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Der deutsche Geist in der Lebensanschauung

Winter 1914/15

Ich erinnere mich an ein kleines Vorkommnis vom Internationalen Frauenkongreß in Rom. Die Kommission zur Bekämpfung des Mädchenhandels beschäftigte sich mit der Frage internationaler Bestimmungen für die Stellenvermittlung an Minderjährige. Die französische Vorsitzende legte am Schluß der Sitzung der Kommission einen schweizerischen Gesetzentwurf zu der Sache vor und verlangte, daß er nach raschem Verlesen mit Haut und Haaren angenommen werden sollte. Alle, außer unserer deutschen Delegierten, waren einverstanden. Sie war die einzige, die sagte, daß sie sich nicht entschließen könne, die Verantwortung für ein schwieriges Gesetz mit vielen Paragraphen zu übernehmen, das sie vor fünf Minuten zum erstenmal vor Augen bekommen hätte. Der Entwurf wurde trotzdem angenommen, auf die Autorität seiner Schweizer Urheber hin.

Der »Protestantismus« unserer deutschen Delegierten war das eine Bezeichnende des kleinen Vorkommnisses. Das zweite, charakteristischere war die unverhüllte Ironie, mit der die französische Vorsitzende in ihrem Bericht an das Plenum von den » scrupules de conscience« der deutschen Vertreterin sprach. Kein Zweifel, daß sie diese Haltung pedantisch, anmaßend, schwerfällig und unliebenswürdig fand. Wir wußten es doch schließlich nicht besser als die Behörde, die dies Gesetz ausgearbeitet hatte. Ganz unverständlich, daß man eine Arbeit von bewährter Hand, die etwa auf dasselbe Ziel herauskam, das wir auch suchten, nicht einfach annahm. Niemand fand Geschmack an der deutschen Gewissenhaftigkeit.

 

Eine andere kleine Geschichte fällt mir ein, die einmal ein deutscher Professor an der Gästetafel in Capri erzählte. Auf dem Solaro, dem Gipfel von Capri, hauste ein Einsiedler. Der Professor hatte vor zehn Jahren, als er die Insel besuchte, den Gipfel bestiegen, sich mit dem Einsiedler, der noch ein paar Reste gelehrter Klosterbildung in sich bewahrte, unterhalten und versprochen, er würde ihm einmal schreiben. Nun war er wieder hinaufgegangen, der Einsiedler hatte ihn nicht erkannt, aber erzählt von einem deutschen Professor, der ihn einmal besucht und ihm versprochen habe, zu schreiben. Das habe er denn auch getan, – und er zeigte eine Ansichtskarte, die er an seine Wand gesteckt hatte, und fügte gedankenvoll hinzu: »Ein merkwürdiges Volk, die Deutschen, sie halten, was sie einem versprechen.«

 

Wir sind das grundsätzlichste von allen Kulturvölkern. In der Geschichte der Moral ist der deutsche Geist der Entdecker des Gewissens, der schärfste, strengste und abgründigste Erfasser des Begriffs der Treue gegen sich selbst, des sittlichen »Ich«, der Forderung persönlicher Einheit im Wollen, Denken, Tun.

In den ersten gefühlsmäßigen einfachen Wertungen der deutschen »Treue« gegenüber der welschen Falschheit prägt es sich ebenso aus wie in der Reformation und der Kantischen Philosophie: dieses Bedürfnis nach Einheit und Übereinstimmung von Wesen und Wesensäußerung, das Verlangen, daß unser Leben von seiner ersten bis zur letzten bewußten Äußerung durchschaubar sei als ein Zusammengehöriges, in sich Verbundenes. Daß in das Fließen der Zeit wir unser Wesen in klaren festen Umrissen zeichnen als eines und dasselbe, aller Vergänglichkeit zum Trotz, ist uns innerster sittlicher Anspruch, bewußter oder dumpfer, aber immer Richtung gebend. Die deutsche Philosophie hat ihr Höchstes geleistet, indem sie diese Forderung kristallklar herausstellte, und was sie in durchsichtigster Theorie gestaltete, das lebte als sittlicher Antrieb in jeder einzelnen Seele. Von den höchsten Gipfeln ergießt sich diese Forderung der inneren Einheit der Person, der Treue, Wahrhaftigkeit und inneren Folgerichtigkeit, in tausendfachen Formen in die Niederungen der kleineren Geister, sie wird zur allgemeinen Lebensanschauung, die dem Deutschen die eigene dumpfe Wesensforderung klärt und befestigt. So sind wir durch Anlage und Kulturformung, durch Trieb und Lehre immer entschiedener dahin geführt, in der »Übereinstimmung des Willens mit sich selbst«, in dem »Gebot, selbst Ursache unserer Handlungen zu sein« – mit einem Wort: in der inneren Freiheit den Inbegriff von Menschenwert und -würde zu sehen, den Kern, als dessen Ausstrahlung alles wahrhaft Wertvolle nur gelten kann.

 

Dieses Einheitsbedürfnis als letzte Triebfeder aller inneren Anspannung ist zwiefacher Wesensart: sittlicher und intellektueller. Als intellektuelles äußert es sich in der Systematik des deutschen Geistes, in seiner Kraft, Systeme zu bauen, Zusammenhänge zu sehen. Als sittliches in dem Ideal der »Persönlichkeit«, das es in dieser Form in keiner anderen als der deutschen Kultur gibt.

Wenn man schematisch, ohne die feinen Unterschiede zunächst zu berücksichtigen, die Richtung der englischen und der französischen Lebensphilosophie im Gegensatz zur deutschen zu bezeichnen versucht, kann man folgendes sagen: Die englische Moral beurteilt, ob individualistisch oder sozialistisch, ob vom einzelnen oder von der Gesamtheit ausgehend, den Wert vom Zweck, vom Erfolg und Ergebnis aus. Die französische dagegen haftet an der seelischen Erscheinung des Sittlichen in ihren verschiedenen Formen, an den Tugenden und Lastern in ihrer Färbung und Eigenart. Sie versteht sich darauf, die Töne und Schattierungen, die Zusammensetzungen und Kreuzungen der sittlichen Eigenschaften und Typen fein und treffend zu erfassen. Aber sie versteht Sittlichkeit, wo sie überhaupt ein Einheitliches in ihr sieht, eher als Ausfluß eines Gefühls wie als bewußte Gestaltung aus Grundsätzen. Im Zusammenhang damit ist die französische Moral von Grund aus stärker aus dem Zusammenleben der Menschen, als aus dem Gedanken der Integrität des einzelnen abgeleitet. Der französische Mensch ist Gesellschaftsmensch. Mode und Sitte, Form und Äußerung sind ihm wesentlicher als die ungebrochene Haltung des Individuums. Im tiefsten Grunde unverständlich bliebe ihm eine Moral, die den einzelnen, um der Treue zu sich selbst willen, von der Gesellschaft grundsätzlich absondert, ihm gebietet, auch in äußerer Übereinstimmung mit ihr innerlich unabhängig zu bleiben und erforderlichenfalls, einer gegen alle, wenn es sein muß, ihr zu trotzen. Die englische Philosophie hat alle Möglichkeiten der sittlichen Orientierung vom Zweck und Ergebnis her durchmessen. Platt und banal in der Nützlichkeitsmoral Benthams, kräftiger und größer bei Spencer, reiner und nobler bei Mill und philosophisch durchdachter im modernen Pragmatismus. Aber der Grundzug ist der gleiche: Wertung vom Ergebnis aus, nicht vom Willen; Beurteilung der Tat, nicht der Person.

Der deutsche »Idealismus«, so mannigfache Formeln ihn auch umkleidet haben, hat stets denselben Sinn. »Deutsch sein heißt: eine Sache um ihrer selbst willen tun.« »Deutsch sein, heißt frei sein.« Im Grunde versuchen alle solche Aussprüche dies eine auszudrücken: daß alles Tun wertvoll ist als Ausprägung der Persönlichkeit. »Eine Sache um ihrer selbst willen tun« heißt doch im Grunde: sie erwählen, weil sie dem Besten in uns Gestalt gibt, und sie um dieser ihrer inneren Bedeutung willen erfüllen. Heißt: sich selbst nicht aufgeben oder in die zweite Linie stellen lassen durch die Rücksicht auf den gesellschaftlichen Nebenerfolg seiner Handlungen: Lohn, Ehre, Behagen oder was auch immer. »Frei sein« – das bedeutet: aus dem letzten Prinzip des eigenen Wesens heraus handeln, durch dies Prinzip die Welt gestalten und umschaffen (denn alles Tun ist Umschaffen und Gestalten der Welt). Immer bedeutet der deutsche Idealismus die Forderung: allem Gewinn in der Welt voranstellen die sittliche Einheit des eigenen Wesens, von der nichts preisgegeben werden kann, ohne daß sie im ganzen verletzt und erschüttert wird.

 

Die Einheitsforderung unseres Idealismus hat aber auch ihre intellektuelle Seite. Sie beruht auf der Anlage des deutschen Geistes zur Systematik.

Die geschlossensten, mächtigsten und durchgebildetsten Gedankensysteme der Philosophie stehen auf deutschem Boden. Der sittlichen Einheitsforderung entspricht das Vermögen, weite geistige Zusammenhänge zu erfassen und herzustellen. Die bewußte Einheit des Wollens ist immer zugleich eine sittliche und eine intellektuelle Leistung. Ein Volk, das ein sittliches Ideal dieser Einheit aufstellt, beweist dadurch seine intellektuelle Fähigkeit, geistige Zusammenhänge zu schaffen. Der deutsche Geist hat seine stärkste Kraft in der Fähigkeit zum System. Der französische ist am größten im Gefühl für die Tönungen des Seelischen, in der Kultur der Nuance. Der englische – groß ist er auf diesem Gebiet nirgends – hat seine Stärke in der klaren, ungebundenen und unabhängigen Erfassung des Einzelfalls. Eine besondere Art von praktischer Vorurteilslosigkeit, die zusammenhängt mit der geringen Entwicklung des historischen Sinns und der geringen Macht der Theorie über die Erfahrung, ist der Vorzug englischen Denkens. Durch diese Unbefangenheit der Erfahrung gegenüber hat die englische Philosophie von Duns Scotus an schon oft das Denken zu einem neuen »Start« vom wiederentdeckten Boden der Wirklichkeit gezwungen.

Wir Deutschen sind das Volk der Systeme und der historischen Betrachtungsweise.

In der Tat zeigt sich diese Fühlung des deutschen Geistes für das Zusammenhängende nach diesen beiden Seiten des Systems und des historischen Sinns. Taine, der französische Kulturphilosoph, sagt einmal, daß es von allen Kulturvölkern Deutschland sei, das mit der Einfügung der Idee der »Entwicklung« in die philosophische Gedankenwelt der gesamten europäischen Gedankenarbeit des 19. Jahrhunderts ihr Motiv gegeben habe. »Durch diesen Gedanken haben die Deutschen den Geist von Zeitaltern, Zivilisationen und Rassen erfaßt und das, was nur ein Haufen von Tatsachen war, umgewandelt in ein System geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten.« Was heute in der Welt unter »Geschichte« verstanden wird, nicht die Aneinanderreihung von Tatsachen, sondern das Erfassen ihrer Beziehungen, das Aufsuchen letzter, entscheidendster Zusammenhänge, das ist die deutsche Auffassung der Aufgabe – und darin hat die deutsche Wissenschaft die unbestrittene und unbestreitbare Führung. Man könnte sagen: der deutsche Geist » trägt« weiter, sofern es sich um die Zusammenfassung von Ideen und Tatsachen durch ihre seelischen oder gedanklichen Einheiten handelt. Die Systeme von Kant und Fichte und Hegel repräsentieren höhere Grade von gedanklicher Verarbeitung der Welt, als die von Spencer oder Comte, und die deutsche Geschichtswissenschaft versteht die Verknüpfung entlegenerer Lebenserscheinungen als die der anderen Kulturvölker.

Diese Kraft zur gedanklichen Vereinheitlichung und zur logischen Architektur ist zwar eine intellektuelle, ihr Antrieb aber hat immer auch etwas Ethisches in sich. Herder schafft seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit aus der inneren Auflehnung gegen den Augenschein eines sinnlosen Daseins. »Der stolze Mensch wehret sich, sein Geschlecht als eine Brut der Erde und als einen Raub der alles zerstörenden Verwesung zu betrachten.« Er wehrt sich, die Welt als ein »unförmliches Riesengebäude« anzusehen, wo einer abträgt, was der andere anlegte. Der Mensch aber »ist dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll«. Die Worte zeigen, daß diese höchsten Forderungen der Wissenschaft aus sittlichem Antrieb kommen, aus dem idealistischen Bedürfnis, daß die Welt einen erkennbaren Sinn habe, daß sie geistig erfaßbar sei.

Jener gottsuchende Wille, die Welt in Sinn und Ordnung zu bannen, ist der Kern des deutschen Idealismus. Er gibt der Wissenschaft das Heroische, das Himmelstürmerische. Sie sucht diese Ordnung nicht aus professioneller Pflicht und Herrschsucht des Verstandes, sondern weil die Seele nicht leben kann, ohne sich getragen zu wissen von einer Ordnung, in der sie sich und ihr Gesetz wiederfindet, ohne daß sich das ganze Leben gründe auf ein Fundament innerer Einheitlichkeit, im Denken und Tun. Selbstverständlich ist dieses Bedürfnis auch in der Kultur und im Denken der anderen Völker. Aber nirgend so entscheidend und von Grund aus bestimmend.

 

Die deutsche Systematik bleibt in ihren Wirkungen nicht auf die Bildung der Lebensanschauung im engeren Sinne beschränkt. Sie durchdringt alle Kulturschöpfung in erkennbarer Weise. Sie äußert sich etwa im Wesen unserer Gesetzgebung: den großen Systemen des Rechts im Gegensatz zur englischen Praxis der Entscheidung nach Präzedenzfällen. Sie äußert sich im großen Bau unserer Systeme der Sozialversicherung, durch die Deutschland mit einem kühnen Wagnis organisatorischer Technik der Welt vorbildlich wurde. Die deutsche Systematik beherrscht die Entwicklung unserer Industrie. Man kann beinahe von einer Übertragung des philosophischen auf das technische Denken sprechen, wenn man eine Beschreibung der Systematik z. B. in unserer chemischen Industrie liest. Der einzelne Produktionsprozeß mit seinen Nebenprodukten und Bedarfsstoffen ist wissenschaftlich so durchgearbeitet, die technischen Einrichtungen auf gleichzeitige Verwendung der Nebenprodukte und Bereitstellung der zur Produktion notwendigen Stoffe so planvoll und lückenlos angelegt, daß sie wirken wie ein ins Leben übersetztes Gedankensystem. Und wir wissen, daß eben in dieser Umsicht und Planmäßigkeit die Überlegenheit der deutschen chemischen Industrie liegt. Ihre uneinholbare Überlegenheit, denn aus englischen Fachkreisen wird ziemlich einmütig zugegeben, daß es ganz unmöglich sei, in kurzer Zeit nachzuholen, was in England durch Versäumnisse im wissenschaftlichen Unterbau der Industrie seit einem halben Jahrhundert vernachlässigt sei.

Auch hier zeigt es sich: die größere Tragkraft des deutschen Geistes für eine systematische Arbeit, die auf einer breitesten Grundlage des Vorbedenkens weite Tatsachenreihen durch einen Plan zu umfassen vermag. Der Verfasser einer interessanten Studie »Die chemische Industrie und der Krieg« (Jaeckhsche Flugschriftensammlung), Professor Binz, sieht aber ganz richtig auch in diesen Leistungen den Ausdruck eines sittlichen Idealismus, der um vollkommenerer Gestaltung der Sache willen auf raschen Gewinn zu verzichten vermag. »Die Ursache für die dem Durchschnitt des Britentums eigentümliche unrichtige Einschätzung chemischer Arbeit im Gegensatz zu der deutschen Auffassung liegt in der Verschiedenheit der Sinnesrichtungen bei Deutschen und Briten.« – – »Der deutsche Chemiker ähnelt dem Offizier.« Er weiß, daß das Studium viel kostet und im Verhältnis dazu wenig einbringt, daß er sein Genüge darin finden muß, der Wissenschaft zu dienen. Der junge Engländer »ist das Produkt eines Landes, dem es vergönnt ist, die Schätze der Welt auf sich zu häufen und darum Berufsmöglichkeiten zu bieten, bei denen man z. B. durch Spekulation mit Baumwolle rascher und reichlicher Gold verdienen kann als durch Chemiestudium«. Die soziale Achtung des Gelehrten, die bei uns, deutscher Anlage, Kultur und Geistesgeschichte entsprechend, höher ist als anderswo, wird zum Äquivalent äußerer Güter und dadurch zur gesellschaftlichen Vorbedingung einer hingebenden wissenschaftlichen Arbeit, die dann ihrerseits doch auch wieder ihre wirtschaftlichen Siege – und zwar die nachhaltigeren – zeitigt. Für solche Siege, die meist nicht im Lebensrahmen einer Generation erkämpft werden können, bedarf es einer genügenden Zahl von Kräften, die bereit sind zur Askese des Pionierdienstes. Bei der wissenschaftlichen Durcharbeitung, die jede moderne Industrie erfordert, wird das Volk die größten Aussichten haben, dessen Gesinnung und Gesittung solche Kräfte am stärksten zu stützen vermag. Für die Zukunft wird Deutschland jener idealistischen Arbeitsgesinnung, die es groß gemacht hat, in gesteigertem Maße bedürfen. Gegen die Versuchung zum Phäakentum, die in unserem gesteigerten Wohlstand liegt, müssen wir uns kräftig rüsten.

 

Die deutsche Systematik zeigt sich außer in der Anlage und Organisation aber auch in der Durchführung aller Regelungen bis zum letzten Punkt. Bureaukratismus, Drill, Pedanterie sind die üblen Namen für diese praktische Systematik. Von den Kehrseiten dieses Sinnes für ordnende Gestaltung wird noch zu reden sein. Aber auch wer diese Schatten sehr schwarz sieht, weiß im Grunde, daß sie fast unvermeidlich sind, wenn wir wünschen, daß Gesetze bei uns wirklich durchgeführt werden, Züge pünktlich ankommen und abgehen, die Post exakt arbeitet und was der Annehmlichkeiten mehr sind in dem »merkwürdigen Volk, in dem man hält, was man versprochen hat«. Ein Engländer, Shadwell, hat vor etwa acht Jahren eine sehr lehrreiche vergleichende Studie über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von England, Amerika und Deutschland geschrieben; er suchte die Ursachen dafür, daß England von Deutschland industriell überflügelt wurde, und er findet sie in zwei wesentlichen Dingen: Pflichttreue und Organisation. »Die Deutschen arbeiten sich«, so sagt er, »mit gleichmäßiger und hartnäckiger Ausdauer von einem Punkt zum anderen weiter, zum Teil, weil sie durch die Gewalt der Umstände dazu gezwungen sind, und zum Teil aus Pflichtbewußtsein, das bei ihnen noch sehr stark ist. Sie sind durch Tradition und Erziehung an Arbeit gewöhnt.« Und in dem vergleichenden Rückblick: »Das Manchestertum, wie man in Deutschland sagt, ist tot. Ordnung und Organisation sind an seine Stelle getreten und mit unendlicher Mühe von der Gesetzgebung, der Regierung, den städtischen Behörden und Privatpersonen durchgeführt worden. Das zeigt sich nicht nur in dem wissenschaftlich ausgearbeiteten Zolltarif, sondern auch in der sorgfältigen und verständigen Gewerbeordnung, dem staatlichen Versicherungssystem, der Organisation von Verkehr und Transport mittels Eisenbahnen und Kanälen, der Unterstützung der Handelsflotte, den Unterrichtseinrichtungen, der städtischen Verwaltung, der Verwaltung des Armenwesens. So ist das Gebäude errichtet, fest, sicher und nach allen Seiten verschanzt. Es ist eine wunderbare Leistung, bei welcher jedes dieser Momente eine Rolle gespielt hat, und der Geist, der dieses ermöglicht hat, ist der Geist der Arbeit und Pflichterfüllung. Hier ist auch die Erklärung der beiden Tatsachen, daß ein verhältnismäßig armes Land, das unter bedeutenden natürlichen Nachteilen zu leiden hat, sich in die vorderste Reihe industrieller Produktivität gebracht hat, und daß seine ärmeren Klassen, obgleich sie weniger durch die Verhältnisse begünstigt sind, doch ein höheres Niveau des Wohlstandes und ein viel höheres Vitalitätsniveau besitzen als ihre reicheren Rivalen … Deutschland zwingt zur Bewunderung.«

So spiegelt sich unser Volk und seine Leistung in den Augen eines Mannes, der mit Bangen sieht, wie sein eigenes Volk sich zum wirtschaftlichen Abstieg anschickt: aus Phäakentum und Arbeitsscheu.

 

Wir wissen, daß die kulturelle Kraft Deutschlands ihre Gegenseite in gewissen Beschränkungen und Schwächen hat. Das ist selbstverständlich. Unsere Grundsätzlichkeit macht uns schulmeisterlich. Im großen und im kleinen. Ein Typus der gigantischen Form dieser Schulmeisterei ist Fichte, gegen den deshalb Goethe einen ausgesprochenen Widerwillen hatte. Als armer – ach wie armer! – Hauslehrer in einer behäbigen Schweizer Patrizierfamilie erkühnt er sich gleichwohl, über die Erziehungskünste der Eltern seiner Zöglinge ein »Tagebuch der auffallendsten Erziehungsfehler, die mir vorgekommen sind« zu führen und es seinen Brotgebern allabendlich zu unterbreiten – eine naive Gewissenhaftigkeit, die sich die so kritisierten nicht allzu lange gefallen ließen, trotz Fichtes eigner Meinung, daß er schließlich »durchgedrungen und sie gewaltigerweise gezwungen habe, ihn zu verehren«. Wie gesagt, Goethes feiner und maßvoller Menschlichkeit widerstand dieser Unbedingte, der sich und anderen das Leben so unbeschreiblich unbequem machen mußte und keinen Finger breit von der Bahn seiner Grundsätze weichen konnte! Aber Humboldt, der wahrlich Sinn für Weltläufigkeit, Duldung und Form hatte – so viel, daß er zum Schmerz seiner kräftiger fühlenden Frau sogar an Metternich und Gentz Gefallen fand – dieser Humboldt schreibt aus Paris an Goethe, daß er sich eben dort aus der Flachheit und Lässigkeit des französischen Geistes nach Fichte sehne, dem Tiefgang und der schweren Wucht seines Denkens und seines sittlichen Willens.

Ja, der deutsche Idealismus war ein strenger und ungeselliger Gott. Ein Gott der Arbeit eher als der Schönheit und Fülle.

Freilich: so sehr unserem Volk im ganzen dieser Grundzug eigentümlich geblieben ist, wir haben doch auch eine Entfaltung zu Reichtum, Beweglichkeit und Fülle erlebt. Es gibt heute in Deutschland, auch im deutschen Denken, mehr von jenem Geist, der die Völker älterer Kultur auszeichnet. Mehr Sinn für das vielgestaltige Leben, für das Wesen der äußeren Form, für die schöne Gestaltung des Daseins in Geselligkeit und Kunst. Wir haben neue, empfindsamere, biegsamere Denker, Kulturphilosophen, die sich der feinen Deutung der Lebenserscheinungen mit beinahe gallischer Beweglichkeit hingeben. Wir sind gegen das Zeitalter Goethes sehr viel feinfühliger, genußfähiger, empfänglicher geworden. Wir haben Organe unserer Seele ausgebildet, die früher stumpfer und primitiver waren. Mit der steigenden Wohlhabenheit ist die Fühlung für die Schätze des Lebens gestiegen, die Freude am schönen Schein und feinen Sinnengenuß.

Aber der Grundzug deutschen Wesens wird doch jene tief eingewurzelte Ehrfurcht vor der Leistung und die Freude an der Arbeit sein, ohne die ein Volk wie das unsere sich nicht behaupten könnte.

Und immer wird bei uns die intellektuelle Bewältigung der Welt stärker und größer sein als die künstlerische. Man hat von uns gesagt, wir seien mit unseren ernsthaften Arbeitsidealen, mit unserer Energie und Formlosigkeit, mit allen Disharmonien und aller Straffheit ein Volk »junger Kultur«. Unsere Kultur wird in diesem Sinne wahrscheinlich immer jung sein. Weil die vorwärtsdrängenden Kräfte des deutschen Geistes stärker sind als die ausformenden. Weil unser philosophischer Trieb gewonnene Wahrheit und Lebensgestalt immer wieder sprengen muß, um nach neuen zu suchen. Man kann Schillers Gegenüberstellung des Wesens der Geschlechter in der »Würde der Frauen« auch auf den Gegensatz von romanischem und germanischem Geist anwenden.

»Was er schuf, zerstört er wieder,
nimmer ruht der Wünsche Streit.«
– – – – – – – – – –
»Gierig greift er in die Ferne,
nimmer wird sein Herz gestillt,
rastlos durch entlegne Sterne
jagt er seines Traumes Bild.«

Das ist etwa das Bild unseres deutschen Geistes im Leben der Kultur, während der romanische eher dazu geschaffen ist,

»die Kräfte, die feindlich sich hassen,
in der lieblichen Form zu umfassen
und zu vereinen, was ewig sich flieht.«


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