen brach aus dem Gebüsch hervor und jagte dann wieder zurück, am äußeren Rande des Waldes schrillte eine Elster und sprang behend von Ast zu Ast. Nun, da sie so bald zu Fiorsen zurück mußte, erkannte sie, daß es unklug gewesen war, nach Mildenham zu kommen. Der Kontakt mit dem Mädchen ließ Gyp den Gedanken an ein Zusammenleben mit Fiorsen noch unerträglicher erscheinen als früher. Einzig und allein die Sehnsucht nach ihrem Kinde machte ihr die Heimkehr möglich. Fast verabscheute sie ihn in diesem Augenblick. Er – der Vater ihres Kindes! Der Gedanke schien ihr lächerlich. Das kleine Geschöpf verband sie ihm nicht mehr, als wäre es das Kind einer zufälligen Begegnung, der Verfolgung einer Nymphe durch einen Faun gewesen. Nein! Es gehörte ihr allein. Und plötzlich überwältigte die fieberhafte Sehnsucht nach dem Baby jeden anderen Gedanken.

Am nächsten Morgen brachte Winton sie nach London. Als er ihr in einen Wagen half, fragte er: »Hast du noch den Schlüssel von der Bury-Straße? Gut. Vergiß nicht, Gyp – zu jeder Tages- und Nachtzeit steht dir das Haus offen.«

Sie hatte Fiorsen telegraphiert. Kurz nach drei langte sie an. Er war nicht daheim, und ihr Telegramm lag ungeöffnet in der Halle. Sie lief ins Kinderzimmer. Der klägliche Ton eines kleinen Geschöpfes, das nicht sagen kann, was ihm fehlt, schlug an ihr Ohr. Mit dem halb triumphierenden Gedanken: »Vielleicht weint es nach mir«, trat sie ein.

Betty, sehr rot im Gesicht, saß da und schaukelte die Wiege, betrachtete das Kind mit einem verwunderten Stirnrunzeln. Als sie Gyp erblickte, stöhnte sie: »O wie gut! O Liebste! Wie froh bin ich! Seit heute morgen weiß ich nicht, was ich mit dem Baby anfangen soll. Sooft es aufwacht, weint es. Und bis heute ist es musterhaft brav gewesen!«

Gyp nahm das Kind auf den Arm; die schwarzen Augen hefteten sich in augenblicklicher Zufriedenheit auf die Mutter, bei der ersten Bewegung jedoch begann das klägliche Wimmern von neuem. Betty fuhr fort: »Seit heute morgen ist es so, seitdem Herr Fiorsen hier war. Tatsächlich, das Baby mag ihn nicht. Er starrt es so an. Heute früh dachte ich – nun, ich dachte: schließlich ist er ja sein Vater, – es ist an der Zeit, daß es sich an ihn gewöhnt. Deshalb ließ ich die beiden eine Minute allein, und als ich zurückkam – ich war nur im Badezimmer gewesen –, kam er heraus, ganz wild, und das Baby schrie. Und seitdem schreit es, sobald es aufwacht.«

Das Kind an die Brust pressend, saß Gyp sehr still.

»Wie ist es ihm gegangen, Betty?«

Betty zerknüllte ihre Schürze, ihr Mondgesicht wurde sorgenvoll.

»Ich glaube, er trinkt wieder. Bin dessen sogar gewiß, – ich habe es gerochen. Am dritten Tag fing er damit an. Und vorgestern nacht kam er furchtbar spät heim – ich hörte ihn die Treppe herauftorkeln, und er fluchte dabei. O Gott – wie schade ist es doch!«

Das Baby, das ruhig auf dem Schoß der Mutter gelegen hatte, erhob abermals die kleine Stimme. Gyp sagte: »Betty, ich glaube, der Arm tut ihr weh. Sie weint, sobald man ihn berührt. Kann sie dort eine Nadel stechen? Sieh nach; ziehen wir sie aus. Oh! Sieh!«

An den beiden winzigen Armen zeigten sich über den Ellenbogen dunkle Flecken, als wäre sie von grausamen Fingern zusammengepreßt worden. Die beiden Frauen sahen einander entsetzt an.

»Er!«

Gyp war dunkelrot geworden, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die jedoch sofort wieder versiegten. Und Betty schluckte einen empörten Ausruf hinunter, als sie in das erblassende Gesicht blickte, dessen Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt waren. Nachdem die Arme des Babys mit einer Salbe eingeschmiert und verbunden worden waren, begab sich Gyp in ihr Schlafzimmer, warf sich aufs Bett und brach, das Gesicht in die Kissen gedrückt, in verzweifeltes Weinen aus.

Es war ein Weinen der Wut. Die Bestie! Seine Krallen in das kleine Geschöpf zu schlagen! Nur weil das arme kleine Ding, vor seinen Katzenaugen erschreckend, geweint hatte! Die Bestie! Der Teufel! Und dann wird er zu ihr kommen, wird winseln, sagen: »Meine Gyp, ich wollte ja nicht … wie konnte ich wissen, daß ich ihr weh tue? Ihr Weinen war so … Weshalb weint sie, wenn sie mich sieht? Ich war überreizt. Dachte nicht …«

Sie hörte ihn bitten, um Verzeihung betteln. Doch sie wird ihm nicht verzeihen, diesmal nicht. Sie hörte zu weinen auf, lag, dem Ticken der Uhr lauschend, und überdachte die hundert kleinen Beweise seines Übelwollens gegen das Baby, – gegen sein eigenes Kind. War es denn möglich? War er tatsächlich auf dem Wege, verrückt zu werden? Eisiger Frost durchschauderte sie, und sie kroch unter die Eiderdaunendecke. Sie behielt noch genug Objektivität, um einzusehen, daß er dies getan hatte, genau wie er Monsieur Harmost insultiert, ihren eigenen Vater – und andere – in einem Zustand unbeherrschter Nervenüberreizung. Doch schwächte diese Erkenntnis ihren Zorn nicht. Ihr Baby! Das hilflose Ding! … Nun endlich haßte sie ihn, lag da und suchte die kältesten, grausamsten, schneidendsten Worte, die sie ihm sagen wollte. Sie war allzu geduldig gewesen.

Er kam am Abend nicht heim. Sie ging um zehn Uhr ins Bett. Sie sehnte sich danach, das Kind bei sich zu haben, zu wissen, daß es sicher war. Sie trug es, schon schlafend, zu sich hinüber, verschloß ihre Türen und legte sich nieder. Lange lag sie wach, auf seine Rückkehr wartend. Endlich schlief sie ein, erwachte aufschreckend. Von unten her vernahm sie undeutliche Geräusche. Das mußte er sein. Sie hatte das Licht brennen lassen und neigte sich nun vor, um in das Gesicht des Kindes zu blicken. Es schlief noch immer, atmete friedlich. Gyp setzte sich auf.

Ja, er kam tatsächlich herauf, war, seinen Schritten nach, nicht nüchtern. Sie hörte einen lauten Krach, als hätte er sich am Geländer festhalten wollen und wäre dabei gefallen. Auch vernahm sie Gemurmel und den Lärm fortgeworfener Stiefel. Sie dachte: wäre er vollkommen betrunken, so zöge er sie nicht aus – auch nicht, wenn er ganz nüchtern wäre. Weiß er denn, daß ich zurück bin? Dann ein neuerlicher Lärm, als zöge er sich am Geländer hoch, dann – hörte sie ihn vor ihre Tür kriechen, vernahm seinen lauten Atem. Nun tastete er nach der Tür, drückte auf die Klinke. Er mußte also wissen, daß sie zurück war, hatte entweder ihren Reisemantel gesehen oder das Telegramm gelesen. Wieder drückte er die Klinke nieder, dann, nach einer kurzen Weile, rüttelte er heftig an der Tür zwischen ihrem Schlafzimmer und seinem Ankleidezimmer. Sie hörte auch seine Stimme, die Trunkenheit verriet, heiser, schwer, ein wenig schleppend.

»Gyp! Laß mich ein, Gyp!«

Dann wurden die Geräusche unbestimmter, als wäre er bald an der einen Tür, bald an der anderen, dann knarrte die Treppe abermals, nachher trat tiefe Stille ein.

Eine halbe Stunde lang saß Gyp aufrecht, lauschte gespannt. Wo war er? Was tat er? Alle Möglichkeiten rissen an ihren überreizten Nerven. Er mußte wieder hinuntergegangen sein. Wozu konnte ihn seine Raserei in diesem halbtrunkenen Zustand treiben? Und plötzlich schien ihr, als verspürte sie einen Brandgeruch. Er kam und ging – sie erhob sich, schlich zur Tür, öffnete geräuschlos und steckte den Kopf hinaus.

Auf dem Korridor war alles dunkel. Auch war der Brandgeruch vergangen. Plötzlich packte eine Hand ihren Fuß. Alles Blut schien aus ihrem Herzen zu weichen, sie unterdrückte einen Schrei, versuchte die Tür zu schließen, aber sein Arm und ihr Bein waren dazwischen. Sie sah die schwarze Masse seines Körpers mit dem Gesicht auf dem Boden liegen. Seine Hand hielt sie wie ein Schraubstock, er reckte sich auf, drang in das Zimmer ein. Keuchend, doch lautlos versuchte Gyp, ihn hinauszustoßen. Seine trunkene Kraft schien anzuschwellen und nachzulassen, die ihre war gleichmäßig und größer, als sie geglaubt hatte. Sie keuchte: »Weg! Fort aus meinem Zimmer, du – du – Hund!«

Dann aber erstarrte ihr Herz vor Schreck, denn er hatte sich dem Bett genähert, streckte seine Hände nach dem Kind aus.

Gyp stürzte sich von hinten auf ihn, riß seine Arme zurück und hielt ihn fest. Er wandte sich um, sank auf das Bett. Diesen Augenblick benutzte Gyp, ergriff das Kind und floh auf den Korridor hinaus, die dunklen Treppen hinab, hörte ihn hinter sich herstolpern und tasten. Sie floh ins Speisezimmer und verschloß die Tür. Er rannte gegen sie an, fiel nieder. Sie barg das Baby, das zu weinen begann, in ihrem Nachthemd, versuchte es zu erwärmen, es in den Armen wiegend, zu beruhigen, horchte. Kein Laut. Aus dem Kamin strömte unter der Asche noch ein wenig Wärme. Sie kauerte sich hin. Mit Kissen und der dicken, weißen Filzdecke des Speisetisches bereitete sie dem Baby ein Lager, hüllte sich dann fröstelnd in das Tischtuch, saß, mit weit geöffneten Augen vor sich hinstarrend, und lauschte. Erst vernahm sie Geräusche, dann hörten diese auf. Lange, lange verharrte sie so, ehe sie zur Tür zu schleichen wagte. Sie wollte sich kein zweites Mal irren. Sie vernahm sein schweres Atmen. Da sie merkte, daß es das gleichmäßige Atmen des Schlafes sei, öffnete sie vorsichtig die Tür, blickte hinaus. Er lag auf der untersten Stufe, in schwerem, trunkenem Schlaf. Sie kannte diesen Schlaf; er würde nicht so bald erwachen.

Eine Art boshafter Freude erfaßte sie bei dem Gedanken, daß man ihn morgen, wenn sie fort war, so finden würde. Sie kehrte zu dem Baby zurück. Mit unendlicher Vorsicht schlich sie an Fiorsen vorüber. Wieder in ihrem Zimmer angelangt, trat sie ans Fenster und blickte hinaus. Der Morgen graute, düster und gespenstisch lag der Garten da – sie sah ihn zum letztenmal.

Sie frisierte sich, nahm ihren Pelz, es war sehr kalt, sie fröstelte. Einige kleine Gegenstände, an denen sie hing, steckte sie mit ihrer Börse in ihre kleine Handtasche. Alles ging sehr rasch, sie wunderte sich selbst über die eigene Ruhe. Als sie ganz fertig war, schrieb sie einen Zettel für Betty, sie möge mit den Hunden in die Bury-Straße nachkommen, und schob ihn unter die Tür ins Kinderzimmer. Sie wickelte das Baby fest ein und schritt die Treppe hinab. Der Morgen war angebrochen, fahles Licht fiel in die Halle. Gyp ging an Fiorsens ausgestreckter Gestalt vorüber, hielt dann einen Augenblick, Atem holend, inne. Er lag mit dem Rücken gegen die Wand, seinen Kopf im Arm, der nach der Treppe langte, vergraben, das Gesicht emporgerichtet. Das Gesicht, das hundertmal ihrem eigenen so nahe gewesen, etwas an seiner zusammengesunkenen Gestalt, dem zerrauften Haar, den Backenknochen und den Schatten der blassen, unter dem schmutziggoldenen Schnurrbart geöffneten Lippen – etwas von der verlorenen Göttlichkeit der ganzen reglosen Gestalt – riß Gyp einen Augenblick am Herzen. Einen Augenblick nur. Diesmal war es vorüber. Nie wieder! Sich ganz leise umdrehend, schlüpfte sie in ihre Schuhe, öffnete die Haustür, nahm das Baby in die Arme, schloß leise die Tür hinter sich und ging davon …


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