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V. Kapitel

Nach England zurückgekehrt, verlor Gyp fast gänzlich dieses Gefühl. Fiorsen würde bald eine andere Frau finden, die ihm das war, was sie bedeutete. Wie lächerlich, anzunehmen, daß er ihretwegen seine Torheiten unterlassen würde, daß sie auch nur die geringste Macht über ihn besäße. Trotzdem glaubte sie in den Tiefen ihrer Seele ihren vernünftigen Worten nicht ganz.

Winton, der nun wieder aufatmete, beeilte sich, mit ihr nach Mildenham zu fahren. Er hatte ihr ein neues Pferd gekauft. Sie kamen gerade noch zur Fuchsjagd auf junge Füchse zurecht. Während einer Woche verschlang ihre Leidenschaft für das Reiten, der Anblick der Meute alle anderen Gedanken. Dann, als in London die Saison ihren Anfang nahm, wurde sie unruhig und langweilte sich. Mildenham war düster, der Herbstwind klagte in den Bäumen. Die kleine braune Wachtelhündin, die bereits sehr alt war, starb. Gyp machte sich bittere Vorwürfe, das sieche Tier so lange allein gelassen zu haben. Sie gedachte der vielen Tage, in denen der Hund immer nach ihr ausgespäht, sie gesucht hatte – Betty beschrieb dies mit der Freude einfacher Seelen an traurigen Schilderungen –, und Gyp fühlte, daß sie grausam gewesen sei. Solchen Vorfällen gegenüber war das Mädchen zu weichherzig, zu streng mit sich selbst. Sie war einige Tage ganz krank. Sobald es ihr besser ging, schickte sie der erschrockene Winton zu Tante Rosamunde in die Stadt. Er verlor dadurch ihre Gesellschaft, wenn es ihr aber guttat, sie ihren trüben Gedanken entriß, wollte er damit zufrieden sein. Als er nach drei Tagen zum Wochenende in die Stadt kam, fand er sie dann auch zu seiner Freude in heiterer Stimmung und verließ sie mit leichterem Herzen.

Am Tage nach seiner Rückkehr nach Mildenham erhielt sie einen Brief von Fiorsen, der ihr aus der Bury-Straße nachgeschickt worden war. Er schrieb, daß er eben nach London zurückgekehrt sei, keinen der Blicke, die sie ihm geschenkt, keines ihrer Worte vergessen habe. Er werde nicht rasten, bis er sie wiedersehe. »Lange Zeit«, schloß der Brief, »ehe ich Sie zum erstenmal gesehen, war ich wie tot – verloren. Ich küsse Ihre Hände und bin Ihr treuer Sklave – Gustav Fiorsen.« Diese Worte, die ihr bei jedem anderen Mann lächerlich erschienen wären, erregten in Gyp von neuem das zitternde, angstvoll-freudige Gefühl, daß sie seiner Verfolgung nicht entkommen könne.

Sie antwortete ihm, schrieb, daß ihre Tante sich freuen werde, ihn an einem Nachmittag zwischen fünf und sechs bei sich zu sehen und unterschrieb: »Ghita Winton.« Sie brauchte lange, um diese paar Zeilen zu schreiben. Die kurze Formalität ihrer Worte gefiel ihr. War sie tatsächlich Herrin über sich selbst – und über ihn – fähig, nach ihrem Gutdünken das Weitere zu bestimmen? Ja, dieser kleine Brief bewies es.

Es war stets schwer, aus Gyps Gesicht ihre Gefühle zu erraten, selbst Winton kannte sich manchmal nicht aus. Die Art, wie sie Tante Rosamunde auf Fiorsens Besuch vorbereitete, war ein Meisterwerk gespielter Gleichgültigkeit. Auch er schien, als er kam, die Notwendigkeit großer Vorsicht einzusehen, blickte Gyp nur dann an, wenn ihn niemand beobachtete. Als er jedoch fortging, flüsterte er ihr zu: »Nicht so – nicht so; ich muß Sie allein sehen – ich muß!« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Doch perlte im Kelche ihres Lebens von neuem der Wein.

Am Abend sagte sie ruhig zu Tante Rosamunde:

»Väterchen mag Herrn Fiorsen nicht, – kann natürlich sein Spiel nicht würdigen.«

Diese äußerst diplomatische Bemerkung veranlaßte Tante Rosamunde, die – in einer wohlerzogenen Art – nach Musik dürstete, in ihrem nächsten Brief an den Bruder den Eindringling nicht zu erwähnen. In den folgenden zwei Wochen kam er fast täglich und brachte immer seine Geige mit. Gyp spielte die Begleitung, und obwohl sie manchmal unter seinem verzehrenden Blick erglühte, hätte sie doch diese Stunden nicht mehr missen mögen.

Als jedoch Winton das nächste Mal in der Stadt erschien, fühlte sie sich in einer Sackgasse. Sollte sie beichten, daß Fiorsen hier sei, da sie es doch unterlassen hatte, in ihren Briefen davon zu sprechen? Oder nichts sagen, es den Vater durch Tante Rosamunde erfahren lassen? Angsterfüllt tat sie keines von beiden, sondern sagte, sie sehne sich halbtot nach einem ordentlichen Galopp. Er sah dies als gutes Zeichen an und nahm sie sogleich nach Mildenham heim. Ihr war seltsam zumute, leichtherzig, reuig, wie einem Menschen, der einer Gefahr entkommen ist, jedoch genau weiß, daß er nur allzubald sie wieder suchen wird. Am nächsten Tag fand die Parforcejagd sehr entfernt statt, doch beharrte sie darauf, mitzureiten; der alte Pettance, ein einstiger Jockey, der als Stallmeister in Mildenham diente, sollte ihr ein zweites Pferd nachbringen. Ein günstiger Wind wehte, aus der Ferne duftete es nach Regen; Winton und Gyp fanden eine Ecke, in die sie sich, unbemerkt, hatten drücken können, ein Glück, denn die anderen Reiter folgten gern der einhändigen schlanken Gestalt in dem verschossenen roten Frack, die es auf der kupierten schwarzen Stute so wohl verstand, immer ganz vorn zu sein. Einer der Piköre, ein kleiner dunkler Mann mit wettergebräuntem Gesicht und glühenden Augen, brach vor, grüßte und ritt weiter. Mit schrillem Schrei flog eine Elster vorbei, beschrieb einen Bogen, kam zurück, ein Hase lief durch die Furchen – der hellbraune Körper hob sich kaum von der Erde ab. Ganz hoch in den Lüften segelten Tauben dem Walde zu. Die grellen Stimmen der Piköre erfüllten die Luft, von Zeit zu Zeit winselte ein Hund aus der Meute auf; die Tiere vergruben ihre Schnauzen in Gras und Heidekraut und schwänzelten eilig vorbei.

Gyp, die Zügel fest zwischen den Fingern, sog in tiefen Atemzügen die Luft ein. Es roch herrlich, so frisch und lind unter dem zartblauen Himmel, den hellgraue, rasch ziehende Wolken fleckten. Der Wind, der dort oben heftig wehte, war hier unten ganz sanft, gerade stark genug, um die Eichen- und Buchenblätter, die vor zwei Tagen ein Frost gelockert hatte, von den Bäumen zu fegen. Wenn doch ein Fuchs auf dieser Seite ausbrechen wollte und sie das erste Feld für sich hätten! Einer der Hunde kam herangetrottet, ein hübsches junges Tier. Hob den braun-weißen Kopf, blickte mit milden, vorwurfsvollen Augen zu Gyps Pferd empor. Ein Hornsignal, und der Hund verschwand im Gesträuch.

Gyps neues braunes Pferd legte die Ohren zurück. Ein junger Mann in grauem Cutaway, hohen Stiefeln, auf einer niedrigen Fuchsstute, näherte sich. Werden die anderen auch kommen? Sie sah den Eindringling verärgert an, er hob den Hut und lächelte. Das ein wenig dreiste Lächeln war so ansteckend, daß Gyp es erwidern mußte. Wer war das? Er sah glücklich und heiter aus. Obwohl sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte, hatte es etwas Bekanntes, ein breites, gut geschnittenes, glattrasiertes Gesicht, dunkle lockige Haare, seltsam klare Augen, einen kühnen, fröhlichen, kaltblütigen Ausdruck. Wo nur hatte sie jemand gesehen, der ihm glich?

Ein halbunterdrückter Laut von Winton ließ sie den Kopf wenden. Da, unter den entfernteren Büschen, kroch der Fuchs hervor. Sie wandte die Augen dem Gesicht des Vaters zu, es war hart wie Stahl. Kein Laut, keine Bewegung, als wären Mann und Pferd zu Metall erstarrt. Wird er niemals das »Sichtzeichen« geben? Dann arbeiteten seine Lippen, der Ruf kam. Gyp lächelte dem jungen Mann dankbar zu, weil er taktvoll genug gewesen war, dem Vater den Ruf zu überlassen. Schon brachen die ersten Hunde aus dem Dickicht, einer nach dem anderen – Hörner und Federn. Warum rührte der Vater sich nicht?

Da glitt die schwarze Stute an ihr vorbei, mit einem Satz folgte ihr Pferd nach. Der junge Mann auf dem Fuchs ritt links von ihnen. Nur sie und ein Pikör! Herrlich! Das braune Pferd nahm den ersten Zaun allzu rasch, und Winton rief zurück: »Ruhig, Gyp, halt ihn!« Doch sie konnte es nicht, und es lag auch nichts daran. Vor ihr drei große Wiesen. Oh, der schöne Fuchs, wie gerade er lief! Jedesmal, wenn das braune Pferd zum Sprung ansetzte, dachte sie: Wie schön! Ich bin glücklich! Kein Gefühl der Welt kam diesem gleich, wenn Väterchen führte, die Meute freien Lauf hatte, das Feld sich endlos dehnte. Es ist besser als tanzen, besser – ja besser als Musik hören. Könnte man doch sein Leben im Galopp verbringen, über Zäune dahinfliegend! Das neue Pferd war ein Schatz, auch wenn es so im Zügel riß!

Den nächsten Zaun nahm sie zugleich mit dem jungen Manne, dessen kleine Fuchsstute schöne, regelmäßige Gänge hatte. Jetzt war sein Hut tief in die Stirn gedrückt, sein Gesicht sehr entschlossen, doch hatten die Lippen das Lächeln beibehalten. Gyp dachte: er hat einen guten Sitz, ist sehr stark, doch sieht er nach »Vordrängen« aus. Niemand reitet wie Väterchen – so wundervoll ruhig! Tatsächlich hatte Winton einen vollkommenen Sitz. Die Meute schlug einen Bogen. Nun war sie ihnen ganz, ganz nahe. Welch ein Tempo! Kein Fuchs konnte es lange aushalten.

Und plötzlich erblickte sie ihn, kaum ein Feld entfernt, wie er in rasender Eile mit fegendem Schwanz dahinraste. Und es durchfuhr sie der Gedanke: Wir wollen dich lieber nicht fangen. Vorwärts, Fuchs, vorwärts! Hetzten sie wirklich alle diesem kleinen roten Tier nach – an die hundert große Geschöpfe: Pferde und Männer und Frauen und Hunde – und nur ein einziger kleiner Fuchs! Dann jedoch kam ein Zaun und noch einer, in der Lust des Sprunges vergingen Reue und Mitleid. Einen Augenblick später war der Fuchs, hundert Yards vom Meuteführer entfernt, in einem Erdloch verschwunden, und Gyp freute sich darüber. Früher war sie oft dabei gewesen, wenn der Fuchs gestellt wurde – schrecklich! Aber der Galopp war herrlich gewesen. Atemlos, glückselig lächelnd dachte sie daran, ob sie wohl Zeit hätte, ihr Gesicht abzuwischen, ehe die anderen herankämen, ohne von dem jungen Mann dabei beobachtet zu werden.

Sie sah ihn mit dem Vater sprechen. Als sie an die beiden heranritt, lüftete der junge Mann den Hut, sah ihr gerade ins Gesicht und sagte: »Fein sind Sie geritten!« Seine etwas hohe Stimme hatte einen angenehmen, müden Klang. Gyp machte eine kleine Verbeugung: »Sie meinen damit wohl mein neues Pferd?« Und sie sann nach: wo habe ich denn jemand gesehen, der ihm ähnlich ist?

Sie ritten noch zwei Hetzen, die jedoch nicht mit dem ersten Galopp zu vergleichen waren. Sie sah auch den jungen Mann nicht mehr, erfuhr, daß er Summerhay sei, der Sohn einer gewissen Lady Summerhay, die auf Widrington, zehn Meilen von Mildenham, lebte.

Während des ganzen langsamen, schweigenden Heimritts mit Winton im verblassenden Tageslicht war sie sehr glücklich, erfrischt von Luft und Freude. Bäume und Felder, Heuschober, Zäune und Teiche neben dem Feldweg verschwammen, die Hüttenfenster wurden erhellt, die Luft duftete süß nach harzigem Rauch. Zum erstenmal heute dachte sie an Fiorsen, gedachte seiner fast mit Sehnsucht. Könnte er doch da sein, in dem gemütlichen alten Salon, für sie spielen, während sie sich zurücklehnte – träumend, schlaftrunken, am Kamin, aus dem der Geruch brennender Zedernscheite aufstieg – das Mozart-Menuett oder die kleine herzergreifende Melodie von Poise, die er gespielt, als sie ihn zum erstenmal gehört hatte. Das wäre ein schönes Ende dieses schönen Tages gewesen, dem zur Vollkommenheit noch Glut und Wärme fehlten – Glut und Wärme von Musik und Anbetung.

Die Stute leicht mit dem Absatz berührend, seufzte sie auf. Es war ungefährlich, von Musik und Fiorsen zu träumen, hier, weit fort von ihm; sie meinte fast, daß sie nichts dagegen haben würde, wenn er sich wieder so benähme wie in Wiesbaden, im Regen unter den Birken. Es tat so wohl, angebetet zu werden. Die alte Stute, die sie bereits seit sechs Jahren ritt, begann vergnüglich zu schnauben, da sie den Stall witterte. Nun kam die letzte Biegung, die kurze Buchenallee, die zum Hause führte – dem alten Landhaus, gemütlich, geräumig, ein wenig dunkel, mit weiten flachen Treppen. Sie ist müde, und nun begann es auch zu rieseln. Morgen würde sie steife Glieder haben. Im Licht der offenen Tür stand Markey, und während sie in der Tasche nach Zuckerstückchen für die Pferde suchte, hörte sie ihn sagen: »Herr Fiorsen, ein Herr aus Wiesbaden, er möchte Herrn Winton sprechen.«

Ihr Herz pochte heftig. Was bedeutete dies? Weshalb war er gekommen? Was wagte er? Wie konnte er sie so verraten?! … Ah, er wußte ja nicht, daß sie dem Vater alles verheimlicht hatte. Das war die gerechte Strafe. Sie lief geradeswegs ins Haus, die Treppe hinauf; Bettys Stimme: »Ihr Bad ist bereit, Fräulein Gyp«, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Mit dem Ruf: »Betty, Liebste, bring mir Tee herauf!« eilte sie ins Badezimmer. Dort war sie sicher; die wohlige Wärme des Bades ließ sie die Situation besser ertragen.

Es kann nur eines bedeuten. Er kam, um ihre Hand anhalten. Und plötzlich fühlte sie sich beruhigt. Es ist besser so, jetzt gibt es vor dem Vater keine Geheimnisse mehr. Und er wird zwischen ihr und Fiorsen stehen, wenn sie beschließt, ihn nicht zu heiraten. Der Gedanke erschreckte sie. War sie, ahnungslos, schon so weit gekommen? Ja, und sogar noch weiter. Fiorsen würde ein »Nein« nie annehmen, auch wenn sie es ausspräche. Wollte sie aber überhaupt »nein« sagen?

Sie liebte heiße Bäder, war aber noch niemals so lange im Bad geblieben. Hier war das Leben so angenehm, dort draußen so mühselig. Bettys Klopfen zwang Gyp endlich, aus dem Wasser zu steigen, sie mit dem Tee und einer Botschaft einzulassen: Fräulein Gyp möge hinunterkommen, sobald sie fertig sei.


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