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XVII. Kapitel

Als der Wagen in die St. James-Straße einbog, gab Winton den Befehl: »Fahren Sie, so rasch Sie können.« Ein feines Rot war in seine gebräunten Wangen gestiegen, die Augen unter den halbgeschlossenen Lidern blickten schärfer, die Lippen waren zusammengepreßt; er sah aus, wie auf der Jagd, wenn ein Fuchs hervorbrach. Er wollte jetzt nichts riskieren – keinen Frontangriff machen. Dazu war später noch immer Zeit, wenn es nottat. Er besaß bessere Nerven als die meisten Menschen und außerdem die stahlharte Entschlossenheit der Engländer seiner Klasse, die sie zu kleinen Unternehmungen so fähig macht. Er ließ den Wagen warten, schellte und fragte nach Gyp – diese kleine List bereitete ihm eine gewisse Freude.

»Sie ist noch nicht zu Hause, Herr. Herr Fiorsen ist daheim.«

»Ah! Und das Baby?«

»Ist daheim, Herr.«

»Ich möchte es sehen. Ist es im Garten?«

»Ja, Herr. Wünschen Sie Tee?«

»Nein, danke.« Wie sollte er diese Weigerung erklären, ohne ein Gerede zu verursachen und jeden Verdacht eines Einverständnisses mit Gyp zu vermeiden? Er setzte hinzu: »Außer wenn Frau Fiorsen heimkommt.«

Als er den Garten betrat, sah er, daß Fiorsen ihn vom Speisezimmerfenster aus beobachtete. Der Kinderwagen stand am äußersten Ende des Gartens unter den Bäumen, die Hunde kamen in rasendem Lauf auf ihn zu. Winton näherte sich dem Baby, begrüßte Betty und betrachtete seine Enkelin. Sie lag unter einem dünnen Schleier, um gegen die Fliegen geschützt zu sein, und war wach. Ihre ernsten, großen, braunen Augen, die schon jetzt denen Gyps glichen, sahen ihn erstaunt an. Er spielte ein wenig mit ihr, dann wandte er sich so, daß er mit dem Gesicht gegen das Haus stand. Derart verharrte Betty mit dem Rücken gegen die Fenster. »Ich bringe Ihnen eine Botschaft von Ihrer Herrin, Betty. Verlieren Sie nicht den Kopf, drehen Sie sich nicht um, hören Sie mich an. Frau Fiorsen ist in der Bury-Straße und wird dort bleiben. Sie will, daß Sie mit dem Baby und den Hunden hinkommen.« Die Augen der dicken Frau wurden immer runder, ihr Mund öffnete sich. Winton legte die Hand auf den Kinderwagen. »Bleiben Sie ganz ruhig. Gehen Sie jetzt wie gewöhnlich mit dem Kinde aus, es ist ja gerade die übliche Zeit. Warten Sie an der Regent-Park-Ecke auf mich, ich werde Sie dann in den Wagen nehmen. Regen Sie sich nicht auf, nehmen Sie nichts mit, benehmen Sie sich ganz wie gewöhnlich. Verstanden?«

Es liegt nicht in der Natur dicker Frauen, unter deren Obhut Babys stehen, derlei Befehle ohne Fragen entgegenzunehmen. Bettys rotes Gesicht, ihr wogender Busen ließen Winton hastig hinzufügen: »Nehmen Sie sich zusammen, Betty. Gyp braucht Sie. Ich werde Ihnen im Wagen alles sagen.«

»Ja, Herr. Armes kleines Ding! Was soll denn mit seinen Nachtsachen geschehen? Und denen von Fräulein Gyp?«

Wissend, daß die Gestalt noch immer am Fenster stehe, neigte sich Winton abermals über den Kinderwagen und sagte: »Kümmern Sie sich nicht darum. Sobald ich mich am Salonfenster zeige, gehen Sie. Augen gradaus, Betty, drehen Sie sich nicht um; ich werde Ihren Rückzug decken. Lassen Sie Gyp jetzt nicht im Stich. Nehmen Sie sich zusammen.«

Mit einem tiefen Seufzer flüsterte Betty: »Gut, Herr, – o Gott!« – und begann, ihre Hutbänder in Ordnung zu bringen. Winton grüßte und schritt auf das Haus zu. Er hielt die Augen gesenkt, tat, als betrachtete er die Blumen, bemerkte aber trotzdem, daß Fiorsen sich vom Fenster entfernte. Winton schritt durch die Salontür und begab sich eilends in die Halle. Ehe er die Speisezimmertür öffnete, lauschte er einen Augenblick. Fiorsen ging auf und ab. Er blieb stehen, starrte wild auf Winton; dieser sagte: »Wie geht's? Ist Gyp nicht zu Hause?«

»Nein.«

Etwas im Ton dieses »Nein« berührte Winton mit einer unbestimmten Reue. Es war hart, von Gyp verlassen zu werden! … Dann aber verhärtete sich sein Herz von neuem. Der Kerl war ein Schurke.

»Das Baby sieht prächtig aus«, sagte er.

Fiorsen begann wieder auf und ab zu gehen. »Wo Gyp nur bleibt?!«

Winton zog seine Uhr. »Es ist noch nicht spät.« Aber plötzlich erfaßte ihn großer Ekel vor der Rolle, die er spielte. Das Baby holen, – Gyp in Sicherheit bringen – ja. Doch nicht dieses Heucheln, daß er nichts wisse. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging. Er konnte nicht länger derart flunkern. War die Frau schon fort? Er betrat wieder den Salon. Da kamen sie eben vorüber. In fünf Minuten ist sie an der Ecke. Er verharrte wartend. Wenn nur der Mensch nicht hereinkommt! Durch die Wand konnte er ihn noch immer im Speisezimmer umhergehen hören. Wie lang ist doch eine Minute! Nun sind bereits drei vergangen. Die Speisezimmertür öffnete sich, Fiorsen durchschritt die Halle, strebte der Haustür zu. Was mochte er vorhaben? Er schien zu horchen. Plötzlich hörte Winton ihn seufzen. Es war genau der Laut, der ihm selbst oft in längst vergangenen Tagen entschlüpft war, wenn er in sehnsüchtiger, peinigender Sorge auf Schritte gelauscht hatte. Liebte denn dieser Mensch wirklich? Es empörte sich in ihm etwas dagegen, ihn zu belauschen; er trat vor, sagte: »Nun, ich kann nicht länger warten. Adieu.« Die Worte: »Grüßen Sie Gyp« – wollten ihm nicht über die Lippen.

»Adieu«, wiederholte Fiorsen. Winton eilte auf die Straße hinaus und fühlte, daß die trübselige Gestalt noch immer an der halboffenen Tür stand. Betty war nicht zu sehen, sie mußte die Ecke erreicht haben. Seine Mission war gelungen, doch empfand er keinen Triumph. An der Ecke nahm er die beiden in seine Droschke, der Kinderwagen wurde auf das Verdeck geladen, und sie fuhren rasch weiter. Er hatte alles im Wagen erklären wollen, nun jedoch bemerkte er nur: »Sie fahren morgen alle nach Mildenham.«

Und Betty, die ihn seit ihrem Zusammenstoß vor vielen Jahren fürchtete, betrachtete ihn von der Seite und wagte keine Frage zu stellen. Ehe sie daheim anlangten, ließ Winton bei einem Postgebäude halten und sandte folgendes Telegramm ab:

»Gyp und das Baby sind bei mir, Brief folgt. Winton.«

Das beruhigte sein Gewissen, außerdem war es notwendig, damit Fiorsen nicht zur Polizei gehe. Mit allem anderen mußte er warten, bis er sich mit Gyp besprochen hatte.

Es wurde spät, ehe sie miteinander reden konnten.

Nahe am offenen Fenster, an das Markey, zum Zeichen seiner Befriedigung über Gyps Rückkehr, zwei selbstgekaufte Hortensien gestellt hatte, begann sie. Sie hielt nichts zurück, erzählte den ganzen kläglichen Mißerfolg ihrer Ehe. Als sie von Daphne Wing und ihrer Entdeckung im Musikzimmer berichtete, sah sie, wie sich das glühende Ende von Wintons Zigarre heftig bewegte. In ihrem eigenen Hause, – in ihrem eigenen Hause! Und nachher hatte sie mit ihm noch weitergelebt! Winton unterbrach sie nicht. Seine Ruhe wirkte fast unheimlich.

Als sie zu den Ereignissen dieses letzten Tages kam, zögerte sie. Mußte sie ihm auch von Rosek erzählen? Die Offenheit ihrer Natur siegte. Winton rührte sich nicht. Erst als sie zu Ende war, erhob er sich und verlöschte langsam an dem Fensterbrett die Zigarre. Dann betrachtete er sie, die wie erschöpft in ihrem Stuhl zurückgesunken lag, sagte: »Bei Gott!« und wandte sein Gesicht dem Fenster zu.

In dieser Stunde, da die Theater noch nicht zu Ende waren, brütete Schweigen über den Londoner Straßen, nur durch die schrille Stimme einer halbtrunkenen Frau unterbrochen, die, heimwärts schwankend, mit ihrem Manne schalt, und die Geigentöne eines Straßenmusikanten, der, nach einem leeren Tag, noch etwas verdienen wollte. Diese Töne reizten Winton, denn sie erinnerten ihn an die beiden verfluchten Ausländer, die Gyp so schmählich behandelt hatten. Ihnen mit dem Säbel gegenüberzustehen, sie vor dem Lauf seiner Pistole zu haben, – ihnen eine Lektion zu erteilen! Er hörte Gyp sagen: »Väterchen, ich möchte gern seine Schulden bezahlen. Dann wäre alles, als ob ich ihn nicht geheiratet hätte.«

Ein Laut des Unmutes entschlüpfte ihm. Er war nicht für glühende Kohlen auf des Feindes Haupt.

»Ich möchte mich auch vergewissern, daß es dem Mädchen gut geht, bis alles vorüber ist. Vielleicht könnte ich dazu das … das andere Geld verwenden, falls mein eigenes angelegt ist?«

Es war nur Zorn, nicht Mißbilligung ihres Wunsches, der ihn zögern ließ; Geld und Rache waren nie eins in seinem Geist.

»Ich möchte das Gefühl haben, als hätte er mich nie geheiratet, – dazu gehört auch, daß auch seine Schulden erledigt werden!«

Winton sah sie an. Wie ähnelte die in dem alten Lehnstuhl zurückgesunkene Gestalt, das in den Schatten emporgehobene Gesicht ihrer Mutter! Ein Gefühl des Triumphes stieg in Winton auf: er hatte sie wieder!


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