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Einkehr

September 1914

Was hat eigentlich diese Zeit aus uns gemacht? Wie hat sie uns verwandelt? Wir fühlen uns als andere Menschen, wir ahnen, daß die ungeheuren Erlebnisse, die hinter uns liegen und denen wir jeden Augenblick entgegengehen, am tiefsten Grunde unserer Seele arbeiten und bilden. Aber die Spannung jedes Tages, die Gewalt und Schnelligkeit, mit der uns die Ereignisse überstürzen, und dann die Anforderungen stündlicher Pflichten lassen uns selbst diese Verwandlung in uns nur augenblicksweise flüchtig erfassen. Wir erstaunen gelegentlich, wie wesenlos uns Dinge geworden sind, denen wir ehemals so viel Wert beilegten, wie nahe uns andere berühren, die uns fern lagen. Viele von uns sind über das bloße Bewußtsein nie erlebter mächtiger Einflüsse auf ihr Inneres noch nicht hinaus, noch nicht zur wahren Besinnung gekommen. Und doch sollten wir uns die Ruhe gönnen, die kostbaren Früchte dieser großen Tage im eigenen Innern zu sammeln.

 

Die stärkste, allgemeinste, überwältigendste Erfahrung ist die Offenbarung des Volksbewußtseins in uns. Nein, wir sind keine Einzelmenschen trotz alles Individualismus, trotz aller trennenden Verfeinerung. Wir sind Volk. Gewiß, schon vor dieser Zeit wußten wir das. Es gab Augenblicke, in denen uns das Gemeinschaftsgefühl in tiefster Seele packte.

Wir erinnern uns der Jahrhundertfeier des letzten Jahres. Wir Frauen denken an manche Höhepunkte unseres Kongresses von 1912. Aber die Jahrhundertfeier war Erinnerung, Symbol, Nacherlebnis einer fernen Wirklichkeit. Und unser Kongreß ließ uns nur im engeren Rahmen die Erhebung fühlen, die in der Einigung Tausender durch ein Ziel, ein großes Ideal liegt. Jetzt wissen wir, daß solches Einssein noch tiefer erschüttern kann.

Viele Male in den letzten Wochen hat uns der rauschende Flügel dieser ganz großen wunderbaren Einheitsstimmung gestreift. Wie aus einer Welt her, deren Macht uns im Alltagsleben des Friedens verschlossen blieb, hat diese Berührung unsere Seele getroffen und bis ins Innerste erschauern lassen. Kleine und große Eindrücke schlagen an diese eine Saite unseres Innern und erfüllen uns mit einer großen Ergriffenheit jenseits von Schmerz und Glück. Die Eisenbahnzüge, aus deren Fenstern unsere jungen Soldaten die Mützen schwenken, – ein Gruß an Vergangenheit und Zukunft, an zu Hause und draußen zugleich – der kleine Dreijährige mit seinem Fähnchen über der Schulter, der an der Hand der Mutter die Stadtbahntreppe hinaufklettert und dazu kräht: »Fest steht und treu« – – die Frau des ostpreußischen Gutsbesitzers, die Hosen und Schmierstiefel des Mannes anzieht und auf dem letzten nichtmilitärpflichtigen Pferd hinausreitet, um mit den Kindern die Ernte zu beschaffen, – in welchen Gestalten auch immer der große Wille erscheint, der bis zur letzten lebendigen Seele alle umfaßt, jede dieser Gestalten stärkt in uns das Bewußtsein: heute sind wir nicht einzelne, heute sind wir nur Volk, nur Einheit des Blutes und Stammes, der Gesinnung und der Kultur. Und keiner, aus dem die stählerne Zeit den schlummernden Funken des Volksbewußtseins schlug, wird diese Erfahrung je vergessen können. Die kommende Epoche wird und muß von ihr beherrscht sein in allem, was sie für den inneren Ausbau unseres Volkes dann zu leisten haben wird. Für Kultur und Sozialpolitik, für Wirtschaft und Staat werden wir neue Maßstäbe aus unseren jetzigen Erlebnissen mitbringen.

 

Noch eine Frucht wird diese Zeit tragen: die Gleichgültigkeit der Bildungsschicht gegenüber dem politischen Leben wird sie besiegt haben. Die Tausende, die heute jeder Nachricht von draußen mit unablässiger Spannung entgegenharren, können sie je wieder ganz in die Interessen ihres Berufes und ihres Privatlebens zurücksinken? muß nicht jede Stunde der Erwartung und Erfüllung, der Hoffnung und des Bangens, des Jubels oder Schmerzes, muß nicht jedes Opfer und jede kostbare Erinnerung dieser Zeit Glied in einer Kette werden, die alle unlöslich an das Ganze bindet? Wir wissen jetzt alle, daß das Mitleben der großen gemeinsamen Dinge auch dem höchststehenden und verfeinertsten Menschen nicht ein Verzicht auf persönliche Daseinsfülle, sondern Steigerung und Erhöhung ist. Zwischen Kultur und Politik ist in ein paar Wochen die Brücke geschlagen, an der viele Jahre hindurch wenige Einzelne vergeblich gebaut haben. Wird künftig ein »Geistiger« noch mit voller innerer Ruhe die Gestaltung des Staates als häßliche und grobe Arbeit abweisen können? Wird nicht in dem Schein, der von dieser Zeit her in künftige Jahrzehnte hinausfällt, eine solche, dem Ganzen mit Geringschätzung abgewandte Kulturstimmung verpönt sein? Wir denken an Aussprüche, die in den letzten Jahren auf den Höhen unserer Geistigkeit gefallen sind: daß es nur noch die hoffnungslose Masse gäbe, daß der Begriff des Volkes eine Illusion sei. Fällt diese Behauptung nicht zu Boden vor dem letzten der feldgrauen Burschen oder Männer, die – immer noch todesmutig, nachdem sie schon das Grauen der Schlacht kannten, immer noch kampfesfreudig, nicht Masse, sondern lebendige Träger des gemeinsamen Willens, vor den Feind gehen? Kann der Kulturrichter am Schreibtisch sein bißchen geistige Überlegenheit zwischen sich und dem Mann, der für ihn und seine Sicherheit sterben muß, noch als unübersteigliche Schranke fühlen?

 

Der große düstere Grundmaßstab der Todesbereitschaft verändert alles. Es geht um Sein und Nichtsein. Unser Volk zahlt mit einer Einmütigkeit sondergleichen den höchsten Preis für sein höchstes Gut – seine Macht und Ehre als Staat. Was dem einzelnen sonst teuer ist, was unser Leben reich und wertvoll macht, woran unser Herz und, wie wir meinen, unser Glück hängt – es ist alles nicht so groß und kostbar wie dieses unser gemeinsames Eigentum und Erbe: unser im Staat verkörpertes Volkstum. Für kein Lebensgut wird so unbedingt, so selbstverständlich, aus so allgemein gefühlter Notwendigkeit heraus das Leben eingesetzt. Die große Alternative: siegen oder sterben, Größe des Vaterlandes oder Tod, hebt auf einmal die Nation hoch über alle anderen Schätze des Lebens, macht sie zum Gut der Güter. Jeder einzelne, der begnadet ist, für dies Höchste zu kämpfen und zu opfern, fühlt sein Dasein auf eine nie erlebte Art geadelt und erhoben. Das Bewußtsein dieser Weihe ist irgendwie noch in der letzten, dumpfesten Seele derer lebendig, die hinausziehen. Darin liegt die Schwungkraft, die unerhört starke Stimmung unserer Heere.

 

Diese Stimmung hat alle Erwartungen überholt. Es war eigentlich Sitte, von unserem Geschlecht als dem verfaulten, angekränkelten zu sprechen. Es schien unvermeidlich, daß der Verfeinerung und äußeren Erhöhung unseres Lebenszuschnitts Schwächlichkeit und Verweichlichung entsprach. Wie haben teutsche Männer über Verfall und Entartung der deutschen Kraft gewettert! Und nun zeigt sich eine seelische und körperliche Widerstandsfähigkeit ohnegleichen. Wie viele, die in Friedenszeiten das Gegenteil von militaristisch waren, denen säbelklirrende Kraftmeierei fern lag, sind nun, da aus Pose und Programm einfacher schlichter Ernst wurde, die spannkräftigsten, freudigsten Soldaten geworden! Wie in der jüngsten Jugend, bei Wandervögeln und Freischärlern, aus der entwickelten Geistigkeit heraus eine neue, trainierte körperliche Spannkraft entstanden ist, so zeigen auch die älteren Jahrgänge eine ebenso unerwartete wie bewundernswerte Fähigkeit und Lust zu Strapaze, körperlicher Anspannung und Gefahr. Wahrhaftig, die Kühnheit, der physische Mut hat durch die Intellektualisierung nicht gelitten – im Gegenteil: die Selbstbeherrschung ist gewachsen. Der Gehirnmensch ist keineswegs der körperlich widerstandslosere, der Schwächling.

Und so wie die Waffenfreudigkeit – nicht die prahlende und lärmende des Friedens, sondern die ernste, sachliche des fordernden Augenblicks – nicht gelitten hat unter den geistigen Einflüssen der modernen Kultur, so hat auch die sittliche Kraft unserer Zeit sich der Probe gewachsen gezeigt. Gewiß – das Höchste ist von dieser sittlichen Kraft noch nicht verlangt – das Ausharren dann, wenn der emporreißende Schwung der ersten großen Stimmung versagt, das Ausharren, wenn die Pausen zwischen den Siegesbotschaften sich dehnen und die unpathetischen lähmenden sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu Hause wachsen. Aber wir wissen, – wir fühlen es unmittelbar, daß dieses große Bewußtsein des Zusammenstehens gegenüber der Forderung des Augenblicks nicht zu zerbrechen sein wird durch die ungezählten Menschlichkeiten, die aus jedes einzelnen kleinen Nöten und Sorgen hervorkriechen. Die sittliche Kraft unseres Volkes wird standhalten.

Ist es nicht etwas ganz Großes, daß wir das sagen dürfen? Die Kraft einer einheitlichen religiösen Weltanschauung fehlt unserer Zeit, ja es fehlt ihr – was die Generation von 1813 besaß – sogar die zwingende, unbezweifelte Macht einer Philosophie. Man hat von dem Materialismus, der Glaubenslosigkeit, der Skepsis, der geistigen Zerfaserung unseres Geschlechts gesprochen und gemeint, diese Zweifelsucht, diese Hundertfältigkeit der Überzeugungen müsse auf den Willen wirken, auch ihn zersplissen, schwach und temperamentlos machen. Man hat die Glücksucht und den Mangel an asketischer Straffheit, an Jenseitigkeit der Lebensideale getadelt und gemeint, alles das müsse die Opferwilligkeit lähmen. Alle diese Prophezeiungen hat der Geist der Massen Lügen gestraft. Und die geistige Unruhe, die kritische Stimmung unseres Geschlechts hat sich so offenbart, wie volksgläubige Menschen sie stets sahen: als Aufrichtigkeit, Suchen nach Wahrheit, als gesteigertes geistiges Wachsein und ein verfeinertes Bedürfnis zur Selbständigkeit, als Sehnsucht nach einem Einklang zwischen Denken und Tun. Wenn unsere Zeit, mit dem Begriff Goethes und Carlyles, keine »Glaubensepoche« war, in dem Sinne, daß sie ein großes, starkes, einigendes Bekenntnis für die Werte gefunden hätte, nach denen sie sich instinktiv richtet, so war das nur ein Ausdruck der intellektuellen Schwierigkeiten, nicht der Schwäche der seelischen Kräfte. Das Wort, das Bekenntnis wollte sich nicht finden, aber eine Weltanschauung war da; in Fleisch und Blut lebten geheime Grundsätze, deren Aufrichtigkeit und Kraft sich nun zeigt. Die geistige Zerrissenheit unserer Zeit war nicht Schwäche und Zerstörungssucht. Sie war der Ausdruck des Mutes, der um seinen Glauben zu ringen wagt.

 

Aber es ist richtig: schwerste Proben stehen uns noch bevor. Wenn von der Bergeslast dieses Krieges das Wort gilt: Leicht zu heben, schwer zu tragen, so gilt es von der moralischen vielleicht am meisten.

Es war leicht, im ersten feurigen Augenblick zusammenzustehen zu geschlossener Arbeit – es ist schwerer, diese Geschlossenheit durch Tage und Wochen und Monate über alle Reibungsmöglichkeiten einer improvisierten Organisation durchzuhalten. Es war leicht, im Augenblick des ersten großen Entschlusses zum bedingungslosen Dienst alle persönlichen Wünsche, Eitelkeiten usw. zurückzudrängen; es ist schwerer, diese selbstverständliche Großherzigkeit zu bewahren durch die notwendigen Ernüchterungen einer mühsamen Arbeit. Erst im Ausharren kann der letzte vollgültige Beweis der Kraft liegen, die wir einsetzen. Nicht auf die Himmelhöhe des ersten Aufflammens, sondern auf die nachhaltige ruhige Stetigkeit durch alle Stimmungsschwankungen sorgenvoller Wochen hindurch wird es ankommen.

Auch in anderer Hinsicht noch gilt es Gleichgewicht zu bewahren: in der inneren Haltung zu unseren Feinden. Wir dürfen nicht vergessen, daß nach dem Krieg eine Zeit neuen Austauschs, neuen Zusammenwirkens der europäischen Nationen kommen wird. Wir dürfen als Deutsche nicht vergessen, daß der Preis, um den die europäischen Völker in diesem Kriege ringen, nicht die Weltgeltung der Gewalt, sondern die der Kulturkraft ist. Dazu dürfen wir uns nicht die inneren Möglichkeiten verschließen durch eine leidenschaftliche, haßerfüllte Abkehr von der Kulturkraft anderer Völker. Wenn der Krieg für uns gut ausgeht, werden ihm friedliche Neueroberungen für unsern Handel, unsere Industrie, unsere gesamte Kultur folgen müssen. Diese Eroberungen wird nicht ein enger Chauvinismus machen, sondern der in sich selbst sichere deutsche Geist, der eben deshalb die Kulturform fremder Völker ruhig zu schätzen vermag. Das sind Überlegungen, die heute noch schwer ihren Platz finden in einem Herzen, das voll leidenschaftlicher Empfindungen für unser von Feinden umstarrtes Vaterland ist. Und doch – je größer wir die nationale Bedeutung dieses Krieges fassen, um so zwingender werden sie. Unsere Zukunft kann nicht sein: Abschließung, sondern Einfluß und Führung. Auf den Straßen, die unsere Heere bahnen, sollen nachher alle friedlichen Kulturmächte einhergehen. Das dürfen wir nicht vergessen.


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