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Dritter Teil

 

I. Kapitel

Gyp fuhr in die Stadt. Den ganzen Winter und den Frühling hatte sie still in Mildenham verbracht, war viel geritten, hatte sich eifrig ihrer Musik gewidmet und außer dem Vater fast niemand gesehen. Die kleine Reise nach London erfüllte sie mit den Empfindungen, die uns an Apriltagen kommen, wenn der Himmel blau ist, die Wolken schneeweiß erglänzen und das Gras zum erstenmal warm ist. In Widrington brachte ein Träger eine Reisetasche, einen Überrock und Golfschläger ins Coupé; vor der Tür sammelte sich eine kleine Gruppe. Gyp bemerkte eine hochgewachsene Frau, deren blondes Haar bereits zu ergrauen begann, ein junges Mädchen, das einen Foxterrier an der Leine führte, einen jungen Mann, der, den Rücken dem Zuge zugewandt, einen Scotchterrier unter dem Arm hielt. Das Mädchen küßte den Kopf des Scotchterriers.

»Leb wohl, alter Ossy, guter Hund. Tumbo, kusch! Du gehst nicht mit.«

»Leb wohl, lieber Junge. Überarbeite dich nicht.«

Die Antwort des jungen Mannes war nicht zu verstehen, doch folgte darauf unterdrücktes Lachen und die Worte: »Oh, Bryan, du bist wirklich … Leb wohl, lieber Ossy. Adieu, Adieu!«

Der junge Mann stieg ein. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und Gyp sah den jungen Mann, während er sich winkend aus dem Fenster lehnte, von der Seite an. Es war ihr Jagdgefährte – Herr Bryan Summerhay –, der im vorigen Jahr ihr Pferd gekauft hatte. Als er seinen Überrock vom Haken nahm, um den alten Terrier darauf zu betten, dachte sie: ich mag Männer, die zuerst an ihre Hunde denken. Sein runder Kopf mit dem lockigen Haar, die breite Stirn, die scharfgeschnittenen Lippen erweckten in ihr abermals das erstaunte Gefühl: wo habe ich schon einmal jemand gesehen, dem er gleicht? Er zog das Fenster in die Höhe, wandte sich um: »Erlauben Sie? … Ah, guten Tag! Wir sind einander auf der Jagd begegnet. Sie werden sich meiner wohl kaum erinnern.«

»Doch, ganz gut. Sie haben vorigen Sommer mein Pferd gekauft! Wie geht's ihm?«

»Famos. Ich vergaß zu fragen, wie es bei Ihnen hieß, habe es nun ›Heißsporn‹ genannt, es kann niemals vor Zäunen ruhig bleiben. Ich erinnere mich, wie es an jenem Tag davonzog!«

Sie schwiegen lächelnd.

Dann blickte Gyp den Hund an. »Wie lieb! Wie alt ist er?«

»Zwölf. Es ist schade, wenn Hunde alt werden.«

Eine kleine Pause trat ein, während der er sie mit seinen klaren Augen betrachtete.

»Ich habe einmal mit meiner Mutter bei Ihnen einen Besuch gemacht. Vor zwei Jahren, im November, war es. Jemand im Haus war krank.«

»Ja – ich.«

»Sehr krank?«

Gyp schüttelte den Kopf.

»Ich habe gehört, daß Sie verheiratet sind …« Die Stimme klang noch gedehnter, als wollte er das Unvermittelte seiner Worte mildern. Gyp blickte auf.

»Ja, doch lebe ich mit meiner kleinen Tochter wieder bei meinem Vater.«

»So? … Das war damals ein schöner Galopp.«

»Wundervoll. War die Dame auf dem Perron Ihre Mutter?«

»Ja, – und die andere war meine Schwester Edith … Ein schrecklich toter Ort, dieses Widrington. Mildenham wird wohl auch nicht viel besser sein?«

»Es ist sehr still, dennoch habe ich es gern.«

»Übrigens kenne ich Ihren jetzigen Namen gar nicht.«

»Fiorsen.«

»Ach ja! Der Geiger! … Das Leben ist doch ein Hasardspiel, nicht wahr?«

Gyp beantwortete diesen merkwürdigen Ausspruch nicht. Er zog ein kleines rotes Buch aus der Tasche.

»Kennen Sie das? Ich nehme es immer auf die Reise mit, es ist niemals etwas Schöneres geschrieben worden.«

Das Buch – Shakespeares Sonette – öffnete sich bei dem einen, das beginnt:

»Den festen Bund getreuer Herzen trennt
Kein Hindernis, denn Liebe ist nicht Liebe,
Die wechselnd selbst, der Zeiten Wechsel kennt,
Unwandelbar nicht stets im Wandel bliebe …«

Gyp las bis zu dem Vers:

»Kein Narr der Zeit ist Liebe. Ob gebrochen
Der Jugend Blüte fällt im Sensenschlag,
Die Liebe wankt mit Stunden nicht und Wochen,
Nein, dauert aus bis zu dem Jüngsten Tag.«

Die Sonne, tief im Westen stehend, schien fast waagerecht über die weißgrüne Fläche, auf der geschecktes Vieh weidete oder, an den Gräben stehend, träge die Schwänze pendeln ließ. Ein Sonnenstrahl vergoldete im Coupé die durch die Luft wirbelnden Staubkörnchen. Gyp reichte ihm das kleine Buch durch das goldene Licht und sagte leise:

»Lesen Sie viel Gedichte?«

»Mehr Juristisches, – leider! … Doch ist die Poesie das Schönste auf der Welt; finden Sie nicht auch?«

»Nein, ich finde: die Musik.«

»Musizieren Sie? Sie sehen so aus.«

»Nur ein wenig.«

»Ich liebe die Oper.«

»Diese hybride, allerniedrigste Form der Musik?«

»Deshalb sagt sie mir vielleicht zu. Mögen Sie sie gar nicht?«

»Doch. Darum fahre ich jetzt nach London.«

»Wirklich? Haben Sie ein Opernabonnement?«

»Ja, für diese Saison.«

»Ich auch. Das ist schön, da werde ich Sie sehen.«

Gyp lächelte. Es war so lange her, seit sie mit einem Manne ihres Alters gesprochen, so lange her, seit sie ein Gesicht gesehen hatte, das ihre Bewunderung und Neugierde reizte, so lange her, seit sie selbst bewundert worden war. Der Sonnenstrahl fiel, durch eine Wendung des Zuges seine Richtung ändernd, auf sie, die Wärme bestärkte in ihr ein unbestimmtes Glücksgefühl.

Wieviel kann in zwei bis drei Stunden Eisenbahnfahrt geplaudert werden! Und welches freundliche Nachglühen bleibt von solchen Stunden zurück! Führt die Schwierigkeit, sich über das Rattern des Zuges hinaus verständlich zu machen, zur Vertraulichkeit? Das Alleinsein förderte ihre Freundschaft rascher, als sonst eine wochenlange Bekanntschaft getan hätte. In ihrem langen Gespräch war er der Redseligere. Es gab so viel, von dem sie nicht zu sprechen vermochte. Außerdem hörte sie ihm gerne zu. Seine etwas gedehnte Stimme bezauberte sie, seine kühne, oft witzige Art, die Dinge zu betrachten, das unbezähmbare Lachen, das aus ihm hervorbrach. Er erzählte ihr ehrlich seine Vergangenheit, sein Schul- und Universitätsleben, seine Bestrebungen in der Advokatenlaufbahn, seine Ziele, Vorlieben, sogar seine dummen Streiche. In dieser ungekünstelten Offenheit lag eine unaufhörliche Schmeichelei; Gyp fühlte zarte Bewunderung heraus. Dann fragte er sie, ob sie Pikett spiele.

»Ja, ich spiele fast jeden Abend mit meinem Vater.«

»Wollen wir jetzt spielen?«

Sie wußte, er wolle nur spielen, weil er ihr dabei näher sitzen durfte, durch die über ihre Knie ausgebreitete Zeitung mit ihr verbunden, ihr die Karten reichen, zufällig ihre Hand berühren, ihr ins Gesicht sehen konnte. Auch ihr war das nicht unangenehm, denn sie sah ihm gerne ins Gesicht, das einen ausgesprochenen »charme« besaß, etwas Leichtes, Unkörperliches, das sonst oft schönen, vornehmen Gesichtern mangelt.

Als er ihre Hand beim Abschied festhielt, erwiderte sie unwillkürlich den Druck. Er stand am Wagenfenster, einen Ausdruck ehrlicher, ein wenig wehmütiger Bewunderung im Gesicht, und sagte: »Ich werde Sie also in der Oper sehen, vielleicht auch in der ›Row‹, und ich darf in der Bury-Straße einen Besuch machen, nicht wahr?« –

Gyp nickte und fuhr durch den schwülen Londoner Abend dahin. Da der Vater von seinem Diner noch nicht zurück war, begab sie sich in ihr Zimmer. Nach der frischen Landluft erschien ihr die Bury-Straße äußerst drückend, sie zog einen Schlafrock an und setzte sich ans Fenster, um den Eisenbahnstaub aus ihren Haaren zu bürsten.

Monatelang, nachdem sie Fiorsen verlassen, hatte sie nur Erleichterung empfunden. Erst seit kurzem wurde ihr ihre Lage klar, – die einer verheirateten Frau, die doch nicht verheiratet ist, die, mag sie noch so enttäuscht worden sein, insgeheim mit jeder neuen Stunde, in der ihr Herz und ihre Schönheit reifen, ihren wahren Gefährten sucht. Heute abend, während sie im Spiegel ernst und traurig ihr Gesicht betrachtete, – erkannte sie diese Lage klar, in ihrer ganzen Trostlosigkeit, wie sie ihr noch nie zum Bewußtsein gekommen war. Was nutzte ihr ihre Schönheit? Sie nutzte niemandem mehr! Noch war sie nicht sechsundzwanzig Jahre, und doch gleichsam wie in einem Kloster eingeschlossen. Mit einem Schauder, der nicht von der Kälte herrührte, zog sie den Schlafrock enger zusammen. Voriges Jahr um diese Zeit war sie noch im vollen Lebensstrom mitgeschwommen. Und dennoch, – alles war besser, als zu dem zurückzugehen, den sie stets in der Erinnerung über das schlafende Kind geneigt sah, mit ausgestreckten Armen, mit krallenhaft gekrümmten Fingern.

Nach ihrer morgendlichen Flucht hatte Fiorsen sie wochenlang verfolgt, in der Stadt, in Mildenham, selbst in Schottland, wohin Winton mit ihr gereist war. Doch war ihr Entschluß kein zweites Mal wankend geworden, und er hatte die Verfolgung aufgegeben, war ins Ausland gefahren. Seitdem hatte sie von ihm keine Nachricht erhalten, außer einigen wilden oder jämmerlichen Briefen, die er anscheinend in trunkener Stimmung geschrieben hatte. Dann hörten auch diese auf; seit vier Monaten hatte sie von ihm nichts vernommen. Er schien »darüber hinweggekommen zu sein«, wo immer er auch weilen mochte.

Sie ließ die Bürste auf die Knie sinken, gedachte des Morgengangs mit dem Baby durch verödete, schweigende Straßen im Oktoberfrühnebel, an das todmüde Warten hier, vor dieser Tür, bis ihr geöffnet wurde. Sie hatte später noch oft darüber gestaunt, daß sie damals von der Angst zu dieser heimlichen Flucht getrieben worden war. Ihr Vater und Tante Rosamunde wollten, daß sie die Scheidungsklage anstrenge, doch wehrte sich ihr Instinkt dagegen, anderen ihre Geheimnisse und Leiden zu enthüllen – wehrte sich gegen die dazu nötigen hohlen Formalitäten. Es war ihre Schuld gewesen, weil sie ihn ohne Liebe geheiratet hatte.

»... denn Liebe ist nicht Liebe,
Die wechselnd selbst, der Zeiten Wechsel kennt …«

Welche Ironie! Hatte ihr Reisegefährte es gewußt!

Sie wandte sich vom Spiegel ab, sah sich im Zimmer um, dem Zimmer, in dem sie als Mädchen geschlafen hatte. Er erinnerte sich also noch ihrer! Es war nicht die Begegnung mit einem Fremden gewesen. Sie waren einander ja auch nicht fremd. Und plötzlich sah sie an der Wand vor sich sein Gesicht. Natürlich. Wie dumm, daß sie es nicht gleich gewußt hatte! Dort hing in einem braunen Rahmen eine Photographie eines berühmten Boticelli oder Masaccio, »Der Kopf eines jungen Mannes« aus der Nationalgalerie. Sie hatte sich vor Jahren in das Bild verliebt, seitdem hing es hier. Das breite Gesicht, die klaren Augen, der kühne, scharfgeschnittene Mund – nur daß das lebende Modell englisch war, nicht italienisch, mehr Humor besaß, mehr Rasse, weniger Poesie – etwas aus der georgianischen Zeit. Wie würde er lachen, wenn sie ihm erzählte, daß er dem Dorfküster da gleiche, mit dem krausen Haar und der kleinen Rüsche um den Hals! Selbst darüber lächelnd, flocht Gyp ihr Haar und ging zu Bett.

Doch konnte sie nicht einschlafen, sie hörte den Vater heimkehren, hörte die Uhren Mitternacht schlagen, dann ein Uhr, zwei Uhr, das dumpfe Dröhnen von Piccadilly. Sie war nur mit einem Leintuch zugedeckt, und es war ihr dennoch zu heiß. Duft strömte durch das Zimmer. Woher kam er? Sie erhob sich, trat ans Fenster. Dort, auf dem Fensterbrett, hinter den Vorhängen, stand eine Vase voll Zyklamen. Ihr Vater mußte sie hingestellt haben, – wie lieb von ihm!

Sie vergrub ihr Gesicht in die Blüten, gedachte ihres ersten Balles. Vielleicht war auch Bryan Summerhay dort gewesen. Wäre er ihr vorgestellt worden, hätte sie mit ihm getanzt statt mit dem Manne, der ihren Arm geküßt hatte, vielleicht würde sie dann allen Männern ein anderes Gefühl entgegengebracht haben. Und hätte er sie bewundert – und hatten an jenem Abend nicht alle sie bewundert? –, vielleicht wäre er ihr sympathisch gewesen, vielleicht mehr als sympathisch? Oder wäre er ihr auch vorgekommen wie alle ihre Verehrer, ehe sie Fiorsen begegnet war, – wie Motten, die um ein Licht flattern, töricht genug, sich zu verbrennen? Vielleicht hatte sie eine Lektion nötig gehabt, mußte gedemütigt und erniedrigt werden!

Sie entnahm der Vase eine Zyklame, hielt sie an die Nase und trat an das Bild. In dem schwachen Licht konnte sie nur die Umrisse des Gesichtes und die sie anblickenden Augen unterscheiden. In ihrem Herzen regte sich etwas zart und leise, wie sich ein Blatt umwendet, ein Flügel zittert. Sie preßte die Hände mit der Blüte gegen die Brust, wo ihr Herz scheu erbebte.

Es war spät, nein, früh, als sie einschlief, und sie hatte einen seltsamen Traum. Sie ritt auf ihrer alten Stute durch ein blumiges Feld. Sie trug ein schwarzes Kleid und auf dem Kopf eine Krone mit glänzenden spitzen Kristallzacken. Ohne Sattel saß sie auf dem Pferde, die Knie hochgezogen, saß so leicht, daß sie den Rücken der Stute kaum spürte; die Zügel waren lange, ineinander verschlungene Geißblattzweige. Sie sang im Reiten, ihre Augen schweiften hin über das Feld, zum Himmel empor, sie fühlte sich leichter als eine Feder. Wie sie so dahinritt, wandte die alte Stute den Kopf und biß in das Geißblatt, und plötzlich verwandelte sich der braune Pferdekopf in Summerhays Gesicht, das sie mit seinem Lächeln betrachtete. Sie erwachte. Durch die Vorhänge, die sie, die Blumen suchend, zurückgezogen hatte, strömte heller Sonnenschein.


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