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Winter 1915/16
Der Krieg hat uns alle ein Gefühl für die unwägbaren Lebensmächte geschenkt. Empfindungen sind in uns aufgequollen, von einer Stärke und Größe, die niemand vorher schätzen und errechnen konnte. Eine Kraft und Glut ist Millionen geschenkt, die in keines Menschen Zukunftsbild verzeichnet war. Skeptiker sind Lügen gestraft, Philister sind umgeworfen, Kleinmütige sind beschämt worden. Aus ungekannter, unermessener Tiefe quollen neue Gefühle: Liebe und Schmerz, Erhebung und Trauer von anderer Weite und Feierlichkeit, als wir sie kannten. Unausschöpflich – so wußten wir wieder – ist hinter Alltag und Gewohnheit ein schöpferischer Born des Lebens, aus dem es blüht über Vorbedacht und Wissen hinaus. Der Geist der Zeit ist wieder gläubiger geworden; das Unberechenbare gegenüber dem Erwarteten, das Verborgenwirkende gegenüber dem Zutageliegenden gilt uns wieder mehr.
Vielleicht liegt es daran, daß man in der Behandlung der Bevölkerungsfrage, als sie sich aus den Kriegsproblemen plötzlich wieder neu heraushob, eine andere Auffassung erwartet hatte. Ein stärkeres Einsetzen der unberechenbaren Mächte, die hier wie nirgend anders das Leben beherrschen. Und eine lebhaftere Fühlung dafür, daß diese Frage niemals nur eine äußerliche und »politische«, sondern immer eine ganz innere und persönliche ist.
Der Begründung der Gesellschaft für Bevölkerungspolitik folgte im Oktober in Berlin die Konferenz der Zentralstelle für Volkswohlfahrt über »Die Erhaltung und Mehrung unserer Volkskraft«. Die Berliner Zweigvereine des Bundes deutscher Frauenvereine veranstalteten im unmittelbaren Anschluß an diese Tagung ihrerseits eine Versammlung, um den Frauenstandpunkt eingehender darzulegen, als es in bloßen kurzen Diskussionsreden möglich gewesen war. Die Frage steht also, nachdem der Krieg sie erst in den Hintergrund gedrängt hatte, wieder als ein wesentlichstes, aus dem Krieg selbst hervorgehendes Problem im Vordergrund.
Vom Krieg ist natürlich auch die Auffassung des Problems beherrscht. Mir scheint: in doppelter Hinsicht. Nämlich nicht nur sachlich, darin, daß die Frage ganz unter den Gesichtspunkt der Wehrkraft tritt, sondern auch in ihrer Behandlungsart, dadurch, daß sie im wesentlichen im Kreise von Männern über vierzig Jahren verhandelt wird. Daß die Jugend nicht dabei ist, tut gewiß nicht der wissenschaftlichen, aber sicher der menschlichen Erfassung Abbruch. Und nach dieser Richtung lag auch die Einseitigkeit der Verhandlungen. Die Jugend konnte nicht zu Wort kommen, und die Frauen kamen nicht zu Wort, oder doch nicht genug.
In der Behandlung der Frage unter dem Eindruck des Krieges wird an sich die Gefahr dieser Einseitigkeit sehr groß. Selbstverständlich beginnt jede Rede mit der Darlegung der Volksvermehrung in Rußland in ihrer Bedeutung für unsere Wehrfähigkeit. In den Säuglingen sieht man schon die Armeekorps. Wir stellen jährlich nur eines mehr ins Leben. Rußland zwei bis drei. Der zwingende Ernst dieser Tatsachen soll gar nicht bestritten werden. Es ist unbedingt notwendig, daß wir uns klar sind: die Masse der Deutschen muß wachsen, damit Deutschland sich im Wettkampf behauptet. Und doch lehnt sich etwas in unserm Gefühl auf gegen diese Auffassung der Bevölkerungsfrage als eines »Wettrüstens« der Mütter, wie sie so nackt und unverblümt in der Argumentation zum Ausdruck kommt, die sich meist an die Darstellung des deutschen Geburtenrückgangs anschließt: »Glücklicherweise gehen bei der Mehrzahl unsrer Gegner die Geburten auch zurück.« So als ob die deutschen Mütter gebären sollen, je nachdem das Thermometer der feindlichen Geburtenstatistik auf und ab steigt. Das ist natürlich wörtlich nicht gemeint, aber es liegt in der Konsequenz jener Betrachtungsweise, in der die Kinderstube nur Durchgangsstation für das Heer ist. Eine Vertauschung des Lebens selbst und seiner Verteidigung in der Rangordnung der Werte. Der Krieg ist nicht der Zweck des Lebens. Das Leben hat seinen Zweck in sich selbst, in seiner Kraft und Blüte, seiner Schönheit und Größe. Es muß um seiner selbst willen gewollt werden: um der ganzen Fülle der Güter willen, die es birgt, nicht wegen dieses oder jenes einzelnen – noch so großen, noch so erhabenen Zweckes.
Mit der einen Veräußerlichung hängt dann die andere zusammen: wenn aus dem Auge verloren wird, daß der Mensch mehr ist als seine Zwecke, daß die Vollkommenheit der Zwecke nur aus der zentralen Kraft des Lebens wird und nicht umgekehrt, dann kommt man zur Überschätzung der äußeren Mittel. Äußere Zwecke und äußere Mittel werden zu einem System verknüpft, in dem der lebendige Mensch, sein persönlichster Wille, seine stärksten Gefühle zu einem bloßen Bindeglied zwischen zwei äußeren Motiven werden: dem Staatsmotiv eines starken Nachwuchses und dem persönlichen einer Prämie, Zulage oder sonstigen Lebensverbesserung.
So sieht es wirklich manchmal aus, wenn ein ganzes Bestechungssystem von Versicherungen, Anerkennungen, Entschädigungen versprochen wird, um das Leben hervorzulocken. Ein System, das den Kinderzuwachs zu einem persönlichen äußeren Vorteil machen soll und bei dem man doch etwas vergißt: erstens, daß immer noch die Mühe und Last größer bleibt als der Vorteil, und zweitens, daß die Ablenkung des Willens zur Elternschaft auf solche äußeren Motive eine seelisch recht bedenkliche Verschiebung ist. Die Mutter, die nicht das Kind, sondern die Prämie will, ist mitsamt ihrer ganzen Leistung für die Rasse von recht zweifelhaftem Wert.
Alle diese Maßnahmen dürfen grundsätzlich nichts anderes sein als Hilfen, die da einsetzen, wo der Wille zur Elternschaft vor sozialen Hemmungen steht. Aber wenn wir uns fragen, ob der Rückgang der Geburten mehr auf solchen tatsächlich unüberwindlichen Hemmungen eines vorhandenen Willens oder auf einer Schwächung des Willens zur Elternschaft beruht, so wird niemand das erste unbedingt zu bejahen und das zweite unbedingt zu verneinen wagen.
Es kommt letzten Endes auf die Frage an, ob diese Willensschwäche zu heben ist. Auf den letzten Kongressen ist – aus dem Gefühl heraus, daß die Bevölkerungsfrage eine zentrale Frage, keine rein »politische« ist – verschiedentlich auf die Bedeutung der Religion hingewiesen. Meist auch wieder in der äußerlichen Verknüpfung eines religiösen Gebots und seiner Befolgung. Der Zusammenhang liegt aber doch tiefer, liegt darin, daß das gleiche sittliche Kraftbewußtsein, das sich in der Gefolgschaft einer geistig gerichteten Lebensanschauung zeigt, überhaupt ein verantwortungsvolles Leben höher einschätzt als ein bequemes oder genußvolles und eben darum auch die Verantwortung für Kinder nicht fürchtet, sondern sucht. Gewiß hat die Weltanschauung mit dieser Frage zu tun, aber nicht sofern sie diese oder jene, katholisch oder protestantisch, sondern sofern sie Abbild und Ausdruck einer Gesinnung ist, der sich der Wert des Lebens nach seiner Leistung und seinen inneren Gütern bemißt. Es gibt ein Wort Herders, das heißt »Leben des Lebens Lohn«, und man kann vielleicht sagen, daß die Bevölkerungsfrage von dem innersten Erfassen dieser Wahrheit abhängt. Dauerndes Glück, stichhaltende innere Bereicherung ist nicht zu gewinnen durch Entleerung des Lebens von Aufgaben und Pflichten, sondern in dem Maße, als wir für andere da sind, austeilen, schaffen, weil nur dann auch das Leben der anderen zu uns kommt, sich uns mitteilt und uns reich macht. Menschen, die zu uns gehören, sind der höchste Reichtum, letzten Endes der einzige, den wir besitzen, und es gibt nichts Größeres, als eines andern Menschen Leben entzünden und aufbauen. Das Wissen darum besitzt die schlichteste Mutter in dem Glück über ihr Kind, und zu diesem Wissen gelangt schließlich wieder die geistigste Lebensauffassung als zu ihrer letzten Erkenntnis, ihrem höchsten Prinzip. Das einfachste Gefühl und die höchste Weisheit fließen wieder in Eins zusammen, und die erhabenste Lehre erscheint als Ausdeutung einer schlichtesten inneren Erfahrung. Nicht äußere Güter, nicht Besitz und Behagen, sondern der Mensch ist das Glück des Menschen. Entscheidend für die Bevölkerungsfrage ist, wie weit ihr seelischer Hintergrund durch dies Bewußtsein gefärbt ist.
Das wird in gewisser Weise von der allgemeinen Lebenszuversicht abhängen. Der Glaube an die Zukunft, das Bewußtsein, einer aufsteigenden Entwicklung anzugehören, spricht dabei vor allem mit. Gustav Frenssen läßt am Anfang von Hilligenlei einen jungen Menschen erst den Mut zur Vaterschaft finden, als ihm aufgeht, daß sein eigener Stand eine Zukunft hat. Das wirkt an dieser Stelle ein wenig geradezu, ist aber als Symbol richtig. In der sinkenden Geburtenziffer prägt sich der Pessimismus gegenüber der Zukunft aus, sie ist ein Spiegel eigener vergeblicher Lebenskämpfe. Dieses Verzagen kann auf einem Irrtum, auf falscher Einstellung des eigenen Lebens beruhen, es ist aber gleichwohl eine bedeutsame psychologische Tatsache. Der Glaube, daß der Tüchtige vorwärts kommt, vor allem, daß er anerkannt wird, der Glaube an soziale Gerechtigkeit ist ein stärkster seelischer Faktor für den Lebensmut und den Mut zur Elternschaft. Dafür bekommt man in den Stimmen aus dem Publikum, die nach öffentlichen Verhandlungen über diese Frage laut zu werden pflegen, die mannigfachsten Zeugnisse. Wer ihren Ton richtig versteht, fühlt – es ist gar nicht so sehr die Sehnsucht nach einem behaglichen Leben an sich, als das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, das hier seine Stimme erhebt. Dies Bedürfnis kennzeichnet die Seelenverfassung aller der Schichten, die über den nackten Materialismus niedrigster Kulturhaltung hinauswachsen, denen das geistige Gut der bürgerlichen Achtung in gleichem Maße teuer wird, wie ihre Selbstachtung steigt. Das Verlangen nach Achtbarkeit kann zu mancher Torheit führen, ist aber im Kern eine gute und wichtige moralische Kraft, über die nicht hinweggesehen werden kann. Von einem Stand, der das Gefühl hat, minderen Ansehens zu sein, trachten alle tüchtigen Angehörigen, ihren Kindern über sich selbst hinaus zu helfen, und sie sind nicht geneigt, so viel Kinder aufzuziehen, daß diese Möglichkeit verloren wird. Darum bedeutet die allgemeine politische und soziale Lebensluft, die Verbreitung eines guten Geistes freier gegenseitiger Anerkennung vielleicht im letzten Grunde viel mehr für unsere Frage wie das Materielle als solches.
Durch diese seelischen Tatsachen wird den Maßnahmen, die im Bereich der Bevölkerungspolitik liegen, eine doppelte Richtlinie gewiesen. Einmal: dafür sorgen, daß sich die Freude am Kinde, eine menschliche Regung von mindestens ebenso ursprünglicher Geltung wie die Freude an irgendwelchen anderen Lebensgenüssen, voll entfalten kann.
Dazu müssen die sozialen Einrichtungen verstärkt und ausgebaut werden, die den Müttern die Möglichkeit eines seelischen Muttererlebnisses erst sichern können. Einer überhetzten Frau, die niemals über das Gefühl des Unbehagens, der Übermüdung und Überlastung hinauskommt, der sich das Mutterwerden verknüpft mit unauslöschlichen Erinnerungen an Not und Bedrängnis, der erschließt sich der Quell des Glücks erst gar nicht, aus dem die Bereitschaft zu aller künftigen Mutterschaft entspringt. Wöchnerinnenschutz und Säuglingsfürsorge können gar nicht weit genug gehen, um dem Muttergefühl erst einmal zu Luft und Atem zu helfen. Die Mittel dazu werden gerechterweise durch eine Besteuerung der Kinderlosen aufgebracht werden können. Es würde sogar volkserziehlich nicht schlecht sein, diesen Zweck mit der Junggesellen- und Kinderlosensteuer in eine ganz direkte Beziehung zu bringen.
Die zweite Richtlinie der Bevölkerungspolitik muß sein, die Quellen überflüssigen sozialen Ehrgeizes zu verstopfen. Es gilt einen Kampf gegen den Materialismus, der in einer unwürdigen und schamlosen Art die gesellschaftlichen Gradunterschiede bestimmt. Ist es nicht mehr wie merkwürdig und ganz und gar widersinnig, daß die Zugehörigkeit zu einem »höheren«, d. h. geistigeren, Beruf dokumentiert werden muß durch Diners von bestimmter Länge und Güte, durch einen Salon von bestimmter Beschaffenheit und hundert andere Erfordernisse eines rein materiellen Wettbewerbs? Die große Mehrzahl der Leute, die das alles haben müssen, verschaffen es sich keineswegs aus eigenem, sondern lediglich aus Standesbedürfnis. Sollte die Selbstachtung und innere Unabhängigkeit unserer Gebildeten nie so groß werden können, daß sie in der geschmackvollen und durchgeistigten Einfachheit das Kennzeichen ihrer Bildung suchen, worin sie die überlegene Kultur, die sie darstellen wollen, im Grunde viel unnachahmlicher zum Ausdruck bringen können, als wenn sie mit dem bloßen äußeren Aufwand des Parvenüs konkurrieren? Tatsächlich aber bedürfte es geradezu eines neuen Lebensstils der gebildeten Minderbemittelten, um dieser Forderung zu genügen. Daß dieser Stil geschaffen wird, ist bevölkerungspolitisch wichtiger als eine Kinderzulage. Und es müßte möglich sein, ihn zu schaffen. Vielleicht wird der Krieg eine Reaktion gegen den bisherigen Weg der ständigen Steigerung des materiellen Luxus bringen. Und damit würden sehr viele Ehe- und Kinderhindernisse fortfallen: Kautionen, Repräsentation, gesellschaftlicher Ehrgeiz usw., der ganze aufreibende Wettbewerb des Mitmachens, durch den Beamte, Offiziere, vielfach gerade die wertvollsten und begabtesten Kräfte des Volkes, zu sinkenden Kinderzahlen kommen.
Noch ein anderes hängt damit zusammen: die Einschätzung und Selbsteinschätzung der Frau als Repräsentationsträgerin. Die Kindermüdigkeit der verhältnismäßig gutgestellten Frauen hängt innerlich damit zusammen, daß sie Schaustück der gesellschaftlichen Rangstufe des Mannes geworden sind, dessen soziale Erfolge sie in ihren Reiherhüten, Pelzen und Perlen zur allgemeinen Kenntnis und Anschauung zu bringen haben. Diese Frauen, denen ein von außen ihnen aufgedrängtes Muß bald zur eigenen Natur wird, sind in der Ober- und Mittelschicht die eigentlichen Trägerinnen des Gebärstreiks, weil sie eitel, oberflächlich, weichlich und anspruchsvoll werden müssen in der Pflichtenlosigkeit ihres Daseins, und weil sie immer weiter hinausgedrängt werden aus der frohen, frischen Unmittelbarkeit des Lebens. Sie kennen die Arbeit nicht und das Ausruhen, die Anspannung und den Erfolg, die Mühe und den Lohn. Sie fürchten sich vor der Natur und dem Leben.
Bei den Tagungen zur Bevölkerungspolitik wurde unendlich viel von der Erziehung zur Mutter gesprochen. In einer merkwürdig dürftigen Art. Als käme es nur auf die richtigen Kurse an: Kochen, Kinderpflegen usw. Gewiß kommt es darauf an. Aber unvergleichlich mehr noch darauf, daß die Frau ihre Mutterschaft als eine ihr selbständig anvertraute menschheitlich-nationale Sendung erfaßt, durch sie und aus ihr zur Staatsbürgerin reift. Das kann nur geschehen, wenn auch ihre Stellung in der Familie diese ihre Würde zum Ausdruck bringt. So wie diese Stellung durch Sitte und Gesetz heute bestimmt ist, kann die Durchschnittsfrau dieses stolze, verantwortliche Mutterbewußtsein, diese Kraft zu eigenem Einstehen für eine blühende Zukunft unseres Volkes nicht erringen. Vielmehr ist sie in Versuchung, die passive Mitläuferin nicht von ihr geschaffener ungesunder Lebenssitten zu sein. Eine selbständige, kraftvolle Stellung zu ihrer eigensten Aufgabe liegt nicht in der Linie der heutigen Muttererziehung, auch wenn die jungen Mädchen noch so viel Versuchssäuglinge wickeln und waschen und noch so viele Nährwerttabellen auswendig lernen.
Es kommt aber auf Mütter an, die den Mut haben, sozialen Degenerationserscheinungen ihren ungebrochenen weiblichen Willen entgegenzusetzen. Auf mütterliche Reformatoren, die sich ein Naturrecht wiederzuerkämpfen den Mut und die Klugheit haben.