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XII. Kapitel

Sie schlich ins Haus und begab sich sofort in ihr Zimmer. Sie zog eben ihre Bluse aus, da trat Betty mit tränenüberströmtem Gesicht ein.

»Betty, was ist geschehen?«

»O Liebste, wo sind Sie gewesen? Sie haben sie gestohlen! Der schlechte Mensch – Ihr Mann – hat sie aus dem Kinderwagen gehoben, ist im Auto mit ihr davongefahren – er und der andere. Ich habe fast den Verstand verloren.« Gyp starrte sie entgeistert an. »Und der Major war fort, was konnte ich tun? Ich hatte mich nur umgedreht, um das Parktor zu schließen und sah ihn erst, als er seinen langen Arm in den Kinderwagen steckte, sie herausriß.« Betty sank aufs Bett und brach völlig zusammen.

Gyp stand reglos, in tödlicher Angst. Dieser rachsüchtige Schurke Rosek!

»O Betty, wie wird sie weinen!«

Erneutes Stöhnen war die einzige Antwort. Gyp erinnerte sich plötzlich der Worte, die der Anwalt vor einem Jahr gesagt hatte. Dem Gesetz nach hatte Fiorsen Anspruch auf das Kind. Damals hätte sie es für sich verlangen können, wenn sie eine schreckliche Anklage gegen ihn erhoben hätte, heute ging das sicher nicht mehr. Wollten sie dadurch ihre Rückkehr zu Fiorsen erzwingen oder daß sie ihren Geliebten aufgibt? Sie trat zum Spiegel und sagte: »Wir wollen gleich gehen, Betty, wollen sie irgendwie zurückholen. Wasch dein Gesicht.«

Während Gyp sich ankleidete, rang sie die Angst, das Kind oder ihren Geliebten zu verlieren, energisch nieder. Je mehr sie ihre Angst bezwingen würde, um so besser würde sie handeln können. Irgendwo hatte sie einen kleinen Dolch, den sie vor langer Zeit als Geschenk erhalten hatte. Sie suchte ihn, zog ihn aus dem rotledernen Futteral, schützte die Spitze mit einem Kork und verbarg ihn in der Bluse. Waren sie imstande, ihr Baby zu stehlen, so scheuten sie vor nichts zurück. Sie schrieb einen Zettel an ihren Vater, benachrichtigte ihn von dem Vorgefallenen und wohin sie gegangen war. Dann fuhren sie in einem Wagen fort. Kaltes Wasser und die Ruhe ihrer Herrin hatten die Spuren der Erregung von Bettys Gesicht gewischt, doch hielt sie Gyps Hand fest in der ihren und seufzte schwer.

Gyp wollte nicht denken. Wenn sie daran dachte, daß ihre Kleine weine, mußte auch sie weinen. Doch schwoll in ihr der Haß gegen jene an, die ihr diesen feigen Schlag versetzt hatten. Sie faßte einen Entschluß und sagte gelassen: »Wegen Herrn Summerhay, Betty, haben sie unseren Liebling geraubt. Sie wissen ja, daß wir einander liebhaben. Man hat sie gestohlen, um mich in der Hand zu halten.«

Ein tiefer Seufzer antwortete ihr.

Hinter dem Mondgesicht spielten sich Kämpfe ab zwischen Moral und Glauben an Gyp, zwischen der Angst um sie und dem Wunsche für ihr Glück, zwischen der loyalen Unterwerfung des alten Dienstboten und dem Gefühl der alten Kinderfrau.

»O Gott! Er ist ja auch ein netter Herr. Ich hatte auch immer das Gefühl, als seien Sie nicht richtig verheiratet mit diesem Ausländer, – in diesem abscheulichen Standesamt, ohne Blumen, ohne Musik, ohne kirchlichen Segen, ohne alles! Damals habe ich mir fast die Augen ausgeweint.«

Gyp sagte still: »Ja, Betty, ich glaubte nur, daß ich verliebt sei.« Ein krampfhaftes Pressen ihrer Hand, keuchende, schnaufende Laute ließen sie einen neuen Ausbruch befürchten. »Weine nicht! Wir sind gleich angelangt. Denke an unseren Liebling!«

Der Wagen hielt. Sie griff nach ihrer kleinen Waffe, schritt, Betty fest am Arm haltend, die Treppen hinauf. Erinnerungen an Daphne Wing, Rosek, die andere große Frau, wie hieß sie nur? – an viele Gesichter, an unheilige, dort oben verbrachte Stunden, Erinnerungen an späte Nachtstunden, da sie mit Fiorsen diese Treppen hinabgeschritten, in den Wagen gestiegen war, an Fiorsen neben sich in der Dunkelheit, das Gesicht düster in eine Ecke gedrückt oder nahe an das ihre gepreßt. Einmal waren sie im Morgengrauen, von Rosek begleitet, zu Fuß heimgekehrt! Verblaßte, unwirkliche Erinnerungen! Bettys Arm fester haltend, läutete sie.

»Ist Herr Fiorsen zu Hause, Ford?«

»Nein, gnädige Frau. Herr Fiorsen und Graf Rosek sind heute nachmittag aufs Land gefahren. Ich weiß ihre Adresse nicht.« Sie mußte sehr blaß geworden sein, denn sie hörte den Mann sagen: »Kann ich Ihnen etwas bringen, gnädige Frau?«

»Wann sind sie fortgefahren, bitte?«

»Um ein Uhr, gnädige Frau, mit dem Auto. Graf Rosek lenkte selbst. Ich glaube, sie werden nicht lange fortbleiben, denn sie nahmen nur kleines Gepäck mit. Ich werde Sie sofort von ihrer Rückkehr verständigen, gnädige Frau, wenn Sie Ihre Adresse hier lassen wollen.«

Gyp gab ihm ihre Visitenkarte, flüsterte: »Danke, Ford, danke vielmals«, und schritt, schwer auf Betty gestützt, die Treppen hinab.

Tiefe schwarze Angst erfüllte sie. Wie schrecklich ist es, ein hilfloses Geschöpf zu verlieren – Kinder, Hunde – zu wissen, daß man nicht zu ihnen gelangen kann, wenn sie auch noch so sehr leiden! In Ungewißheit festgenagelt zu sein, in den Ohren das Weinen des Kindes zu hören – dieses Grauen mußte Gyp nun durchleben. Und es war nichts zu machen! Nichts, als sich schlafen zu legen und zu warten! Barmherzigerweise – dank dem langen, im Freien verbrachten Tag – verfiel sie schließlich in traumlosen Schlummer. Als sie am Morgen geweckt wurde, lag auf ihrem Teebrett ein Brief von Fiorsen:

»Gyp,

ich bin kein Babydieb wie Dein Vater. Das Gesetz spricht mir ein Recht auf mein eigenes Kind zu. Schwöre mir, daß Du Deinen Geliebten aufgibst, und das Kind soll sofort zu Dir zurückkehren. Tust Du das nicht, so nehme ich es aus England fort. Schreibe mir postlagernd und hindere Deinen Vater daran, mir noch weitere Streiche zu spielen.

Gustav Fiorsen.«

Darunter stand die Adresse eines Westendpostamts.

Nach einem Augenblick fast körperlicher Qual kehrten ihr Verstand und ihre Klugheit zurück. War er betrunken, als er den Brief schrieb? Fast schien ihr, sie verspüre Kognakgeruch, doch glaubt man so leicht, was man gerne glauben möchte. Sie las den Brief ein zweites Mal. Hätte er ihn allein geschrieben, niemals hätte er sich eines Spottes gegen das Gesetz oder sich selbst als Hüter ihrer Tugend enthalten können. Das war Roseks Diktat! Ihr Zorn flammte von neuem auf. Weshalb sollte sie gewissenhaft sein? Sie sprang aus dem Bett und schrieb:

»Wie konnten Sie etwas dermaßen Brutales tun? Lassen Sie wenigstens die Kleine ihre Kinderfrau haben. Es sieht Ihnen nicht ähnlich, ein kleines Kind leiden zu lassen. Betty ist bereit, zu kommen, sobald Sie nach ihr schicken. Ich brauche Zeit, um einen Entschluß zu fassen. Ich werde Sie in zwei Tagen verständigen.

Gyp.«

Nachdem sie den Brief und ein Telegramm an den Vater nach New Market abgesandt hatte, las sie Fiorsens Brief nochmals und war noch überzeugter davon, daß er von Rosek herrühre. Und plötzlich dachte sie an Daphne Wing. Hier war vielleicht eine Rettung. Es schien ihr, als sähe sie das Mädchen liegen, bleich und hoffnungslos, des eigenen Kindes beraubt. Ja, gewiß, ein Versuch lohnte sich.

Eine Stunde später hielt ihr Wagen vor der Wohnung der Wagges. Als sie eben läuten wollte, sagte eine Stimme hinter ihr: »Erlauben Sie, ich habe den Schlüssel. Ah, – Sie sind es!« Herr Wagge, beruflich gekleidet, stand hinter ihr. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, sagte er. »Ich dachte schon, wir würden Sie wiedersehen, nach allem, was vorgefallen ist.«

Er hängte den schwarzen, kreppbedeckten Hut auf den Ständer und meinte heiser: »Ich hatte wirklich gehofft, wir wären mit der Sache fertig.«

Dann öffnete er die Tür des Eßzimmers.

Der Tisch in dem ihr allzu wohlbekannten Zimmer war mit einem schmutzigen weißen Tischtuch bedeckt, eine Flasche Worcestersoße stand darauf. Die kleine blaue Schale war verschwunden, nichts störte mehr die Harmonie von Rot und Grün. Gyp sagte hastig: »Lebt Daph … Daisy nicht mehr zu Hause?«

Auf Herrn Wagges Gesicht vermischten sich Mißtrauen, Erleichterung und List, zusammen mit der scheuen Bewunderung, die ihm Gyp stets einzuflößen schien.

»Bedeutet dies, daß Sie … daß? …«

»Ich kam fragen, ob Daisy etwas für mich tun würde.«

Herr Wagge schneuzte sich.

»Sie wußten nicht? …«

»Ja, ich nehme an, daß sie mit meinem Mann zusammenkommt. Doch liegt mir nichts daran, es bedeutet mir nichts mehr.«

Herrn Wagges Gesichtsausdruck wurde durch seine verletzten Gattengefühle noch komplizierter.

»Es ist unter den gegebenen Umständen vielleicht kein Wunder. Ich habe immer gedacht …«

Gyp unterbrach ihn: »Bitte, Herr Wagge, – wollen Sie mir Daisys Adresse geben?«

Herr Wagge versank einen Augenblick in tiefe Gedanken, dann sagte er barsch, abgehackt: »Dreiundsiebzig, Comrade-Straße, Soho. Bevor ich ihn am Dienstag dort gesehen habe, hatte ich mich der Hoffnung hingegeben … Jetzt tut es mir leid, daß ich ihn nicht geprügelt habe, doch war er mir zu flink …« Er hob eine der schwarzbehandschuhten Hände, durchsägte die Luft. »Daisys verfluchte Selbständigkeit … verzeihen Sie – aber ich kann nicht anders …« Er verstummte plötzlich.

Gyp schritt an ihm vorbei.

»Wer könnte anders?« hörte sie noch seine Stimme. »Diesmal habe ich geglaubt, sie würde sich anständig halten …« Während sie die Tür öffnete, erschien über ihrer Schulter sein rundes, rotes, graubärtiges Gesicht. »Wenn Sie zu ihr gehen, so werden Sie ihr hoffentlich sagen …«

Im Wagen schauderte Gyp. Einmal hatte sie mit dem Vater im Strandviertel in einem Restaurant geluncht. Es war voll von Herren Wagges gewesen.


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