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Vierter Teil

 

I. Kapitel

An einem ersten Maitag stand die kleine, bereits viereinhalb Jahre alte Gyp am Rande eines Tulpenbeetes und lockte zwei Truthennen, die ihre Köpfe zwischen die Blumen steckten. Sie glich ihrer Mutter sehr, hatte das gleiche ovale Gesicht, die dunklen, geschwungenen Brauen, die großen, klaren, braunen Augen, doch erkannte man in ihr das moderne Kind, das die meiste Zeit im Freien verbringt; ihr lockiges Haar war kurz geschnitten, die festen braunen Beine waren bis zu den Knien entblößt.

»Truthennen! Ihr seid gar nicht brav, nicht wahr? Kommt doch!« Sie streckte ihnen die Hände mit nach oben gekehrten Handflächen hin und entfernte sich langsam, rückwärts schreitend, vom Tulpenbeet. Die Truthennen, die langen weichen Füße nachschleppend und leise Gurgellaute von sich gebend, folgten ihr, getäuscht durch das Versprechen der kleinen, braunen, leeren Hände. Die schräg fallenden Sonnenstrahlen beleuchteten den kleinen Zug – das dunkelblaue Kleidchen der kleinen Gyp, den Goldschimmer in ihrem kastanienbraunen Haar, das gänseblümchenbesäte Gras, die dunklen Vögel mit den roten Lappen am Halse und den verstümmelten Schwänzen, die roten, gelben und bräunlichen Tulpen. Als die kleine Gyp die Tiere bis ans offene Tor gelockt hatte, reckte sie sich auf und sagte: »Oh, wie seid ihr dumm! Schsch!« – und schloß hinter ihnen das Tor. Dann strebte sie dem Nußbaum zu, dem einzigen großen Baum des ummauerten Gartens. Dort lag ein ganz alter Scotchterrier. Sie setzte sich neben ihn, streichelte seine weiße Schnauze und fragte: »Ossy, Ossy, hast du mich lieb?«

Nach einer Weile erblickte sie ihre Mutter, schnellte auf, rief: »Ossy, Ossy, komm!« und eilte auf Gyp zu, umklammerte ihre Knie, während der alte Scotchterrier langsam nachzottelte.

Die letzten drei Jahre hatten Gyp ein wenig verändert. Ihr Gesicht war weicher und etwas ernster geworden, ihre Gestalt voller, das Haar dunkler. Sie trug es auch anders frisiert, statt hinten in Wellen aufgesteckt, lag es nun glatt, gleich einem schimmernden Helm, und zeigte so besser die Form des Kopfes.

»Liebling, geh und bitte Pettance, daß er ein frisches Stück Schwefel in Ossys Napf gibt und sein Fleisch kleiner schneidet. Du kannst auch Heißsporn und Brownie ein Stück Zucker geben, – dann wollen wir ausgehen.« Sie kniete neben dem alten Hund hin, betrachtete seinen Ausschlag und dachte: O Hundchen, du riechst wirklich nicht gut. Ja – nur nicht ins Gesicht mit deiner Schnauze!

Ein Telegraphenbote kam vom Tor her. Gyp öffnete das Telegramm mit der leisen Angst, die sie stets empfand, wenn Summerhay nicht bei ihr war.

»Verhindert. Komme mit letztem Zug, brauche morgen nicht zur Stadt fahren – Bryan.«

Nachdem der Bote gegangen war, beugte sie sich nieder und streichelte den Kopf des alten Hundes.

»Morgen ist der Herr den ganzen Tag zu Hause, Ossy, den ganzen Tag!«

Eine Stimme aus dem Garten sagte: »Ein schöner Abend, gnädige Frau.«

Der »alte Lump« Pettance stand vor ihr; er war steifer auf den Beinen, hatte mehr Runzeln in seinem Wasserspeiergesicht, weniger Zähne im Munde, die glühenden, dunklen, kleinen Augen waren verschleiert; hinter ihm verharrte die kleine Gyp, den einen Fuß vorgestreckt, wie Gyp als Kind zu stehen gepflegt hatte. Sie wartete ernst.

»Pettance, morgen wird Herr Summerhay den ganzen Tag zu Hause sein, und wir werden einen langen Ritt unternehmen. Wenn Sie ausreiten, wollen Sie, bitte, beim Gasthaus haltmachen und Major Winton sagen, daß ich ihn heute abend zum Essen erwarte.«

»Ja, gnädige Frau. Heute morgen habe ich ein Pony gesehen, das für das kleine Fräulein Gyp passen würde. Ein Mauspony, fünf Jahre alt, gesund, mit guten Gängen. Ich sagte dem Mann: ›Versuchen Sie nicht, mich hineinzulegen, ich bin auf einem Pferd zur Welt gekommen. Zwanzig Pfund wollen Sie für das Pony? Seien Sie froh, wenn Sie zehn bekommen.‹ ›Nun‹, sagte er, ›Pettance, es hat keinen Sinn, Sie übervorteilen zu wollen, – sagen wir also fünfzehn!‹ ›Ich gebe eins zu‹, sagte ich, ›elf. Entschließen Sie sich.‹ ›Ah!‹ sagte er, ›Pettance, Sie verstehen sich auf den Pferdekauf, gut, zwölf!‹ Das Pony ist fünfzehn wert, gnädige Frau, der Major hat es auch besichtigt. Wenn Sie es haben wollen?«

Gyp blickte auf ihre kleine Tochter, die aufgeregt einen Luftsprung gemacht hatte, nun aber ganz still stand, mit »flatternden« Augen und geöffneten Lippen zur Mutter aufsah, die dachte: Der kleine Schatz! Sie bettelt nie um etwas!

»Gut, Pettance, kaufen Sie das Pony.«

»Ja, gnädige Frau. Sehr wohl, gnädige Frau. Schöner Abend, gnädige Frau …« Und davonschlürfend mit dem Gang eines Menschen, dessen Beine zu den Füßen in einem rechten Winkel stehen, dachte er: das macht zwei Pfund für meine Tasche.

Zehn Minuten später verließ Gyp mit dem Kind und dem Hund den Garten, um ihren Abendspaziergang zu machen. Sie gingen nicht, wie gewöhnlich, in die Dünen, sondern gegen den Fluß zu, nach der Gegend, die sie die »Wildnis« nannten – zwei schilfbewachsene Wiesen, von Eichen und Eschen umfriedet. Wo die Wiesen zusammenkamen, stand eine verfallene, mit Efeu bewachsene Steinruine. Dieser Fleck inmitten der wohlgepflegten Felder, Wiesen und Buchenhaine besaß ein ganz eigenes Leben, war ein Lieblingsversteck von Vögeln und anderen Tieren. Unlängst hatte die kleine Gyp hier zwei Hasen gesehen. Von einer Eiche herab, deren Blätter noch zu klein waren, um ihn gänzlich zu verbergen, rief ein Kuckuck, und sie blieben stehen, betrachteten ihn, bis er fortflog. Der Vogelsang und der Friede um die grüngoldenen Eschen und Eichen, die Blumen, Sumpf Orchideen, Pantoffel- und Kuckucksblumen, die das Schilf belebten – all dies erfüllte Gyp mit einem Gefühl der Bewunderung, die sich in der Natur offenbart, des lächelnden Lebens, das ewig vergeht, doch stets wieder aus dem Tode entspringt. Als sie bei der verfallenen Hütte standen, umkreiste sie, schrill rufend, ein Vogel. Er hatte einen langen Schnabel, lange spitze Flügel, und schien beunruhigt. Die kleine Gyp preßte fest die Hand der Mutter.

»Der arme Vogel! Das ist doch ein armer Vogel, Mütterchen?«

»Es ist ein Brachvogel. Vielleicht ist sein Gefährte verletzt worden?«

»Was ist sein Gefährte?«

»Der Vogel, mit dem er zusammen lebt!«

»Er hat Angst vor uns.«

»Sollen wir nachsehen, was ihm geschehen ist?«

Der Brachvogel fuhr fort, sie zu umkreisen und schrille Rufe auszustoßen. Die kleine Gyp fragte: »Mütterchen, können wir nicht mit ihm sprechen? Wir werden ihm doch nichts zuleide tun?«

»Natürlich nicht, Liebling. Ich fürchte, das arme Tier ist nicht zahm genug.«

Das Zwitschern der kleinen Gyp vermengte sich mit den Rufen des Brachvogels und der Stille des Abends. »Sieh, er kommt ganz nahe zur Erde, dort drüben hat er sein Nest. Wir wollen lieber nicht hingehen, nicht wahr?«

Die kleine Gyp wiederholte mit gedämpfter Stimme: »Er hat ein Nest.«

Sie strebten dem Tor bei der verfallenen Hütte zu, der Brachvogel umkreiste sie noch immer schreiend.

»Wir sind doch froh, daß sein Gefährte nicht verletzt ist, nicht wahr, Mütterchen?«

Mit einem leisen Schauder erwiderte Gyp: »Ja, Liebling, sehr froh. Wollen wir jetzt gehen und Großpapa zum Essen einladen?«

Die kleine Gyp tat einen Freudensprung, und sie gingen dem Flusse zu.

Seit zwei Jahren hatte Winton im Gasthaus am Fluß Zimmer gemietet. Er hatte sich geweigert, bei Gyp zu wohnen, wollte nur zur Hand sein, wenn sie ihn brauchte. Er führte dort ein einfaches Leben, ritt mit ihr, wenn Summerhay in der Stadt war, besuchte die Hüttenbewohner, rauchte Zigarren, schmiedete Pläne, um die Stellung seiner Tochter zu sichern, und stand den Launen der kleinen Gyp zur Verfügung. Der Augenblick, da seine Enkelin reiten lernen sollte, war für ihn, dem das Leben ohne Pferde bedeutungslos erschien, beinahe weihevoll. Die beiden, die Hand in Hand standen, betrachtend, dachte Gyp: Väterchen liebt sie ebensosehr, wie er mich jetzt liebt.

Das einsame Diner im Gasthaus war eine Qual, die Winton sorgfältig vor Gyp verheimlichte; er nahm ihre Einladung freudig an.

Außer dem Klavier enthielt das rote Haus nichts, das in Gyps erstem Heim gewesen war. Die«Wände waren weiß, die Möbel aus Eichenholz, die Bilder Reproduktionen ihrer Lieblinge. Winton vertrug sich gut mit Summerhay, dennoch war er lieber allein mit seiner Tochter. Heute abend war er besonders froh, sie für sich zu haben, denn in der letzten Zeit war sie ihm ernst und zerstreut vorgekommen.

»Ich wollte, du kämst mehr mit Menschen zusammen«, sagte er.

»O nein, Väterchen.«

Ihr Lächeln beobachtend, dachte er: Das sind nicht die sauren Trauben. – Was kann es denn sein?

»Du hast wohl nichts mehr von Fiorsen gehört?«

»Kein Wort. Doch habe ich gelesen, daß er diese Saison wieder in London spielt.«

»Das wird die Leute freuen.« Das ist es also auch nicht. Dennoch ist etwas nicht in Ordnung.

»Ich höre, daß Bryan gut vorwärtskommt. Neulich traf ich in der Stadt einen Bekannten, der von ihm als einem der hoffnungsvollsten Rechtsanwälte sprach.«

»Ja, er kommt äußerst gut weiter.« Ein leiser Seufzer drang an seine Ohren. »Findest du, daß er sich sehr verändert hat, seit du ihn kennst, Väterchen?«

»Vielleicht ist er etwas weniger übermütig.«

»Ja, er hat sein Lachen verloren.«

So leise und gelassen das gesagt wurde, erschütterte es Winton dennoch.

»Du kannst das nicht anders erwarten, wenn er Tag für Tag die Leute von innen nach außen kehren muß, – zumal die meisten verfault sind.«

Als er im hellen Mondschein heimging, wünschte er, daß er geradeheraus gefragt hätte: Machst du dir Sorgen um Bryan, oder sind die Menschen gegen dich unangenehm gewesen?

In den letzten drei Jahren war er unbewußt seiner eigenen Klasse gegenüber immer feindseliger, den Armen gegenüber immer freundschaftlicher geworden, – er besuchte die Arbeiter, die kleinen Bauern, die kleinen Geschäftsleute, half ihnen, wo er konnte, steckte den Kindern Geld zu. Die Tatsache, daß sie sich keine moralischen Vorurteile leisten konnten, entging ihm, er merkte nur, daß sie respektvoll und freundlich gegen Gyp waren, und das erwärmte sein Herz im gleichen Maße, wie es sich gegen einige der Gutsbesitzerfamilien und der Parvenübande in den Villen am Fluß verhärtete.

Als er zuerst in die Gegend gekommen war, hatte ihn der größte Gutsbesitzer – den er seit Jahren kannte – zum Lunch eingeladen. Winton hatte die Einladung angenommen, wollte sehen, wie er dran war, und hatte die erste Gelegenheit benützt, seine Tochter zu erwähnen. Sie liebe Blumen sehr, hatte er gesagt, und das rote Haus habe einen schönen Garten. Die Frau seines Bekannten hatte mit einem nervösen Lächeln geantwortet: »O ja, freilich … ja.« Dann waren sie alle in Schweigen verfallen. Seitdem grüßte Winton seinen Bekannten und dessen Frau mit eisiger Höflichkeit. Er war nicht mehr zu ihnen gegangen, um diesen Leuten zu zeigen, daß man seine Tochter nicht ungestraft schlecht behandeln dürfe. Und dennoch, Weltmann bis in die Fingerspitzen, wußte er ganz genau, daß eine Frau, die unverheiratet mit einem Manne lebt, von Leuten, die einen Anspruch auf Respektabilität erhoben, nicht anerkannt werden konnte. Und Gyp stand nicht einmal auf der Grenze, auf der jene stehen, die geschieden sind und sich wieder verheiratet haben. Doch sind Liebe und Hingabe sogar bei einem Weltmann stärker als Einsicht, und Winton war stets bereit, um Gyps willen den Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen.

Den letzten Rauch seiner Nachtzigarette ausblasend, dachte er: was gäbe ich nicht darum, in der guten alten Zeit zu leben und diesen moralischen Emporkömmlingen eins aufbrennen zu können!


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