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Zweiter Teil

 

I. Kapitel

Gyp dachte an ihr Kleid, ein pilzfarbenes, gestreiftes Samtkleid. Wenige Mädchen aus ihrer Klasse heiraten ohne den »Unsinn«, wie Winton es nannte, wenige sitzen im reservierten Abteil erster Klasse, ohne vorher während einiger schmeichelhafter Stunden der Mittelpunkt einer großen Gesellschaft gewesen zu sein, ohne als Ermutigung für die nächsten Stunden die Erinnerung an das Verhalten, an die Worte ihrer Freunde mit sich zu nehmen, die sie mit ihrem Manne besprechen kann, um so alle anderen Gedanken zu verscheuchen. Gyp hatte als einzige Zerstreuung ihr neues Kleid, die Erinnerungen an Bettys Tränen, an die leeren Gesichter des Standesbeamten und dessen Schreiber. Sie blickte verstohlen nach ihrem Mann, der ihr in einem blauen Serge-Anzug gegenübersaß. Ihr Mann! Frau Ghita Fiorsen! Nein, die anderen mochten sie so nennen, für sich selbst blieb sie Ghita Winton. Ghita Fiorsen wird ihren Ohren niemals richtig klingen. Ohne es sich einzugestehen, fürchtete sie, seinen Augen zu begegnen, und blickte zum Fenster hinaus. Es war ein grauer, farbloser, trüber Tag, ohne Wärme, ohne Sonne, ohne Klang – die Themse floß bleiern dahin, die Weidenbäume an den Ufern sahen trostlos aus.

Plötzlich fühlte sie seine Hand auf der ihren. Noch nie hatte sie einen derartigen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen – doch, einige Male, wenn er spielte –, es war, als ob die Seele sein Antlitz durchleuchte. Jählings erfaßte sie ein Gefühl der Sicherheit. Wenn er so blieb – dann …! Seine Hand glitt auf ihre Knie herab, das Gesicht veränderte sich ein wenig, das Vergeistigte schien zu schwinden, zu verblassen, seine Lippen wurden voller. Er setzte sich neben sie. Gyp freute sich zitternd, daß neben dem Abteil ein offener Gang war und begann ablenkend von ihrem Haus zu sprechen. In den Stunden, die sie bis jetzt zusammen verbracht hatten, hatte er einem Verhungernden geglichen, der ein hastiges Mahl hinunterschlingt; nun, da er sie ganz für sich hatte, wurde er plötzlich wie ausgewechselt, wie ein Schulknabe auf Ferien.

Dann holte er seine Übungsvioline hervor, setzte die Sordine auf und spielte. Als er das Gesicht abwandte, blickte sie ihn an. Ohne Backenbart sah er weit besser aus. Eines Tages hatte sie den Backenbart berührt und gesagt: »Wenn doch diese Flügel fortfliegen wollten!« Am nächsten Morgen waren sie bereits fortgeflogen.

Sie war selbst jetzt noch nicht an sein Gesicht gewöhnt, ebensowenig wie an seine Berührung.

In Torquay war der Himmel sternenklar, der Wind trug frische Meeresluft in ihren Wagen, in der Ferne blinkten Lichter, im kleinen blauschwarzen Hafen schwammen Boote gleich zahmen Vögeln. Als der Wagen stehenblieb und sie die Hotelhalle betraten, flüsterte sie ihm zu: »Lassen wir die Leute nichts merken.«

Er erwiderte lachend: »Die Leute sollen nichts bemerken, meine Gyp. O nein! Wir sind alte Eheleute und haben einander schon sehr satt – sehr!«

Beim Diner belustigte es ihn, belustigte es auch sie ein wenig, die Komödie der Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. Bisweilen jedoch wandte er sich um, starrte einen harmlosen Gast, der sie voll Interesse betrachtete, mit so wilder und tiefgefühlter Verachtung an, daß Gyp erschrak. Nachdem sie ein wenig, er aber viel Wein getrunken hatte, hörte die gespielte Gleichgültigkeit jählings auf. Er sprach viel, ahmte die Kellner und die Umsitzenden nach; sie lächelte, ein wenig geängstigt, daß die Verspotteten es merken könnten. Dann gingen sie in die Halle. Er wollte, daß sie rauche. Sie hatte es noch nie in öffentlichen Lokalen getan, doch schien es ihr steif und »fräuleinhaft«, sich zu weigern; sie mußte sich ja seiner Welt anpassen. Sie zog den Vorhang vom Fenster zurück, Seite an Seite blickten sie hinaus. Unter hellen Sternen lag tiefblau das Meer, der Mond schien durch eine verwitterte kleine Fichte. Obwohl Gyp fünfeinhalb Fuß groß war, reichte sie nur bis an seinen Mund. Er sagte seufzend: »Eine schöne Nacht, meine Gyp!« Und plötzlich fühlte sie, daß sie von ihm, der doch ihr Gatte war, gar nichts wußte. »Ihr Gatte« – ein komisches Wort, es klang nicht einmal hübsch. Es war ihr wie einem Kinde zumute, das die Tür eines dunklen Zimmers öffnet. Sie hielt seinen Arm fest.

»Sieh! Da ist ein Segelschiff. Was macht das in der Nacht dort draußen?«

In ihrem Wohnzimmer befand sich ein Klavier – doch war es unmöglich, morgen würden sie ein anderes mieten. Morgen! Der Raum war heiß, er zog, um zu spielen, seinen Rock aus. In seinem Hemdärmel war ein kleiner Riß. Sie dachte mit einer Art Triumph: »Das werde ich flicken.« Auch dies war etwas Tatsächliches, Bestimmtes. Lilien standen auf dem Tisch, dufteten stark und süß. Eine ganze Stunde lang spielte er; Gyp lag in ihrem cremefarbenen Kleid zurückgelehnt, lauschte. Sie war müde, jedoch nicht schläfrig, wäre gern ein wenig schläfrig gewesen. Um ihre Mundwinkel erschien die traurige kleine Falte, ihre Augen waren tief und dunkel – sie glich einem betrübten Kinde. Sein Blick hing festgebannt an ihrem Gesicht. Schließlich legte er die Geige fort und sagte:

»Geh schlafen, Gyp, du bist müde.«

Gehorsam stand sie auf, ging ins Schlafzimmer. Mit einem leichten Bangigkeitsgefühl im Herzen kleidete sie sich ganz nahe am Feuer aus, beeilte sich sehr und kroch ins Bett. Sie lag dort, fröstelnd im feinen Batist, zwischen den kalten Leintüchern, die Augen halboffen, und betrachtete das Flackern des Feuers. Sie dachte an nichts, lag nur ganz stille. Die Tür knarrte. Sie schloß die Augen. Hatte sie überhaupt noch ein Herz? Es schien gar nicht mehr zu schlagen. So lag sie mit geschlossenen Augen, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Im Feuerschein sah sie ihn am Fußende des Bettes knien, konnte gerade noch sein Gesicht unterscheiden – ein Gesicht, gleich einem anderen – wo hatte sie dieses andere nur gesehen? Ach ja, auf einem Bilde: ein erregter Mann zu Füßen Iphigenies – ebenso demütig, so verlangend, in Anschauen versunken. Sie schluchzte leise, unterdrückt auf und hielt ihm die Hand hin.


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