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VI. Kapitel

Der mit einer Veranda versehene Bungalow, der für einen Künstlerfreund Tante Rosamundens gebaut worden war, besaß einen Garten mit einer einzigen Fichte, die sich gleichsam von dem weiter hinten gelegenen Wald hierher verirrt hatte. Das Haus stand in völliger Einsamkeit auf einem niedrigen Felsen, unter dem sich der Strand in sanften Wellen hinzog.

Wenn Gyp nachts aus ihrem Schlafzimmerfenster blickte, war ihr zumute, als sei sie das einzige Wesen auf der Welt. Die gekräuselte, silbrige See, die einsame Fichte, der kalte Mond, der tiefblaue Himmel, der zischende, summende Laut der Brandung auf dem steinigen Strand, ja selbst die kühle, salzige Luft schienen einsam. Auch tagsüber – in der dunstigen Hitze, wenn die rauhen Seegräser reglos standen, die Möwen kichernd und schrillend dahinschwebten, schien das Ganze wie ein Traum. Gyp badete, wurde braun wie ihre kleine Tochter. Doch zürnte sie dem glücklichen Leben dieser Sommertage ringsum, den Möwen, dem Sonnenschein, den fernen weißen Segeln, den stillen, lichtgebadeten Fichten, dem lächelnden, spielenden, plaudernden Baby, Betty und den anderen Dienstboten, – dem ganzen einfachen, schmerzfremden Leben.

Auf die einzige tägliche Post freute sie sich stets. Zwar hätte fast jeder seine Briefe lesen dürfen, die mit der Anrede: »Meine liebe Freundin« begannen. Würde er jetzt, fern von ihr, nicht einsehen, daß es das beste sei, sie zu vergessen? Vor ihm lag noch alles, – konnte er denn nach ihr verlangen, vor der nichts mehr lag? Irgendein blauäugiges Mädchen mit rotblondem Haar – von jenem Typus, der den ihren so weit übertraf – würde ihn ihr nehmen! Was dann? Wird es nicht ärger sein, als es vordem war? So viel ärger, daß sie daran nicht zu denken wagte.

Dann kam fünf Tage lang kein Brief. Sie fühlte einen stetig stärker werdenden Schmerz, Sehnsucht und Eifersucht, gänzlich verschieden von dem Gefühl empörten Stolzes, das sie empfunden hatte, da sie Daphne Wing und Fiorsen im Musikzimmer überraschte. Wie weit das zurücklag! … Als am fünften Tag die Post nur eine Rechnung für die Schuhe der kleinen Gyp und einen Brief von Tante Rosamunde aus Harrogate brachte, wo sie mit Winton ihre alljährliche Kur machte, stürzte Gyps Herz in Untiefen. War dies das Ende? Mit einem blinden, betäubten Gefühl wanderte sie in den Wald hinaus.

Sie schritt weiter, bis die graubraunen, harzblutenden Bäume vor ihr die Außenwelt verbargen, dann warf sie sich mit dem Gesicht auf die Erde, vergrub die Ellenbogen tief in die Fichtennadeln. Tränen, die bei ihr so selten waren, stiegen ihr in die Kehle. Aber das Weinen machte sie nur krank. Sie legte sich auf den Rücken, verharrte reglos. Hier war es ganz still, selbst um die Mittagsstunde. Das Seufzen der ruhigen See drang nicht bis zu ihr, kein Vogel sang, keine Fliege summte. Hohe nackte Fichtenstämme ragten auf, gleich Säulen eines Tempels, dessen Dach die dunklen Wipfel und der blaue Himmel waren. Weiß wollige Wolken zogen langsam durch das Blau. Hier sollte Friede herrschen, – doch er blieb ihrem Herzen fern.

Eine dunkle Gestalt stapfte durch das Dickicht, eine zweite, zwei Esel, die sich irgendwo losgerissen hatten und nun einander Nase und Hals beleckten. Die beiden demütigen, freundlichen Tiere erweckten in ihr ein Gefühl der Beschämung. Weshalb bedauerte sie sich so, hatte sie doch im Leben alles, dessen sie bedurfte – außer der Liebe, die sie niemals zu begehren vermeint hatte. Doch jetzt begehrte sie sie, begehrte sie endlich mit ihrem ganzen Sein!

Schaudernd schnellte sie empor; Ameisen waren auf sie gekrochen, sie mußte sie vom Hals, von ihrem Kleid fortstreifen. Sie strebte dem Strand zu. Hatte er wirklich jemand gefunden, der seine Gedanken ausfüllte, sie daraus vertrieb? Niemals wird sie ihm durch Wort oder Zeichen verraten, daß sie ihn vermißt, daß sie nach ihm verlangt, – niemals! Lieber sterben!

Sie trat in den Sonnenschein hinaus. Es war Ebbe, der feuchte Sand schimmerte in zartem Opalglanz, Streifen lagen auf dem Meer, wie wenn sich Schlangen unter den Wassern dahinwinden. Fern im Westen stand der große schroffe Fels, der den Horizont gleich einem Traumgebilde abschnitt. Alles war traumhaft. Jählings begann ihr Herz zu pochen, daß sie zu ersticken glaubte. Auf einem Felsen neben dem Pfad saß Summerhay.

Er erhob sich, kam ihr entgegen. Sie sagte gelassen: »Ja, ich bin's. Haben Sie je etwas so Zigeunerhaftes gesehen? Ich dachte, Sie wären noch in Schottland. Wie geht's Ossy?« Dann verließ ihn die Selbstbeherrschung.

»Es nützt nichts, Gyp. Ich muß Sie sprechen.«

Gyp schien es, als setzte ihr Herzschlag aus, sie sagte still:

»Setzen wir uns für eine Minute«, und trat hinter die Felsen, wo man sie vom Hause aus nicht sehen konnte. Sie zog zitternd einen rauhen Grashalm durch die Finger.

»Ich habe nicht versucht, Sie zu überrumpeln, – nicht wahr? Habe es nie versucht.«

»Nein, niemals.«

»Es ist unrecht.«

»Gyp, können Sie mich nicht lieben? Ich weiß ja, daß ich nicht viel wert bin. Heute sind es genau elf Wochen, daß wir einander im Zug begegneten. Seither habe ich keine Minute Ruhe gehabt, Sie für keinen Augenblick vergessen.«

Gyp seufzte.

»Was sollen wir tun? Sehen Sie dort hinüber, jener kleine blaue Fleck im Gras ist meine Tochter. Das Kind – und mein Vater – und … Ich fürchte mich, fürchte mich vor der Liebe, Bryan.«

Da er zum erstenmal seinen Vornamen von ihren Lippen hörte, griff er nach ihrer Hand. »Fürchten, weshalb fürchten?«

Gyp sagte sehr leise:

»Ich könnte allzusehr lieben. Sagen Sie nichts mehr. Nein, nein! … Gehen wir ins Haus, zum Lunch.« Sie erhob sich.

Er blieb bis zur Teezeit, sprach aber kein Wort mehr von Liebe. Nachdem er gegangen war, saß sie unter der Fichte, die kleine Gyp auf dem Schoß. Hätte ihre Mutter die Liebe geflohen, wäre sie selbst nie geboren worden. Die Mücken stachen bereits, als sie ins Haus ging. Nachdem die kleine Gyp gebadet worden war, begab sie sich in ihr Schlafzimmer, beugte sich aus dem Fenster. War es wirklich heute gewesen, daß sie auf der Erde gelegen hatte, daß Tränen der Verzweiflung ihre Wangen genetzt hatten? … Hoch zur Linken der Fichte stieg der Mond empor, blaß, kaum sichtbar am fahlen Himmel. Eine neue Welt, ein Zaubergarten!

Am Abend saß sie mit einem Buch auf den Knien, doch las sie nicht. Es vollzog sich in ihr jene seltsame Veränderung der ersten Liebe – das Versinken des »Ich« ins »Du«, die leidenschaftliche Unterwerfung, das intensive, unbewußte Aufgeben des Willens in der Erwartung einer vollkommeneren Vereinigung.

Ihr Schlaf war traumlos, schwer und belastend. Zu erschöpft, um zu baden, saß sie den ganzen Morgen mit der kleinen Gyp am Strande. Hatte sie die Energie, den Mut, ihn am Nachmittag bei dem Felsen zu treffen, wie sie es versprochen hatte? Zum erstenmal wich sie jetzt Bettys Augen aus, wie einst, wenn sie als Kind unartig gewesen war. Sie fürchtete, daß Betty zuviel wisse. Nach einem frühen Tee machte sie sich auf den Weg, denn ging sie nicht, würde er kommen, und sie wollte nicht, daß ihn die Dienstboten zwei Tage nacheinander bei ihr sähen.

Der späte Augusttag war warm und still, – schon war die Ernte eingebracht, die Äpfel reiften, Rotkehlchen sangen, schläfrige Wolken schwebten dahin, der Himmel war blaßgrau, die See lächelte. Gyp schritt landeinwärts, über den Fluß. Hier wuchsen in der satten, rotbraunen Erde keine Fichten. Die zweite Kleesaat stand bereits hoch, Hummeln und Bienen tummelten sich, hoch oben durchschnitten weißbrüstige Schwalben die Luft. Gyp pflückte Blumen. Sie war nahe dem Strande, als sie Summerhay bei dem Felsen stehen sah, über den Sand nach ihr ausspähend. Nach dem Gesumme der Bienen und Fliegen war es hier sehr still, nur die winzigen Wellen plätscherten leise. Er hatte ihr Kommen noch nicht bemerkt, und der Gedanke durchzuckte sie: Wenn ich noch einen Schritt vorwärts gehe, so ist es für immer. Sie stand da, kaum atmend, hielt die Blumen an die Lippen. Dann hörte sie ihn seufzen, trat rasch vor und sagte: »Da bin ich!«

Er ergriff ihre Hand, wortlos gingen sie auf dem weichen Sand nebeneinander her. Sie kletterten die niedrigen Felsen hinan, strebten durch das Gras einem Stoppelfeld zu. Als er die Holzpforte für sie offen hielt, riß er sie in seine Arme und küßte ihre Lippen. Für sie, die wohl an die tausendmal geküßt worden, war dies dennoch der erste Kuß. Totenblaß sank sie gegen die Pforte, blickte ihn dann mit bebenden Lippen, ganz dunklen Augen verwirrt an. Und plötzlich wandte sie sich um, legte die Arme auf die Pforte und vergrub ihr Gesicht. Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, das sie zu zerreißen schien, sie weinte, als wollte ihr das Herz brechen. Seine scheue, erschrockene Berührung nützte nichts, nichts seine flehende Stimme nahe an ihrem Ohr. Sie konnte nicht aufhören. Der Kuß hatte in ihrer Seele etwas aufgerissen, ihr ganzes vergangenes Leben fortgefegt, etwas Schreckliches und Wunderbares ihr angetan. Endlich brachte sie die Worte hervor:

»Es tut mir leid, – so leid. Nicht mich anschauen! Geh ein wenig fort, dann werde ich … ich werde mich beruhigen.«

Er gehorchte wortlos, schritt durch die Pforte, setzte sich auf den Felsen und blickte, den Rücken ihr zugewandt, aufs Meer hinaus.

Gyp umklammerte das Holz der alten grauen Pforte, bis die Hände sie schmerzten, sah auf die Schmetterlinge, die einander im Sonnenlicht verfolgten, bis gegen den gekräuselten Wellenschaum der ruhigen See, wo sie nur noch flatternde weiße Pünktchen im Blau waren.

Sie hatte noch immer nicht das Gefühl, sich selbst vertrauen zu können. Was mit ihr geschah, war zu gewaltig, zu süß, zu erschreckend, und sie trat zu ihm, sagte: »Laß mich allein nach Hause gehen! … Morgen.«

»Wie du willst, Gyp, immer wie du willst.«

Er drückte ihre Hand an seine Wange, dann kreuzte er die Arme, starrte auf das Meer. Gyp ging lange Zeit nicht heim, saß im Fichtenwald, bis der Abend kam und die Sterne am Himmel erschienen, der jene blaue Farbe hatte, von der die Spiritisten sagen, sie sei die Seelenfarbe der Guten.

Spät am Abend, als sie ihr Haar gebürstet hatte, öffnete sie die Glastür und trat auf die Veranda hinaus. Kein Laut drang aus dem schlafenden Haus; kein Windhauch regte sich. Ihr Gesicht, ihre Hände, ihr ganzer Körper schienen zu brennen. Das leise Beben der Flut auf der wellenlosen See hob und senkte sich. Die Sandfelsen schimmerten wie Schnee. Und wie in jeder mondhellen Nacht war alles voll Leben. Ein großer Nachtfalter flatterte an ihrem Gesicht vorbei. Irgendein kleines Nachttier huschte über den Sand. Plötzlich bewegte sich der Schatten der Fichte – bewegte sich ein wenig! An den Stamm gepreßt stand Summerhay, sein Gesicht hob sich kaum merklich ab, das Mondlicht fiel auf eine Wange, auf die Hand, mit der er die Augen beschattete. Er streckte die Hand bittend aus. Gyp verharrte regungslos und blickte auf die flehende Gestalt. Dann sah sie mit einem noch nie empfundenen Gefühl, daß er auf sie zukam. Er stand still und blickte zu ihr empor. Sie konnte den wechselnden Ausdruck seines Gesichtes unterscheiden: Leidenschaft, Ehrfurcht, Staunen. Sie vernahm sein scheues Flüstern: »Bist du es, Gyp? Wirklich du? Du siehst so jung aus!«


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