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Geibel zum Gedächtnis

Herbst 1915

Fiele der 100. Geburtstag Geibels nicht in die Kriegszeit, so würde seiner eher weniger, sicher nicht mehr gedacht werden, als es nun der Fall ist. Denn jetzt sehen wir in ihm nicht den gefahrlos süßen melodischen Dichter unserer rosenroten Mädchenträume, sondern einen von den frühen Verkündern des Deutschen Reiches, denen wir dankbar sind für ihren schöpferischen Glauben und ihre machtvolle Sehnsucht. Die in Tausenden von Sedanfeiern zu Tode deklamierten Verse »Nun laßt die Glocken von Turm zu Turm durchs Land frohlocken im Jubelsturm« fangen wieder an zu glühen von dem jungen Feuer, das sie einst erfüllte. Der Dichter der »Heroldsrufe« steht wieder auf.

Und doch liegt in diesem etwas aufgeputzten Namen selbst, den Geibel seinen Zeitgedichten von 1871 gab, alles, was ihn heute von unserem Gefühl trennt, jener eigentümlich theatralisch-akademische Begriff von Kunst, der den Heyse, Schack, Geibel, Bodenstedt angewachsen war. Indem man versucht, sich pietätvoll in die dichterische Welt des Jubilars zurückzufühlen, kann man doch eine Stimme nicht zum Schweigen bringen, die bei jeder Zeile ein aufrichtiges »Gott sei Dank für den Naturalismus« flüstert.

Es liegt an der harmonischen Vielseitigkeit von Geibels Wesen, daß er in so besonderem Maße typisch ist für die deutsche Geistesverfassung zwischen 1840 und 1880. Von der Ahnung neuer politischer und wirtschaftlich-sozialer Lebensformen bewegt, aber doch bürgerlich zu sehr gebunden, um sich der Seele dieser kommenden Zeit ganz aufschließen und hingeben zu können – das ist die Signatur der deutschen Bildungsschicht und zugleich eine innere Bedingung für den Entwicklungsgang ihrer Dichter (sofern sie nicht milieusprengende Eigenkraft besaßen wie Hebbel).

Geibel wurde durch seine »Zeitstimmen« 1841 einer der ersten Verkünder kommender Umwälzungen. Gerade weil er nicht so ausschließlich politisch-demokratisch empfand wie die revolutionären Dichter, hat er manche der umgestaltenden Kräfte sicherer gefühlt. Während die Herwegh, Wienbarg, Beck, Freiligrath aus dem Anblick der Opfer ihren sozialen Groll gegen die neue Zeit sogen und mit »Armeleuteliedern« mehr den untergehenden als den aufsteigenden Teil der Arbeiterschaft begleiteten, hat Geibel den Eroberungszug des Maschinenzeitalters in seiner Größe gefühlt und besungen. Sein Gedicht an »Die junge Zeit« ist vielleicht der erste deutsche Hymnus auf das Maschinenzeitalter (1847).

»In tausend Schmieden bei der Essen Brande
Gießt sie das Erz und schweißt in Eisenbande
Die weiten Länder, die ihr untertan:
Vom müden Saumroß, das sich wundgetragen,
Nimmt sie das Joch und schirrt vor ihren Wagen
Den Dampf, den wilden Riesen an.«

Aber ganz bezeichnend: das neue Stück Leben, das sich der Dichtung darbietet, gebiert sich in dieser Dichtergeneration keine neue Form. Die Rhetorik Schillerscher Gedankendichtung muß herhalten. Und noch bezeichnender: eben dieses Gedicht hat einen ängstlich ausweichenden Schluß:

»Und doch – muß ich so ganz versenkt dich schauen
In Stoff und Wucht – beschleicht mit leisem Grauen
Mir oftmals eine Furcht das Herz.
Du möchtest einst im Rauche deiner Essen,
Im Trotze deines Riesenwerks vergessen,
Daß droben einer sitzt auf ew'gem Thron – – –«

In dieser Angst vor dem vermessenen Radikalismus des Eisens und der Maschine liegt etwas Pädagogisch-Mittelständlerisches, irgendeine Halbheit, eine Flucht, ein Sichanklammern an das Bescheidenere und Harmlosere. Statt des leidenschaftlichen Suchens nach dem Sinn dieser neuen Form, nach dem Gott, der dies Eisen wachsen ließ – so wie später die Jugend von 1890 suchte und rang – eine verfrühte Besorgnis.

In ihr spricht sich auch eine persönliche Situation des Dichters aus: sein Zuschauertum der Zeit gegenüber. Es war zugleich Wirklichkeit und Stil. Wirklichkeit: Geibel war durch königliche Dichtergehälter – 1841 bis 1852 durch Friedrich Wilhelm IV., 1852 bis 1868 durch Maximilian und Ludwig I. von Bayern, von da ab wieder durch den König von Preußen – äußerlich und geistig dem Mitringen etwas entrückt. Er war verpflichtet, »der Kunst zu leben«. Aber das bedeutete keine Sklaverei und keine Zugeständnisse für ihn, – wie er denn überhaupt diese königliche Gunst stets durchaus frei und männlich getragen hat. Es war seine eigene Auffassung, daß der Künstler über den Zeitkämpfen in Schönheit und Würde zu thronen habe. Keine Dichtergeneration in Deutschland hat so bewußt die Würde des Künstlers betont wie diese. »Er deutete mit jeder leisen Wendung, ein Fackelträger, nach dem Reich des Schönen.« Dies zu tun, betrachtete der Sängerhof Maximilians als seine feierliche Sendung. Der leise Widerspruch, den wir Heutigen gegen das Recht dieser Epigonen auf einen solchen Parnaßstil erheben, gegen die Samtbaretts, die schönen langen Haare, die »Symposien« darf nicht ungerecht machen. Sie alle meinten es ernsthaft, sie vertraten der politischen Tendenzdichtung und dem ebenso rüden wie saloppen und gespreizten Ton der Leute vom Schlage Gutzkows gegenüber die Ehre der reinen Schönheit. Es war ein richtiges Gefühl, daß die deutsche Dichtung aus der Verrohung der vierziger Jahre wieder zum klassischen Geist, zur Reinheit und Strenge der Form zurückgeführt werden mußte, daß man sie von all den Elementen der Unkunst zu befreien hätte, die sie aus einer Zeit leidenschaftlicher politischer und gedanklicher Kämpfe mit sich trug. Es war immerhin in höherem Maße Kunst, was aus diesem Münchener Kreis kam, als die Dichtung der Achtundvierziger. Und auch sonst: es lag eine gewisse Noblesse und vorbildliche Feinheit auch über dem Lebensstil dieser Männer, eine gewisse Haltung und Form, die als ästhetisch-erziehliche Kraft gewirkt hat.

Freilich, die Leidenschaft blieb vor den Toren dieser »reinen Lyrik«, deren populärster Band bis zum Tode Geibels in 100 Auflagen goldbedruckt und -geschnitten seinen Weg in das deutsche Haus nahm, eine geliebte und unschädliche Götterspeise aller jungen Herzen. Es war einander alles Ursache und Wirkung: die gemäßigte Bürgerlichkeit des Zeitgefühls, die Blässe des Poetenideals, die eigene Ferne von allem Dunklen, Trüben, Gewaltsamen. Das Ergebnis war die leichtflüssige Musik ungezählter Lieder von Frühling, Liebe, Rosen und Wanderschaft, Nachtigallen, Wald und Mondschein, von denen alle melodisch, die besten wirklich Gesang waren. Darüber hinaus aber kamen nur Epigonendramen wie die »Brunhild« zustande, an der das Schlimmste die unbewußte Unbescheidenheit eines temperamentlosen Menschen gegenüber der wilden Leidenschaft des Stoffes war.

»Hagen wütet nicht mehr, er ist ein besonnener Hofmann,
Der den Rivalen ersticht, weil er die Gnade ihm stiehlt;
Siegfried selber ist nichts, doch büßt er das schwere Verbrechen,
Daß er sich doppelt verlobt, was die Moral nicht erlaubt.«

(Hebbel.)

Der weiche poeta laureatus hatte gleichwohl seine geschichtliche Kraft – und das war seine Treue gegen den Reichsgedanken. So sehr er als Dichter über den Zinnen der Partei stehen wollte, in dieser Sehnsucht empfand er selbst Größeres als ein Parteiziel, und von seinen ersten Liedern an hat er sie mit Feuer verkündet. Nach einer wahrhaft großen Zeit hat der Mann des kühlen Maßes sich aus innerstem Herzen gesehnt, und wenn er fühlte, daß ihm ein Höchstes an erschütternder Wucht versagt war, so gab er der entgötterten Zeit die Schuld. Denn er spricht doch wohl von eigenem Schicksal, wenn er den Bildhauer des Hadrian vor seinem Werke seufzen läßt:

»Ob nichts an hohem Gleichmaß fehle,
Ob jedem Sinn genug getan:
Kein Schauer quillt in meine Seele,
Kein Unnennbares rührt mich an.

O Fluch, dem diese Zeit verfallen,
Daß sie kein großer Puls durchbebt,
Kein Sehnen, das, geteilt von allen,
Im Künstler nach Gestaltung strebt.«

Die ganze Gehemmtheit des Vierteljahrhunderts zwischen 1848 und 1871, dies Stocken, Eingezwängtsein, Nichtvorwärtskönnen liegt als seelische Stimmung in den politischen Liedern Geibels.

»Wann doch, wann erscheint der Meister,
Der, o Deutschland, dich erbaut,
Wie die Sehnsucht edler Geister
Ahnungsvoll dich längst geschaut:
Eins nach außen, schwertgewaltig
Um ein hoch Panier geschart,
Innen reich und vielgestaltig,
Jeder Mann nach seiner Art.«

Daß dieser Wunsch die eigentliche höchste und heißeste Lebenssehnsucht Geibels war, hebt ihn für uns Heutigen aus dem bloßen Poetentum seines Kreises heraus und bringt ihn uns innerlich nahe. Und indem wir auch noch im Ausdruck dieser lebendigen Sehnsucht das Uneigenartige, Epigonenhafte empfinden, kommt uns ganz zum Bewußtsein, wie unermeßlich reich und groß und frei das Leben in Deutschland seither geworden ist. Immer noch ungeformt und voll Disharmonie, aber es ist die Ungestalt der Jugend und der Leidenschaft.


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