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XVI. Kapitel

Gyp schritt unter ihrem Sonnenschirm weiter, strebte unbewußt dem Frieden der Bäume zu. In ihrem Geist wirbelten die Eindrücke durcheinander: Daphne Wings Gestalt an der Tür, Herrn Wagges rundes Gesicht, das rote Pampasgras, die blaue Schale, Rosek, da er sich auf sie stürzte, ihr Baby, unter den Bäumen schlafend.

Sie erreichte den Kensington-Park und setzte sich auf eine Bank. Es war um die Mittagszeit; Kindermädchen, Hunde, Kinderwagen, alte Herren – alles hastete zu den Mahlzeiten nach Hause. Die Leute blickten mit kritischem Erstaunen die junge Frau an, die um diese Stunde allein und müßig hier saß, suchten in ihrer Schönheit nach einem Gebrechen – krumme Beine oder sonst etwas, das den Liebreiz ihres Gesichtes wettmachte. Doch bemerkte Gyp niemand, außer hier und da einen Hund, der im Vorübergehen an ihren Knien schnupperte. So lange hatte sie sich in Gefühllosigkeit geübt, sich geweigert, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen; nun war der Damm zerstört, die Flut hatte ihn fortgefegt. »Gerichtliches Vorgehen.« Denen, die davor zurückschrecken, ihre intimen Angelegenheiten selbst den nächststehenden Freunden anzuvertrauen, kommt gar nicht der Gedanke an eine öffentliche Schaustellung ihrer Leiden; jedenfalls war er Gyp niemals gekommen. Sie dachte mit einem bitteren Lächeln: schließlich bin ich besser daran als sie. Wenn auch ich ihn liebte? Nein, ich will nie, niemals lieben! Frauen, die lieben, leiden zu sehr.

Sie saß eine geraume Weile auf der Bank, bis ihr einfiel, daß Monsieur Harmost sie um drei Uhr zur Stunde erwarte. Es war zwei Uhr vorüber, und sie machte sich auf den Weg. Der Tag war voll vom Summen der Bienen, dem Gurren der Tauben, dem leisen Raunen und Rascheln der Blätter. Der Duft der Lindenblüten stieg zum tiefblauen, mit weißen Wolken getupften Himmel auf. Weshalb unglücklich sein? Ein gefleckter Hund, mit breitem Kopf und buschigem Fell beschnüffelte ihr Kleid, umkreiste sie in der Hoffnung, sie werde den Sonnenschirm ins Wasser werfen, damit er ihn herausholen könne, da das für einen Hund ja doch der einzige hinreichende Grund dafür ist, daß etwas in der Hand gehalten wird.

Sie fand Monsieur Harmost unruhig im Zimmer auf und ab gehend; die geöffneten Fenster vermochten den Tabakgeruch nicht zu verscheuchen.

»Ah«, sagte er, »ich dachte schon, Sie kämen nicht. Sie sind blaß. Ist es die Hitze? Oder« – er blickte ihr forschend ins Gesicht, »hat Ihnen jemand weh getan, meine kleine Freundin?« Gyp schüttelte den Kopf. »Ach ja, Sie sagen mir nichts, sagen niemandem etwas. Verschließen Ihr hübsches Gesicht wie eine Blume zur Nachtzeit. In Ihrem Alter, mein Kind, sollte man sich jemandem anvertrauen! Heimliches Leid wirkt auf die Musik, wie der Ostwind auf den Magen. Sagen Sie mir, was Sie drückt, ich wollte Sie schon lange danach fragen. Wir sind alle nur einmal jung; ich möchte Sie glücklich sehen.«

Wäre es eine Erleichterung, ihr Herz auszuschütten? Seine braunen Augen forschten wie die eines alten Hundes. Sie wollte einen so gütigen Menschen nicht kränken. Und dennoch, – es war ihr unmöglich!

Monsieur Harmost setzte sich ans Klavier. Er ließ die Hände auf den Tasten ruhen, drehte sich zu ihr um. »Sie wissen ja, daß ich in Sie verliebt bin. Alte Männer können sehr verliebt sein, wissen aber, daß es keinen Sinn hat, – und das macht sie erträglich. Trotzdem möchten wir gerne der Jugend und der Schönheit nützen, das erwärmt uns ein wenig. Vertrauen Sie mir Ihr Leid an!« Er wartete einen Augenblick, dann sagte er mißmutig: »Gut, gut, – gehen wir an die Musik.«

Es war seine Gewohnheit, an der Klavierecke zu sitzen, heute jedoch blieb er stehen, als habe er vor, ganz besonders streng zu sein. Und Gyp spielte, entweder weil ihre Nerven überreizt waren oder weil sie nicht zu Mittag gegessen hatte, besser als je. Die Chopin-Polonaise in A-Moll, diesen Sang der Revolution, der ihr immer zu schwer gewesen war, gelang ihr unerwartet gut. Nachdem sie geendet hatte, führte Monsieur Harmost ihre Hand an seine Lippen. Sie fühlte das Kratzen des kleinen stacheligen Bartes und hob, mit einem Seufzer der Befriedigung, das Gesicht. Hinter ihnen sagte eine höhnische Stimme: »Bravo!«

In der Tür stand Fiorsen.

»Ich gratuliere, Madame. Schon lange wollte ich dich inspiriert sehen, von deinem – alten Lehrer!«

Gyps Herz begann zu pochen. Monsieur Harmost hatte sich nicht gerührt. Seine Augen waren erschrocken.

Fiorsen küßte die Rückseite seiner eigenen Hand.

»Dieser alte Bajazzo! Pah, was für ein Geliebter!«

Gyp sah den alten Mann zusammenfahren, sie schnellte auf und rief: »Du Bestie!«

Monsieur Harmosts Stimme sagte hinter Gyp: »Bevor Sie gehen, Monsieur, wollen Sie mir bitte eine Erklärung für Ihr Benehmen geben?«

Fiorsen drohte mit der geballten Faust und verließ, unverständliche Worte murmelnd, das Zimmer. Sie hörten die Vordertür ins Schloß fallen. Gyp trat hastig ans Fenster und sah in den Hinterhof hinaus. Sogar hierher war der Sommer gedrungen. Die Blätter des einzigen Baumes glänzten; auf einem kleinen, prall von der Sonne beschienenen Fleck wärmte sich eine schwarze Katze, die ein blaues Band um den Hals trug. Aus einer Nebengasse klang die Stimme einer Erdbeerenverkäuferin herüber. Gyp wurde sich dessen bewußt, daß Monsieur Harmost hinter ihr stand, die Hand gegen den Mund gepreßt; ein wahrer Sturm von Zorn und Schmerz brach in ihr auf. Diesen gütigen, harmlosen alten Mann so zu beleidigen! Das war wahrlich der Gipfel von Fiorsens Gemeinheiten, das wird sie ihm niemals verzeihen. Er hatte damit ja auch sie beleidigt, hatte sie über jede Grenze hinaus beleidigt. Sie wandte sich um, legte beide Hände in die Monsieur Harmosts: »Es tut mir so leid. Leben Sie wohl, lieber Monsieur Harmost, ich werde am Freitag kommen.« Und ehe er sie zurückhalten konnte, war sie schon fort.

Als sie auf der anderen Seite der Straße das Trottoir erreichte, fühlte sie sich am Kleid gezogen und sah Fiorsen dicht hinter sich. Sie schüttelte ihn ab und schritt eilends weiter. Wird er ihr auf der Straße eine Szene machen? Er packte sie beim Arm. Sie blickte sich um und sprach in eisigem Ton: »Bitte, mache auf der Straße keine Szenen, und gehe mir nicht nach. Wenn du mir etwas zu sagen hast, kannst du es zu Hause tun.«

Dann schritt sie gelassen weiter. Er folgte ihr noch immer in einiger Entfernung. Als ein Taxameter vorbeikam, winkte sie dem Kutscher, sagte: »Bury-Straße – rasch.« Sie sah Fiorsen vorstürzen, doch kam er zu spät, um sie aufzuhalten. Er stand ganz still, totenblaß unter dem breitkrempigen Hut. Doch war Gyp in ihrem Zorn und ihrer Aufregung alles einerlei.

Sie hatte sich entschlossen, zu ihrem Vater zu gehen. Sie wird nicht mehr zu Fiorsen zurückkehren; wie aber wird sie Betty und das Kind bekommen? Winton war jetzt sicher in seinem Klub. Sie lehnte sich aus dem Wagenfenster: »Nein, fahren Sie nach der Hyde-Park-Ecke.«

Der Portier, der sie kannte, rief eilig einem der Diener zu: »Major Winton – rasch!« und kam aus seiner Loge heraus, um ihr einen Sessel und die »Times« anzubieten.

Gyp saß mit der Zeitung auf den Knien, wurde sich unklar ihrer Umgebung bewußt – ein magerer alter Herr bog sich ängstlich in einer Ecke, ein weißbestrumpfter Diener kam mit einem Teetablett vorüber, auf dem Kleiderhaken hing eine Anzahl Hüte, vor dem grünen, mit weißen Zetteln bedeckten Brett standen drei Klubmitglieder. Eines derselben, ein großer, starker, gutmütig aussehender Mann mit einem Kneifer und weißer Weste stellte sich so, daß er sie, ohne sie unhöflich anzustarren, betrachten konnte, Sie schien ihm offenbar zu gefallen. Dann kam die ruhige Gestalt des Vaters an der kleinen Gruppe vorbei; und da sie es eilig hatte, dieses Männerheiligtum zu verlassen, ging sie Winton bis zur Treppe entgegen. »Ich möchte mit dir sprechen, Väterchen.«

Er warf ihr einen raschen Blick zu, nahm seinen Hut und folgte ihr zur Tür. Im Wagen legte er seine Hand auf die ihre. »Nun, Liebste?«

»Ich will zu dir zurück. Ich halte es dort nicht mehr aus. Es … es … ich bin fertig.«

Seine Hand drückte fest die ihre, als wollte er ihr weitere Worte ersparen. Gyp fuhr fort: »Aber ich muß das Baby bekommen, ich habe solche Angst, daß er es behalten wird, um mich zur Rückkehr zu zwingen.«

»Ist er zu Hause?«

»Ich weiß nicht. Ich habe ihm noch nicht gesagt, daß ich ihn verlasse.«

Winton sah auf die Uhr und fragte: »Geht das Baby manchmal um diese Stunde aus?«

»Ja, nach dem Tee, da ist es kühler.«

»Dann werde ich gleich mit diesem Wagen weiterfahren. Bleib du hier und laß das Zimmer für das Kind vorbereiten. Mache dir keine Sorgen und geh nicht aus, ehe ich zurück bin.«

Gyp dachte: Wie wundervoll von ihm, keine einzige Frage zu stellen.

Der Wagen hielt in der Bury-Straße. Er fragte gelassen: »Willst du auch die Hunde?«

»Ja, o ja. Er hat sie nicht gern.«

»Gut. Es wird uns dann noch Zeit genug bleiben, dir einige Sachen für die Nacht zu kaufen. Frau Markey soll dir inzwischen Tee machen.«

Gyp sah dem Wagen nach, sah, wie Winton ihr mit der Hand zuwinkte; mit einem tiefen Seufzer, halb der Sorge, halb der Erleichterung, schellte sie an der Tür.


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