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IV. Kapitel

Bis jetzt war Rosek noch nicht in dem kleinen Haus erschienen. Sie fragte sich, ob ihm Fiorsen wohl ihre Worte wiederholt hatte, doch erkundigte sie sich nicht danach. Gyp hatte bereits entdeckt, daß ihr Mann nur die Wahrheit sprach, wenn ihm dies angenehm war, nicht aber, wenn es ihm Unannehmlichkeiten verursachen konnte. Was Musik oder Kunst anbetraf, war er jedoch völlig verläßlich und hatte, wenn seine Nerven gereizt waren, eine beinahe erschreckende Offenheit.

Beim ersten Konzert sah sie Roseks unwillkommene Gestalt zwei Reihen hinter sich. Er sprach mit einem jungen Mädchen, dessen ovales, ebenmäßiges Gesicht die undurchsichtige Weiße des Alabasters hatte. Die runden, blauen Augen, die auf ihn gerichtet waren, die leicht geöffneten Lippen verliehen ihr einen etwas leeren Ausdruck, auch ihr Lachen klang hohl. Trotzdem aber waren die Züge so schön, das Haar wohl so blond und seidig, der Hals so weiß und rund und die Gestalt so vollendet, daß Gyp den Blick nicht von ihr lassen konnte. Sie saß allein, wollte wieder die Gefühle auskosten, die sie in Wiesbaden empfunden hatte. Es würde eine Art geheiligter Freude in dem Bewußtsein liegen, daß sie mitgeholfen hatte, die Töne zu formen, von denen so viele Zuhörer erschüttert wurden. Schon lange hatte sie sich auf dieses Konzert gefreut. Nun saß sie, ihrer Umgebung unbewußt, verträumt und still da.

Fiorsen sah schrecklich aus, wie immer, wenn er sich zuerst dem Publikum zeigte – kalt, hinterlistig, trotzig, halb abgewandt, mit seinen langen Fingern die Saiten anziehend, über sie hinstreichend. Nein, das war nicht wie damals in Wiesbaden! Auch als er spielte, fühlte sie nicht die gleiche Erschütterung. Sie hatte ihn allzuoft gehört, wußte genau, wie diese Töne vorgebracht wurden, daß ihre Glut, ihre Süße, das Erhabene an ihnen den Fingern, dem Ohr, dem Verstand entsprangen, – nicht der Seele. Es war ihr unmöglich, auf diesen Tönen in neue Welten hinüberzugleiten, Glocken beim Morgengrauen zu hören, und den fallenden Abendtau, die Frische des Windes, das Feuer des Sonnenlichts zu empfinden. Romantik und Verzückung blieben aus. Sie wartete auf die schwachen Stellen, die Sätze, mit denen er und sie gekämpft hatten; Erinnerungen an Launen, schwarze Stimmungen, plötzliche Liebkosungen suchten sie heim. Dann begegnete sie seinen Augen. Der Blick war der gleiche, – und dennoch wie anders als damals in Wiesbaden. Er hatte die Anbetung verloren. Und sie dachte: ist dies meine Schuld oder liegt es daran, daß er mich jetzt besitzt, mit mir tun kann, was er will? Es war eine neue Enttäuschung, vielleicht die herbste von allen. Der Applaus jedoch belebte sie, sie ging auf in der Freude an seinem Erfolg. In der Pause begab sie sich ins Künstlerzimmer. Er kam eben zurück, war zum letztenmal hinausgerufen worden; da er sie sah, verschwand der Ausdruck verächtlicher Langeweile von seinem Gesicht; er hob ihre Hand an seine Lippen. Gyp flüsterte: »Wunderschön!«

Er flüsterte zurück: »Liebst du mich, Gyp?«

Sie nickte; in diesem Augenblick glaubte sie, daß sie ihn liebe.

Dann erschienen andere, darunter ihr alter Musiklehrer, Monsieur Harmost, der nach einem »Merveilleux, très fort« zu Fiorsen, diesem den Rücken kehrte, um mit Gyp zu sprechen.

Sie hat also Fiorsen geheiratet? Wie merkwürdig, wirklich merkwürdig. Und wie war es? Ein wenig komisch, nicht wahr? Mit ihrem Spielen wird es wohl leider nun vorbei sein?! … Nein? Dann muß sie wieder zu ihm kommen, bestimmt wiederkommen. Die ganze Zeit über streichelte er ihren Arm, als ob er Klavier spiele, und seine Finger prüften das feste Fleisch, als wollte er sich überzeugen, ob sie sich ordentlich pflege. Er schien seine einstige Schülerin wirklich vermißt zu haben, und Gyp konnte niemals einer Anerkennung widerstehen. Noch mehr Leute kamen; sie sah, daß Rosek mit ihrem Manne sprach, neben ihnen stand das Alabastermädchen, blickte mit halb geöffneten Lippen zu Fiorsen auf. Eine herrliche Gestalt, wenngleich ein wenig zu klein; ein taubenartiges Gesicht, die wundervoll geformten, halboffenen Lippen schienen um Liebkosungen zu betteln. Sie konnte höchstens neunzehn Jahre alt sein. Wer war sie?

Eine Stimme sagte: »Guten Tag, Frau Fiorsen. Ich bin glücklich, Sie wiederzusehen.«

Es war Rosek. Nichts auf seinem starr lächelnden Gesicht verriet, ob Gustav ihm ihre Worte verraten hatte. Mit verbindlicher Aufmerksamkeit und großer Sicherheit verstand er liebenswürdig zu plaudern. Was war es nur, das ihr an ihm so sehr mißfiel? Gyp besaß einen starken Instinkt, die natürliche Klugheit, die nicht allzu intellektuellen Naturen eigen ist, deren »Fühler« zu fein sind, um getäuscht zu werden.

Seinem Blick folgend, sah sie ihren Mann im Gespräch mit dem Mädchen, dessen Lippen mehr denn je um Liebesworte zu betteln schienen.

»Gefällt sie Ihnen, Madame? … Sie ist Tänzerin, Daphne Wing, die sich einen Namen machen wird. Eine schwebende Taube.«

»Sie ist sehr hübsch, – ich kann mir denken, daß sie schön tanzt.«

»Wollen Sie sie einmal tanzen sehen? Sie hat ihr Debüt noch vor sich.«

Gyp antwortete: »Danke.«

Aber sie dachte: ich will mit ihm nichts zu tun haben. Warum sagte ich nicht, daß ich den Tanz hasse?

In diesem Augenblick ertönte die Glocke, die Menschen eilten fort. Das Mädchen trat auf Rosek zu.

»Fräulein Daphne Wing – Frau Fiorsen.«

Gyp hielt lächelnd ihre Hand hin. Auch Fräulein Daphne Wing lächelte, sagte dann mit der vorsichtigen Betonung eines Menschen, der sorgfältig einen häßlichen Akzent ausgemerzt hat:

»Oh, Frau Fiorsen, wie wunderschön spielt Ihr Mann, – nicht wahr?«

Es lag nicht nur an der vorsichtigen Sprechweise, – wenn die Lippen sich bewegten, fehlte irgend etwas; Gyp tat dies leid, als sähe sie einen Makel an einer vollkommenen Blume. Mit einem Nicken wandte sie sich zu Fiorsen zurück, der sich anschickte, auf das Podium zu gehen. Hatte er sie angesehen oder das Mädchen? Auf dem Korridor sagte Rosek:

»Kommen Sie doch mit Gustav zu mir. Sie wird uns vortanzen. Sie bewundert Sie übrigens sehr, Madame.«

Gyp sehnte sich danach, mit ehrlicher Brutalität sagen zu können: »Ich will nicht kommen!« Doch brachte sie nur hervor: »Danke, ich werde Gustav fragen.«

Als sie ihren Sitz wieder erreichte, rieb sie die Wange, die sein Atem gestreift hatte. Auf dem Podium sang ein Mädchen – eines jener Gesichter, die Gyp immer bewundert hatte – rotgoldenes Haar, blaue Augen – das vollkommene Gegenteil ihrer selbst; das Mädchen sang von einem Herzen, das die Liebe gebrochen hat:

»Und mein Herz, seiner eigenen Sonne beraubt.«

Ein Schauder tiefen Verstehens durchlief Gyp. Väterchen hatte gesagt: »Die Liebe erfaßt uns, und wir sind verloren!«

Nein, sie, die von solcher Liebe geboren, wollte nicht lieben!

Das Mädchen verstummte, der Applaus war gering. Und dennoch hatte sie eines der herrlichsten Lieder der Welt schön gesungen – war es zu tragisch, zu schmerzlich, zu seltsam – nicht »hübsch« genug? Gyp bedauerte das Mädchen. Sie wäre jetzt gern gegangen, doch sie besaß nicht die nötige Unhöflichkeit. Sie wird also den Abend bei Rosek verbringen müssen. Sie hatte freiwillig ein Leben begonnen, in dem es für sie weder Hafen noch Heim gab, freiwillig war sie in den Käfig getreten.

Auf dem Weg nach Roseks Wohnung verbarg sie ihre Kopfschmerzen und ihre trübe Stimmung vor Fiorsen. Er war in einer »Schuljunge-auf-Ferien-Laune«, berauscht vom Applaus, ahmte ihren alten Lehrer nach, die Anbetung seiner Verehrer, Rosek, die erwartungsvoll emporgehobenen Lippen der Tänzerin. Im Wagen schlang er den Arm um Gyp, drückte sie an sich, beroch ihre Wange, als wäre sie eine Blume.

Rosek bewohnte den ersten Stock eines altmodischen Hauses in Russel-Square. Weihrauchgeruch oder ein ähnlicher Duft hing in der Luft, an den Wänden des dunklen Vorzimmers brannte das elektrische Licht in orientalischen Alabastervasen. Die Räume waren das Heiligtum eines Sammlers. Ihr Besitzer hatte eine Leidenschaft für Schwarz – die Wände, die Diwans, die Bilderrahmen, ja sogar die Kacheln des Fußbodens waren schwarz, von einem mondscheinzarten, goldenen und elfenbeinernen Schimmer überhaucht. Auf einem runden schwarzen Tisch stand eine goldene Schale, aus der eine bleichsüchtige Palme wuchs; von der schwarzen Wand glänzte die Elfenbeinmaske eines Fauns, in einer dunklen Nische schimmerte die kleine silberne Figur einer Tänzerin. All dies war schön, doch mit einem Beigeschmack des Todes. Und Gyp, die sonst alles Neue interessierte, jede Schönheit mit lebhaftem Interesse erfüllte, sehnte sich nach Luft und Sonnenschein. Es war eine Erleichterung, an die schwarzverhängten Fenster zu treten und zu sehen, wie die westwärts strebende Sonne die Bäume des Squares mit Licht überflutete. Sie wurde mit Herrn und Frau Gallant bekannt gemacht; er ein dunkeläugiger, zynisch aussehender Mann mit klugem, boshaftem Blick, sie eine üppige Person mit gierigen, starrenden blauen Augen, Rosek sagte, die kleine Tänzerin habe sich entfernt, um »nichts anzuziehen«.

Er zeigte Gyp alle seine Schätze, Skarabäen, Zeichnungen von Rops, Totenmasken, chinesische Bilder und seltsame alte Flöten, tat dies mit einem Ausdruck, als zeige er sie zum erstenmal jemandem, der sie zu würdigen verstehe. Ihr Instinkt schrak vor der verfeinerten Verderbtheit dieser Räume zurück, in denen nur der gute Geschmack als heilig galt. Es war ihr erster Blick in die »Goldschnitt-Boheme«, aus der Begeisterung, Elan und tapferes Ringen der wahren Boheme streng verbannt sind. Doch konnte niemand ahnen, daß sich ihre Nerven spannten wie bei der Berührung einer Leiche. Während er ihr die Alabastervasen zeigte, legte Rosek seine Hand um ihr Gelenk, ließ seine Finger, weicher als die Tatze einer Katze, über ihr Fleisch spielen, hob dann ihre Hand an seine Lippen. »Technique!«, dachte sie. Ein fast unbezwinglicher Lachreiz überkam sie und er merkte es. Nur einen einzigen Blick warf er ihr zu, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht – und siehe – es war wie vorher: ahnungslos, ungekränkt. Ein gefährlicher kleiner Mann!

Als sie in den Salon zurückkehren, saß Fräulein Daphne Wing neben Fiorsen auf dem Diwan, in einem schwarzen Kimono, aus dem Gesicht und Arme sich noch alabasterhafter hervorheben. Sie stand sofort auf und trat zu Gyp.

»Oh, Frau Fiorsen« – weshalb fing jeder ihrer Sätze mit »Oh« an? – »Oh, ist dieses Zimmer nicht herrlich? Es eignet sich wundervoll zum Tanzen. Ich habe nur creme- und flammenfarbene Kostüme mitgebracht, die heben sich so schön von Schwarz ab.«

Sie schlug den Kimono zurück, um Gyp ihr Kleid zu zeigen – ein cremefarbenes, eng anliegendes, gerades Gewand. Ihr Mund öffnete sich, wie um ein Lob zu erbetteln. Dann senkte sie die Stimme.

»Wissen Sie, ich fürchte mich ein wenig vor Graf Rosek.«

»Weshalb?«

»Oh, er ist so kritisch, so glatt, und er bewegt sich so geräuschlos! … Ich finde, daß Ihr Mann herrlich spielt. Oh, Frau Fiorsen, Sie sind so schön! … Was soll ich zuerst tanzen? Einen Chopinwalzer?«

»Ich liebe Chopin.«

»Gut. Ich werde alles tanzen, was Sie wollen, weil ich Sie sehr bewundere; Sie müssen sehr lieb sein. O ja, das sehe ich. Und ich glaube, Ihr Mann ist rasend in Sie verliebt. Wissen Sie, ich studiere nun schon seit fünf Jahren, bin aber noch niemals aufgetreten. Jetzt wird mir Graf Rosek dazu behilflich sein … Sie werden doch zur Premiere kommen? Meine Mutter sagt, ich müsse entsetzlich vorsichtig sein. Sie hat mir heute nur deshalb erlaubt, herzukommen, weil Sie hier sind. Soll ich jetzt anfangen?«

Sie glitt zu Rosek hinüber: »Frau Fiorsen möchte, daß ich anfange. Bitte, einen Chopinwalzer.«

Gyp ließ sich neben Fiorsen nieder.

Rosek begann zu spielen, seine Augen hingen an dem Mädchen, sein Mund weitete sich aus fester Zusammengepreßtheit zu einem süßlichen Lächeln. Fräulein Daphne Wing stand still, die Fingerspitzen gegen die Brust gedrückt – eine Statue aus Ebenholz und blassem Wachs. Sie warf den Kimono ab. Gyp erbebte. Sie konnte tatsächlich tanzen, dieses vulgäre kleine Mädchen! Jede Bewegung der runden, biegsamen Glieder war von der Ekstase natürlichen Genies durchzittert, durch meisterhafte Technik beherrscht. »Eine schwebende Taube!« Ihr Gesicht hatte den leeren Ausdruck verloren, besser, der leere Ausdruck war etwas Göttliches geworden, ein jenseitiger Blick, den der Tanz forderte. Tränen traten in Gyps Augen. Der Tanz war so schön: wie wenn eine Taube sich dem Wind entgegenwirft, auf- und niederschwebt, dann immer höher und höher steigt, mit schlagenden Flügeln.

Als das Mädchen nach dem Tanz zu ihr kam, sich neben sie setzte, drückte Gyp die kleine heiße Hand, doch galt dieser Druck nur ihrer Kunst, nicht dem erhitzten Wesen mit den nach Liebkosungen gierenden Lippen.

»Oh, hat es Ihnen gefallen? Ich bin so froh. Soll ich jetzt mein flammenfarbenes Kostüm anziehen?«

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als verschiedene Urteile laut wurden. Der dunkle, zynische Gallant meinte, der Tanz des Mädchens erinnere ihn an eine gewisse Napierkowska, die er in Moskau gesehen, doch ohne die Glut der Russin – hier fehle noch die Leidenschaft. Sie müsse erst die Liebe kennenlernen. Liebe! Jählings war Gyp wieder im Konzertsaal, hörte das andere Mädchen das Lied eines gebrochenen Herzens singen:

»Dein Kuß, liebste Geliebte,
Wie Brunnenkresse frisch vom kühlen Strom
gepflückt …«

Liebe? In dieser Behausung voll von Faunköpfen, weichen Kissen und silbernen Tänzerinnen. Liebe! Ein plötzliches Gefühl tiefer Erniedrigung überkam sie. Was anderes war denn sie selbst, als ein Fest für die Sinne eines Mannes? War ihr Heim anders als dieses hier? …

Daphne Wing kehrte zurück. Gyp betrachtete das Gesicht ihres Mannes, während das Mädchen tanzte. Wie kam es, daß sie seine Erregung merken konnte und ihr gar nichts daran lag? Hätte sie ihn wahrhaft geliebt, so würde es sie schmerzen, diesen Zug um seine Lippen zu sehen, doch hätte sie es vielleicht begriffen und verziehen.

In der Nacht flüsterte sie: »Wäre dir das andere Mädchen nicht lieber, als ich?«

»Das andere Mädchen? Das trinke ich auf einen Zug aus. Doch du, meine Gyp – dich will ich ewig trinken!«

War dies wahr? Hätte sie ihn geliebt – wie würde es sie beglückt haben, dies zu hören!


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