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Die innere Rüstung

Herbst 1915

Der zweite Kriegswinter beginnt. Wir wissen, daß er schwerer sein wird als der erste. Schwerer trotz der größeren Sicherheit, mit der wir dem militärischen Verlauf und dem wirtschaftlichen Durchhalten heute zusehen dürfen. Schwerer in dem Maße, als das Außerordentliche im Ertragen, Leisten, Warten, zu dem die Kraft einiger Monate reichte, die Forderung von Jahren zu werden scheint. Was leicht – nein, nicht leicht, aber voll Feuer und Größe war im Anfang, das Hingeben, Arbeiten und Opfern, wird belastender, indem die Tage und Wochen dahingehen, Tage und Wochen, die uns zu Alltagsmenschen machen, ohne daß wir es spüren, wie das zugeht. »Der Krieg als Alltag« – ein Wort voll Bürde und harter Pflicht, voll Dunkelheit und Darben. Die Stunden tragen uns nicht mehr, sie kommen heran als eine Aufgabe. Wir leben nicht mehr so selbstverständlich mit aus der allgemeinen großen Kraft, wir müssen uns selbst weiterhelfen.

Es ist nicht Unrecht oder Schwäche, das zuzugeben. Im Gegenteil: es wäre Phrase und Pose, wollten wir so tun, als seien wir in der großen Stimmung der ersten Wochen erstarrt. Sie war nur einmal und konnte nur einmal sein. Wir wollen sie nicht selbst entweihen, indem wir ihrem Nachklang den Namen geben, auf den nur ihr erster heiliger und mächtiger Anschlag ein Recht hat.

Und wiederum: es wäre Unrecht auch gegen alles, was seitdem von unserem Vaterlande gelitten ist; Verleugnung des Kostbaren, das wir verloren haben, Übersehen der Bergeslast von Sorge und Angst, die auf Tausenden liegt, wenn wir uns vorspiegeln wollten, daß alles in uns so sei wie in dem Augenblick, als der Krieg nur erst heldenhafter Wille, feuriger Entschluß, Ausmarsch und Bereitschaft war.

Als Schicksal und als Aufgabe, als Verhängnis und Forderung ist der Krieg von Monat zu Monat größer, wirklicher, eingreifender geworden. Und wir haben standzuhalten. Je mehr wir dem, was von uns verlangt wird, diesen Namen geben: »standhalten« – um so wahrhaftiger werden wir vor uns selbst, um so gerüsteter vor unserer Pflicht stehen.

 

Aus vieler Frauen Leben hat der Kriegstod seinen Inhalt gerissen. Jeden Tag scheiden neue Mütter und Gattinnen aus den Reihen der Hoffenden, Mitlebenden und vermehren die stummen Scharen derer, die kein persönlicher Jubel oder Schmerz mehr mit den Geschehnissen draußen verbindet. Aus tausend Seelen steigt die Frage: wozu bin ich noch da? und findet keine Antwort. Denn alles, was bleibt: ein Dasein für »die andern« – irgendwelche fernen Menschen! – ein Leben für sachliche Pflichten scheint so armselig leer gegen die Wärme des »Füreinander, das bisher jeder Stunde ihren Sinn gab. Was ist diese allgemeine Notwendigkeit jedes Menschen als helfende Kraft an irgendeinem Posten neben der einen innigen Unentbehrlichkeit ihrer Liebe für den, dessen Augen sich geschlossen haben! Es ist fast ein verletzender Gedanke, daß irgend etwas sich als Ersatz in diese Lücke einschieben könnte. Mit jedem neuen Namen in der Verlustliste geht auch in der Heimat ein Stück Leben verloren, das seine Wurzeln in der Liebe hatte. Geht verloren und muß erst auf langen, einsamen Seelenwegen wieder gesucht werden. Wir sehen um uns herum dies Einschlagen des Kriegstodes in das Herz der Heimat und wissen, wenn er lähmt und zerbricht, ist es sein heiliges Recht, das wir nicht versuchen dürfen zu schmälern.

 

Aber liegt nicht auch über allem Frauengefühl, ob es unmittelbar und persönlich betroffen ist oder nicht, der Krieg wie eine dunkle Bürde? Wir sind uns dessen nicht immer bewußt. Aber es ist so: Tag für Tag den Schlag des eisernen Hammers hören, Monat für Monat die Luft der Feindschaft atmen, auf Schritt und Tritt zerstörtes junges Leben um sich sehen, von Zeitung zu Zeitung angefüllt werden mit Bildern von Blut und Grauen, die wäre keine Frau, deren Herz für das alles unangreifbar wäre. Tropfen für Tropfen fallen diese Eindrücke in die Seele und sammeln sich im Grunde zu einer schweren Traurigkeit, die wir manchmal vergessen, gegen die wir immer Widerstand leisten, an die wir uns scheuen zu denken, die aber doch nun einmal da ist, bereit, uns in jedem Augenblick zu überfluten. Die Schritte der Frauen sind schwerer, und die Herzen vieler sind müder geworden.

 

Aber wenn wir nun einmal den Gefahren unserer Seele ins Auge sehen, ist da noch etwas anderes, das vielleicht schwerer zu überwinden ist als alles: die Enttäuschung. Enttäuschung über die unheimliche Macht des Alltags, der die Menschen wieder hinnimmt in jedem Sinne. Unbewußt hat jeder erwartet, daß die große Zeit die Menschen nicht nur einmal über sich selbst hinausheben, sondern verwandeln, sie nicht nur überfluten, sondern in sie eindringen, sie umbilden würde. Und nun sehen wir, wie der Zug von Straffheit und Größe, der das Antlitz der Heimat zeichnete, sich hier und da verwischt und erschlafft. Vorteilsjägerei und Eigennutz, die alten platten Genuß- und Behäbigkeitsbedürfnisse, die ganze jämmerliche Welt der kleinen persönlichen Wichtigkeiten, das kommt aus allen Winkeln wieder heraus und sonnt sich, je länger je unbefangener, an demselben Tageslicht, das soviel Heldentum und Todesmut bestrahlt. Der Eindruck der großstädtischen Verkehrsstraßen mit dem unbekümmerten Markt der Eitelkeiten, das Publikum im Warenhaus, in den Restaurants, den Kinos, die Erfahrungen der Kriegsfürsorge mit der Widerstandslosigkeit und Schlaffheit vieler Frauen – in diesen und vielen anderen Zeugnissen ballt sich vor unseren Augen die zähe, dumpfe, breite Gewalt selbstischen Gebundenseins, armseliger herzensträger Gewöhnlichkeit. Und das ist es, was uns am stärksten bedrückt. Daß einer Zeit, deren unermeßliche Opfer nur durch ein gleiches Aufgebot geistiger Entflammung erträglich werden, das heldische Wesen entwendet und unterhöhlt wird durch diese tausend Kleinmächte der menschlichen Trivialität. Der Glaube vieler wird schwankend vor diesem Bilde moralischen Versagens der andern. Die große Forderung der Zeit, so tausendfach verleugnet und mißachtet, ist sie nicht überhaupt nur eine Illusion des frommen Gefühls? Man kann es beobachten, wie die Beispiele schamlosen Eigennutzes, verpönt und verachtet im Anfang, doch ihre Eroberungen in den Reihen der schwächlich Gutgesinnten machen, wie viele das Gefühl irgendeiner außerordentlichen Verpflichtung, der die Zeit ihr Leben unterstellte, nach und nach ganz preisgeben, nachdem sie es hundertmal ihrer Begehrlichkeit geopfert hatten. Und das ist so bedrückend. Wird der Krieg die Kräfte des Guten, die er schuf, sich auch wieder verzehren sehen, noch ehe er zu Ende ist? Wird die Schar der Pflichtbewußten groß genug sein zum endgültigen geistigen Durchhalten?

 

Es gibt eine einfache Antwort auf alle diese Fragen, so schwer sie vor uns stehen. Sie heißt: »Du kannst, denn du sollst.« Schon einmal hat sich unser Volk an dem Glauben, das dieses Wort ausdrückt, aufgerichtet zu äußerster nationaler Widerstandskraft. Schon einmal war es in schwerster Not Wegweiser und Führer zu einer wunderbaren Unerschöpflichkeit im eigenen Innern, die ein gesammelter Wille zu erschließen und zu beschwören vermag. Denn dies Wort sagt ja nicht nur ein triviales »Es muß gehen«, sondern es legt Zeugnis ab von der Neugeburt geistiger Kraft, die sich auf dem Wege der Pflicht vollzieht. Es ist kein dürres Gesetz, sondern ein stolzes, klingendes Bekenntnis von der Schöpferkraft, die aus jeder Seele ohne Hilfe von außen, mitten in der Wüste, aufzuquellen vermag, »ungreifbar und wirklich wie der Keim«. Wenn die freundlichen Mächte, die sonst unsere Segel schwellen, sich uns versagen, kommt die Stunde, um aus diesen eigenen innersten Gründen zu leben. Für viele von uns ist jetzt diese Stunde.

 

Unendlich steigt in dieser Zeit die Verantwortung aller starken Menschen, derer, die auf der gemeinsamen Galeere »droben wohnen«, wo sie die Länder der Sterne sehen können. Es ist ja nicht auszudenken, wie viel reicher gerade jetzt alle die sind, die in irgendeiner Form aus dem Geistigen zu leben vermögen. Den andren ist ja so unendlich viel mehr genommen! Die einfache Frau, die den Geschehnissen draußen nicht folgen kann, deren Seele nicht in der großen Weltgeschichte lebt, sondern im kleinen Kreis der täglichen Last und Lust – woher soll sie das Gegengewicht gegen die nahen Sorgen und Entbehrungen nehmen? Ihr wundert euch über ihre geringe Widerstandskraft – aber auf einen Schlag kann ihr die Unabhängigkeit von den kleinen Alltagsgütern nicht kommen, wenn sonst ihre Seele keine Möglichkeit hatte, groß und weit zu werden. Wer den Zugang zu allen inneren Schätzen hat, wer schon sonst in allem äußeren Geschick nur Stoff der Gestaltung durch seinen Geist und Willen sah, der ist ja gar nicht auszurauben, der kann ja gar nicht zerbrochen werden. Und alle diese Menschen sind in dem großen Verteidigungsbund unseres Volkes so etwas wie eine geistige Schutztruppe für die anderen. Sie können unendlich viel tun, mittelbar und unmittelbar, um den anderen zu helfen. Zur inneren Rüstung – man sieht es auf Schritt und Tritt – gehört so viel seelisches Zusammenhalten, dauernde Bestärkung aller guten Geister des Gemeinschaftslebens. Der Burgfrieden ist nicht nur eine negative, sondern eine positive Pflicht bis in die alltäglichsten persönlichen Beziehungen hinein. Das heißt, daß aller Mut, alle Wärme, Kraft und Zuversicht, die der einzelne heute besitzen mag, gemeinsame Schätze sind, Güter zum Austeilen. Im letzten Grunde hängt vielleicht das Durchhalten davon ab, wie weit in diesem millionenfältigen Geflecht des Miteinanderlebens die Ausstrahlungen der freien, tapferen und hochgemuten Seelen die der matten und kleinmütigen in Hilfsbereitschaft und Güte überwinden. Jedes Wort, das gesprochen wird, jede Tat und jeder Glaube schafft die Atmosphäre, in der die Seelen der anderen atmen und leben müssen. Darin liegt die große Verantwortlichkeit des kleinsten Tuns.

 

Man hat immer wieder den stärksten Eindruck davon, wie sehr die Kriegsarbeit den Frauen als seelische Rüstung dient, wenn in ihrem persönlichen Leben die Glücksquellen versiegen und die kleinen und großen bedrückenden Geschicke wachsen. Man fühlt es in der täglichen Arbeitsgemeinschaft und bei jedem Zusammensein mit den Mitarbeiterinnen aus anderen Städten; jeder Erfahrungsaustausch, jeder Bericht und jede Arbeitsstätte atmet die Frische, die aus der Möglichkeit hilfreichen Tuns quillt und aus dem Dienst an einer sachlichen Aufgabe. Zu dem bitteren Kelch der Schmerzen und Angst gab der Krieg vielen Frauen doch ein kostbares Geschenk: den Eintritt in eine Welt sachlicher Leistungen, die mit aller Kraft, die sie zu spenden vermögen, vielen fremd waren. Als ein Gegengewicht gegen die aufreibende Angst persönlicher Schicksale kam ihnen diese Arbeit, die sie aufnahm in ihre Ordnung und Disziplin, die ihrem Nachdenken und ihrer Kraft neue Aufgaben stellte und ihnen zum Bewußtsein brachte, welche inneren Schätze sie selbst als Nothelfer besitzen, die den anderen fehlen. Und damit noch eins, was die Erfahreneren und die Neulinge in gleichem Maße erlebten: das Glück des Könnens, der geistigen und praktischen Beherrschung neuer Aufgaben. Durch die tägliche intensive Arbeit auf einem Gebiet sind viele so fest im Sattel geworden, wie sie kaum vorher in irgendeiner Weise Gelegenheit hatten. Das gab den Kriegstagungen der Frauen ihre ganz besondere Lebendigkeit: diese Sachkenntnis bis in jedes Problem der sozialen Kriegspraxis hinein, die Freude der selbständigen, produktiven Mitarbeit an der Gestaltung der Fürsorge.

Vielleicht liegt die Kraft des Trostes, der in dieser Arbeit beruht, noch tiefer begründet. Sie ermöglicht uns eine innerste Aufrichtung, die Hinwendung vom Tode zum Leben, von der Zerstörung zum Aufbau, vom machtlosen Zuschauen und Leiden zum heilenden Schaffen. Dieses Sichverbünden mit den Mächten, die über Tod und Vernichtung wieder Herr werden müssen, – und sei es auch nur ein Bund zu bescheidenstem Dienst – ist mehr als Vergessen und Betäuben, ist überwinden, Sichbefreien; heißt dem mißhandelten und gequälten Frauengefühl eine Zuflucht schaffen. Vielleicht die einzige, die ihm gewährt ist.

 

Aber wir wissen es alle: auch in dieser Arbeit gibt es Enttäuschungen und Bedrückendes genug. Und nicht immer werden ihre Erfolge so reich und zweifellos sein, um den Mut zu stützen. Oft werden wir innere Hilfen gerade gegen die Entmutigungen der Arbeit, den Druck der großen Verantwortlichkeit und die Zaghaftigkeit angesichts des Mißverhältnisses zwischen unserer Kraft und unserer Aufgabe nötig haben. Oft auch innere Hilfen gegen die Einförmigkeit eines täglich gleichen Dienstes, der doch Wärme, Spannkraft und Freudigkeit verlangt.

Dann kommt das Heimweh nach unseren Friedensschätzen über uns: nach seelischem Gut, nach Kunst und Gedanken, und nach persönlicher Gemeinschaft und geistiger Arbeit. Man soll dies Heimweh nicht ganz zum Schweigen bringen. Das ging ein Jahr hindurch, aber schließlich bedürfen wir doch des Eintauchens in eine Welt, die ewig ist neben der vergänglichen, außerordentlichen Furchtbarkeit dessen, was heute uns ganz erfüllt. Wir bedürfen ihrer zu unserm letzten inneren Gleichgewicht, um gegenüber der heutigen Erscheinung der Welt – in ihrer Größe, aber auch in ihrer Verzerrung – nicht aus dem Gefühl zu verlieren das Bild, das sie bietet im Angesicht der Ewigkeit, das Große, das immer groß, das Schöne, das immer schön ist, das Heilige, das sich ewig gleich bleibt – mögen die Namen verschieden sein, mit denen unser Stammeln es zu erfassen versucht. So überwältigend und gebieterisch alles vor uns steht, was als Heldentum und praktische Leistung der einen unentrinnbaren täglichen Pflicht »Krieg« dient – dahinter ruhen doch unverdrängbar die Formen, in denen von Ewigkeit her das Leben sich aus Kampf und Chaos zu Gestalt und Harmonie emporgehoben hat. Es ist keine Fahnenflucht, sondern Einkehr zur Heimat unserer höchsten Kräfte, wenn wir auch heute zuweilen durch den Feuergürtel zu der »wonnigen Öde auf seliger Höh'« schreiten.

Da Dein Gewitter, o Donnrer, die Wolken zerreißt,
Dein Sturmwind Unheil weht und die Vesten erschüttert
Ist da nicht nach Klängen zu suchen ein frevles Bemühn?
»Die hehre Harfe und selbst die geschmeidige Leier
Sagt meinen Willen durch steigend und stürzende Zeit
Sagt was unwandelbar ist in der Ordnung der Sterne.
Und diesen Spruch verschließe für dich: daß auf Erden
Kein Herzog kein Heiland wird der mit erstem Hauch
Nicht saugt eine Luft erfüllt mit Prophetenmusik
Dem um die Wiege nicht zittert ein Heldengesang.«

(Stefan George)


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