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Herbst 1914
In dieser Zeit, da in unsere ausgeglichene, geglättete Welt »der alte Urstand der Natur« in seiner ganzen Grausamkeit und Größe zurückgekehrt ist, da die uralt einfachen Gefühle und Kräfte das künstliche, feingewebte Netz neuzeitlicher Geistesbildung zerreißen und gleichsam nackt und bloß für die große Aufgabe des Augenblicks einstehen – in dieser Zeit scheint uns so vieles schal und blaß, was aus modernem Gedankenleben herauskommt, und wir sehnen uns nach Urworten, denen noch etwas von Erde, Dämmerung, Geheimnis, Leidenschaft anhaftet. Weltanschauungen, die sich in der flachen Helle moderner Verstandesbildung ausbreiten, geben uns weniger Kraft und sind uns minder nahe als jene, die aus heißem Gefühl geboren und von dem goldenen Duft des großen Staunens vor den abgründigen Rätseln des Daseins umhüllt sind. Die »Propheten« aller Religionen und Kulturen lassen wir am liebsten zu uns reden, denn es muß menschlich stark und heiß, voll Not und Heldentum, voll Erschütterung und sieghaftem Feuer sein, was uns heute innerlich erheben und berühren soll. Es muß durchblutet sein von dem Leben-, Leiden-, Ringen-Müssen des Helden, das nur das Gefühl, nicht der Verstand, von Mattigkeit und Dürftigkeit zu unterscheiden vermag. Es muß glühen wie die inbrünstigen Farben alter Kirchenfenster neben der durchlässigen Blässe der neuen. Es muß einfach und kühn, aufrichtig und durchdringend sein.
Es war fast ein Zufall, daß ich in diesen Tagen in einem Bande der Vorsokratiker blätterte. Aber es war nicht zufällig, daß in diesem Bande die Sprüche des Heraklit in tieferer Bedeutsamkeit als sonst fesselten.
»Der Krieg ist der Vater von allem, der König von allem: die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen; die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.«
»Man muß wissen, daß der Krieg etwas Allgemeines ist und daß der Streit zu Recht besteht und daß alles durch Streit und Notwendigkeit entsteht.«
»Das Entgegengesetzte paßt zusammen, aus dem Verschiedenen ergibt sich die schönste Harmonie, und alles entsteht auf dem Wege des Streites.«
»Größerem Tod wird größeres Los zuteil.«
Gelegentlich glitt durch die Gedankenwelt dieser Monate der Schatten des bekanntesten Heraklitischen Wortes von dem Krieg als dem Vater aller Dinge. Umhüllt vielleicht von der entstellenden Maske des Mißverständnisses, aber doch in seinem Adel und seiner Größe erkennbar. Was bedeutet das Wort eigentlich?
Heraklit ist der erste Denker, der stärker betroffen ist von der Tatsache des Lebens, d. h. des Lebendigseins, Werdens, Sichverwandelns, von dem Wesen der Kraft, als von den Erscheinungen und ihrem ursächlichen Verbundensein. Er sinnt hinein in das Geheimnis des Treibens und Fließens, Quellens und Verglühens, und alles Sein und alle einzelnen Dinge lösen sich ihm auf in Bewegung, flüchtige Gestalt eines ewigen Werdens, Verwandlungsform. »Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben; wir sind und wir sind nicht« – – denn nicht den Bruchteil einer Sekunde bleiben wir, die wir waren; es gibt in der Zeit keine Lücke, in der irgend etwas Lebendiges, dem Wandel entzogen, sein Wesen festhalten könnte. Stillstehen wäre Tod, wie der Mischtrank sich zersetzt, wenn man ihn nicht umrührt. »Alles fließt.« Wir sind – wie alles Lebendige – nicht ein Ding, sondern Kraft, Stoß, Wille, Widerstand. Die Gestalt ist Erscheinung, Wirkung auf unsere Sinne. »Wenn alles, was existiert, zu Rauch würde, so würde man es mit der Nase wahrnehmen.« Im Wesen aber sind wir Leben aus Leben, Bewegen aus Bewegtsein, Feuer aus Zündkraft, Welle aus Sturm. Im Wesen sind wir Bruchteil der großen Kraft, die unaufhörlich Leben aus Leben erzeugt.
»Der Krieg ist der Vater von allem, der König von allem«; das heißt: alles Leben erhält sich selbst dadurch, daß seine Kräfte einander widerstreben. Das große innere Grunderlebnis, daß alle Kräfte sich am Widerstand entzünden, bildet den Keim und Kern in Heraklits Weltbetrachtung. Zum Symbol dafür wird ihm der Bogen und die Leier. Die Saite oder die Sehne wird zurückgezogen, damit sie vorwärts schnellt. Nachdenklich betrachtet der einsame Mann die Hand des Jünglings, der den Bogen spannt, und die schwirrende Sehne, und in stillem Grübeln im Innern des Artemistempels von Ephesus wird ihm die Umsetzung einer Bewegung in ihr Gegenteil zur Lösung noch tieferer Rätsel.
»Der Dike (des Rechtes) Name wäre unbekannt, wenn das Unrecht nicht wäre.«
»Hades und Dionysos ist ein und dasselbe.«
»Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Jugend und Alter ist bei uns eines und dasselbe: denn dieses verwandelt sich in jenes und jenes wiederum in dieses.«
»Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede, Sättigung und Hunger.«
Das alles Sätze, in denen die Erkenntnis mehr erst bloßes Gefühl als begriffliche Klarheit ist, die der Denker formt, nicht kühl errechnend, sondern gotterfüllt wie die Sibylle, von der er selbst sagt, daß die schmucklosen rauhen Worte, die ihr begeisterter Mund spricht, durch tausend Jahre dringen, weil sie des Gottes voll ist. Von diesen Sätzen meinte später Sokrates zu Euripides, daß auch das, was er daran nicht verstände, ihm edel erschiene.
Worin liegt dieser Adel? In dem Grundgefühl der großen Seele, daß das Leben größer ist als das Glück, als Ruhe, Besitz, Behagen. Göttlich ist das Leben, göttlich aber auch der Tod; göttlich die Erfüllung, göttlich aber auch der Mangel; göttlich der Friede, göttlich aber auch der Krieg. Und alles gehört zusammen wie Stahl und Stein, weil uns aus diesem Miteinander erst die höchste, größte, unvergleichlichste Offenbarung des Lebenssinnes geschenkt wird: das Leben wird kostbar nur durch den Tod, die Erfüllung wertvoll nur durch die Sehnsucht, der Sieg nur durch das Ringen. Denn erst indem sich das eine in das andere verwandelt, wird es erlebbar, unserem Gefühl und Bewußtsein geschenkt. Wir wollen aber gar nicht nur da sein, sondern leben, das Leben fühlen. An dem Wissen darum, daß uns dieses Höchste nur durch Kampf und Entbehren zugänglich wird, hat man durch die Menschheitsgeschichte hindurch die vornehmen von den platten, die großen von den unedlen Geistern unterscheiden können. »Leben des Lebens Lohn, Gefühl sein ewiger Kampfpreis« (Herder) – darüber hinaus gibt es nichts.
Warum klingen uns über die Jahrtausende in unsere erschütterten Tage hinein die Worte des dunklen Philosophen so besonders groß und lebensvoll?
Nicht wegen der zufälligen Beziehungen zum Krieg, sondern weil sie das Licht uralter menschlicher Wahrheit über die Erfahrung gießen, die wir heute machen und über deren Seltsamkeit wir immer wieder staunen: daß diese Zeit herrlich und erhebend ist trotz ihrer Angst und ihrer Opfer, ihres Grauens und ihrer unausdenkbaren Summe von Leid. Gewiß, auf Tausenden lasten die Schmerzen noch zu schwer, als daß sie zu dieser Erhebung gelangen könnten. Aber einmal wird doch auch für sie der Augenblick kommen, wo sie fühlen, daß »größerem Tode größeres Los zuteil wird«, daß dem größeren Schmerz um den Verlust blühenden, hoffnungsvollen Lebens die größere Weihe innewohnt, eine Weihe, die nicht lähmt, sondern stark und groß macht.
Nicht durch mehr Glück, Besitz und Gewinn vermögen wir unser Leben auszuweiten; größere Maße gewinnt es nur durch die Höhe der Forderungen, die an uns gestellt werden. Darum ist diese Zeit der nie gekannten Ansprüche an Todes- und Opferbereitschaft, an Kraft und Leistung, an Mut und Geduld und Selbstvergessenheit groß für alle, die ihr gewachsen sind. »Die einen erweist er als Menschen, die anderen als Götter.«
Und noch einmal dringe die Stimme aus der Erstlingsstunde der geistigen Siege des Menschen über die scheinbare Willkür des Geschehens feierlich zu uns späten Erben:
»Alles geschieht nach Schicksalsnotwendigkeit.«
»Wie könnte man verborgen bleiben vor dem Licht, das nie untergeht?«
»Alle Kreatur weidet unter Gottes Peitschenschlag.«
»Eins ist Weisheit: den Geist zu verstehen, der alles durch alles regiert.«
»Das göttliche Gesetz genügt für alles und hat alles in seiner Macht.«
So sehr uns die Zeit äußerlich erfüllt erscheinen mag durch Gewalt, Willkür und Zufall, so sehr wir uns in der Macht unberechenbarer Geschicke fühlen, so gewiß ziehen auch über Schlachtenglück und -schicksal dieser Stunden die Sterne in ewigem Gleis. So gut wird auch diese Zeit gehalten und getragen von dem großen Gesetz, das den endlichen Sieg des Geistes über die rohe Kraft verbürgt.
Im Sommer 1813 hielt Fichte »Vorträge verschiedenen Inhalts aus der angewandten Philosophie«, und seltsam eingekapselt zwischen die allgemeine Einleitung und die »Errichtung des Vernunftreiches« findet sich ein zweiter Abschnitt »Über den Begriff des wahrhaften Krieges«.
Als vor einigen Wochen die französischen Gelehrten in ihrer Kundgebung wieder von dem berühmten Gegensatz zwischen dem geistigen und dem militärischen Deutschland sprachen und behaupteten, der deutsche Gedanke habe mit den Überlieferungen eines Leibniz, Kant und Fichte gebrochen und sei dem Militarismus – dem preußischen Militarismus natürlich – tributpflichtig geworden, da dachten wir alle an 1813. Wir dachten an die große Vereinigung von Geist und Waffe, von deutscher Bildung und deutschem Heer, vor der jene Behauptung stehen bleibt und die doch eigentlich erst die Grundlage des modernen Deutschland schuf.
Wir dachten an Fichte. Und vielleicht hat mancher von uns deutschen »Barbaren« den ewig jungen einmal wieder zu sich reden lassen, den romanischer Geist niemals ganz erfassen wird und nach dessen herber Kraft sich Wilhelm von Humboldt gerade in Paris innig sehnte.
Was würde das »geistige Deutschland« durch den Mund seines großen Verkünders über den jetzigen Krieg sagen? Würde er ihn für einen »wahrhaften« Krieg erklären?
Was ist ein wahrhafter Krieg? Das kann der überhaupt nicht verstehen, der das zeitliche Leben als letztes und höchstes Gut ansieht und als Zweck des Staates, dieses Leben, seine Annehmlichkeit, Blüte und Behaglichkeit zu sichern. Was ein »wahrhafter Krieg« sei, kann nur ermessen werden auf dem Grunde einer ganz anderen Auffassung. Nach ihr steht obenan: die sittliche Aufgabe, das göttliche Bild; das Mittel, sie zu erfüllen, ist das Leben, das nur als ein solches Mittel Wert hat; und die Bedingung, unter der allein das Leben Mittel für Göttliches werden kann, ist die Freiheit.
»Freiheit ist das höchste Gut. Alles andere nur das Mittel dazu, gut als solches Mittel, übel, falls es dieselbe hemmt. Das zeitliche Leben hat darum selbst nur Wert, inwiefern es frei ist: durchaus keinen, sondern ist ein Übel und eine Qual, wenn es nicht frei sein kann. Sein einziger Zweck ist darum, die Freiheit fürs erste zu brauchen, wo nicht, zu erhalten, wo nicht, zu erkämpfen; geht es in diesem Kampf zugrunde, so geht es mit Recht zugrunde, und nach Wunsch; denn das zeitliche Leben – ein Kampf um Freiheit. Das Leben selbst, das ewige, geht nicht zugrunde, keine Gewalt kann es geben oder nehmen: der Tod ist dann, wo es das zeitliche Leben nicht sein konnte, der Befreier.«
Diese Anschauung gewinnt ihre geschichtliche Großartigkeit, wenn man sich klarmacht, was Fichte unter »Freiheit« eines Volkes versteht. Sie besteht nicht nur negativ in der Unabhängigkeit von aller Fremdherrschaft, sondern in dem Rechte eines Volkes, »in dem angehobenen Gange aus sich selber sich fortzuentwickeln«, und ist bedroht, »wenn der Gang dieser Entwicklung durch irgendeine Gewalt abgebrochen werden soll«. Fichtes Idee der Freiheit ist tief lebendig. Die Freiheit eines Volkes besteht in den Lebensformen, die es sich schafft, besteht in der ganzen Summe seiner geistigen Leistung, in der Erfüllung der Bestimmung, die durch Geschichte und Begabung in ihm angelegt ist. Für diese Freiheit, das Recht auf sein Leben und die Entfaltung seiner Kraft, wird der »wahrhafte Krieg« gekämpft.
Wir brauchen nur an Fichtes große Anschauung von der Menschheitsbestimmung des deutschen Volkes in den Reden an die deutsche Nation zu denken, um zu wissen, daß Fichte sich heute zu dem militärischen Deutschland bekennen würde. Der große Vertreter des reinen Idealismus stellt den Krieg als eine Notwendigkeit nicht nur, sondern als höchste Pflicht in sein System hinein. Höchste Pflicht dann, wenn ein Volk durch ihn sich den Weg der eigenen lebendigen Entwicklung freilegen muß. Der Maßstab aber, um die Gerechtigkeit eines Krieges zu erkennen, ist die freiwillige Todesbereitschaft aller. Im wahrhaften Krieg sagt gleichsam jeder einzelne im Heer: »Ich habe den Krieg erklärt und bei mir beschlossen – – für meine Freiheit,« – »ich kann nicht leben, ohne als Sieger«, und für ein solches Heer gilt das heroische großartige Wort: »Wer sterben kann, wer will denn den zwingen?«
Wir wissen, daß dieses Wort auf kein Volk und kein Heer der Geschichte mit größerem Recht angewandt werden darf wie auf das unsere. Und daß es der höchste, heiligste Segen ist, den das geistige Deutschland der Vergangenheit dem militärischen von heute auf seinen blutigen Weg mitgeben kann.